Komm heraus aus deiner Ecke
Nicht wahr, liebe Freunde, der beste Platz ist in der Ecke. In der Zimmerecke schlürft man Wellensalat und Plattengerichte. Über Kopfhörer, über Kompressor auf dem Ohr bekommen sie erst den richtigen Sound. Oder in der Sofaecke glotzt man Sandmännchen und Dallas. Was Wunder, dass jeder eine Mattscheibe hat. Oder in der Sesselecke schmökert man: Asterix und Bildzeitung. Bildung durch Bilder führt erst zur richtigen Bildungsexplosion. Oder in der Discoecke labert man: Schule und Sport. Dem Lehrer mit seinen faulen Tricks gehört endlich die rote Karte gezeigt. Oder in der Kirchenecke döst man: Nickerchen oder Träumerei. Die Predigt übertrifft jedes homöopathische und allopathische Schlafmittel. Jeder hat seinen Eckplatz, so wie der Jona, der in irgendeiner Ecke Palästinas zuhause war. Ob es Gath war, Ophra oder Sunem, ich weiß es nicht. Jedenfalls streckte dieser Typ im letzten Winkel seine Füße aus. Aber Gottes Sache ist keine Winkelsache. Er mag die Ecken nicht, in denen wir uns verdrücken. Gleichsam im Kreis will er mit allen Menschen zusammensein. Deshalb ruft er den Jona: Schlürfe nicht, sondern geh! Glotze nicht, sondern geh! Schmökere nicht, sondern geh! Labere nicht, sondern geh! Komm heraus aus deiner Ecke! Hock nicht bloß im Winkel! Geh nach Ninive!
Ninive ist nicht mehr die Hauptstadt, wo sich assyrische Weltpolitik abspielt, Ninive ist nicht mehr die Kultstadt, wo sich Menschen dem Kriegsgott Assur vor die Füße werfen. Ninive ist nicht mehr die Handelsstadt, wo sich die Kaufleute des ganzen Zweistromlandes ein Stelldichein geben. Dieses Ninive ist längst unterm Wüstensand begraben. Ninive ist heute die City, wo sich ein Geschäft neben das andere reiht. Ninive ist die Betonwüste, wo sich Hochhäuser und Vorderhäuser und Hinterhäuser gegenseitig das Licht stehlen. Ninive ist das Ballungszentrum, wo sich Lust und Liebe und Leere ballt. Ninive ist das Einzugsgebiet, wo Industriestädte und Satellitenstädte und Schlafstädte aus dem Boden schießen. Ninive ist, und so hat es schon der Prophet Nahum gesagt, die mörderische Stadt.
Und das kann so nicht bleiben. Die Leute sollen nicht vor die Hunde gehen. Die Zeitgenossen dürfen nicht verenden wie die Tiere. Ninive muss überleben. Gott will, dass allen geholfen werde. Das ist sein Plan. Kein Sanierungsplan zur Veränderung der Verhältnisse, sondern ein Heilsplan zur Veränderung des Menschen. Und das Aufregende dabei ist: Jona ist eingeplant. Sicher könnte es Gott alleine machen. Für seine Zukunftspläne braucht er uns Kaputtmacher nicht. Wie oft haben wir ihm schon ins Handwerk gepfuscht? Trotzdem baute er unser Leben in seinen Plan ein. Und wenn du meinst, du habest mit einem miesen Abi deine Chancen verbaut, und wenn du glaubst, du habest mit einem faden Beruf null zu bringen, und wenn du denkst du habest mit einer angeschlagenen Gesundheit keinen Stellenwert: Die Stelle in Gottes Plan ist dir sicher. Einstellungsstopp kennt er nicht. Wegrationalisierung mag er nicht. Arbeitslosigkeit im Reiche Gottes gibt es nicht. Ninive darf nicht sterben, deshalb dieser unüberhörbare Ruf: Komm heraus aus deiner Ecke! Hock nicht bloß im Winkel! Geh nach Ninive!
Und Jona? Der ist stolz wie ein Hahn, der wirft sich in Schale, der kennt sich nicht wieder, der steht stramm. Zu Befehl mein Herr! Endlich einer, der mich richtig eintaxiert! Nein, im Gegenteil! Jona sagt, und das ist das Erste:
»Nach Ninive soll ich, ausgerechnet nach Ninive?! Dort soll ich den Mund aufmachen? Dort soll ich mir die Zunge verbrennen? Dort soll ich mich blöd angucken lassen? Ich als Einziger auf der Straße? Mutterseelenallein in der Großstadt? Einer gegen alle, wie bei Rosenthal? Ein Witz, diese Idee. Ein Kurzschluss, dieser Gedanke! Ein Himmelfahrtskommando, dieses ganze Unternehmen Ninive! Da könnte ja jeder kommen und aus mir einen frommen Waschlappen machen wollen. Da könnte ja jeder daherschleichen und aus mir einen klerikalen Schwarzkittel schneidern wollen? Da könnte ja jeder diese hirnrissige Idee ausbrüten und aus mir eine religiöse Talarwanze fabrizieren wollen. Ich mit Beffchen und Barett, so unmöglich wie der Hofhund mit Zylinder! Der hat sich im Branchenverzeichnis vertan: Ich gehöre nicht zur Zunft der Wanderprediger. Der hat sich im Adressbuch getäuscht: Ich heiße Jona und nicht Jesaja oder Jeremia. Der hat sich in der Hausnummer geirrt: Der Priester wohnt Nr. 11! Nein, nein, ich bin mein eigener Herr. Ich pfeife auf alle Befehle! Ich bestimme den Fahrplan meines Lebens. Ich hab doch keinen Tick. So winkt Jona ab. Er packt seine Koffer. Beim Reisebüro "Hering & Co." ersteht er die Schiffspassage: Einmal Tarsis und zurück! Dann marschiert er die Falltreppe hinauf und ruft «Bye, bye". In seiner Kabiene haut er sich auf's Ohr und segelt in's Reich der Träume: Tarsis, Strand, Sand, Sonne, einfach Urlaub. Doch nicht Ninive, Dreck, Ruß, Smog, immer Dienst! Ich hab doch keinen Tick.
Das kennen wir auch. Ich soll andere einladen? Ich soll die Handzettel verteilen? Ich soll Hausbesuche machen? Ich als Einziger in der Klasse? Mutterseelenallein in der Schule? Einer gegen alle, wie im Rätselspiel? Eine Katastrophe, diese Überlegung. Da könnte ja jeder mir einen noch tolleren Job aufhängen. Nein, ich bin mein eigener Chef. Befehle eines andern sind mir schnurz. Den Fahrplan meines Lebens bestimme ich. Abfahren auf der Ätherwelle, Rock, Country, Classic. Abfahren auf der Alkoholwelle, Pils, Gin, Sekt. Abfahren auf der Drogenwelle, Hasch, Kokain, Heroin. Einmal Nizza und zurück! Einmal Ibiza und zurück! Einmal Florida und zurück! Grüß die Hühner! Ich hab doch keinen Tick!
Die Bibel bezeichnet ein solches Leben als Flucht. Jona floh vor dem Herrn. Flucht vor dem lebendigen Gott. So wie Adam, der sich mit seiner Frau im Gebüsch versteckte. So wie Kain, der sagte: "Soll ich meines Bruders Hüter sein?" So wie der Psalmist, der rief: "Wo soll ich noch hinfliehen vor dem Angesicht Gottes?” So wie der verlorene Sohn, der seinen alten Herrn um die Moneten bat. So wie der Konfirmand, der nach seiner Konfirmation die Bibel wegsteckt. So wie der Student, der an der Uni andere Dinge im Kopf hat. So wie der Jungwähler, der sein Kreuz selber macht. So läuft man Gott aus den Fingern, von einer Eck' zur andern. Nur der, der einmal gesagt hat: Ich hab doch keinen Tick, musste dann das andere auch sagen, nämlich:
Jona will gehen per Schiff. Auf dem Meer ist er nicht zu orten. Der Pott ist die richtige Tauchstation. Und dann schickt der Herr einen Sturm hinterher, dass die Fetzen fliegen. Der Kahn tanzt wie eine Nussschale. Wer Gottes Wort in den Wind schlägt, erntet Sturm. Jona will gehen per Schlaf. In der Kajüte sägt er wie ein Waldarbeiter: Schlaf, Jona, schlaf! Und dann benützt der Herr den Kapitän, der ihn aus den Träumen schüttelt. Die ganze Mannschaft bibbert vor Angst. "Wer in seinen Sünden schnarchen will" sagt Luther, "wird hart geweckt. Jona will gehen per Tod: Werft mich über die Reling! Als Fischfutter bin ich gewiss weg vom Fenster! Und dann setzt Gott einen Blauwal als Seenotrettungskreuzer in Marsch, der ihn aufschnappt und ans Land spuckt. Keiner stiehlt sich davon. Niemand kann sich verdrücken. Bei Gott gibt es kein Entrinnen. Sein Fangnetz hat keine Maschen, durch die man schlüpfen könnte.
Deinen Vater, der dir dauernd auf den Nerven herumstolpert, wirst du eines Tages los. Deine Mutter, die dir immer kürzere Haare aufschwätzen will, wirst du eines Tages los. Deinen Lehrer, der deinen messerscharfen Intellekt immer noch nicht entdeckt hat, wirst du eines Tages los. Deinen Chef, der nur für's Pisacken bezahlt wird, wirst du eines Tages los. Alle und jeden wirst du los, nur Gott nicht. Gottlos mag sich einer schimpfen, aber er ist es nicht. Gott ist jedem auf den Fersen. Das muss man nicht blind glauben, das kann man klar sehen. In Jesus Christus hat dieser Gott die Distanz zwischen Himmel und Erde überwunden. Als Mensch aus Fleisch und Blut rückt er uns ganz nahe auf die Pelle. Wie ein guter Freund sagt er: "Komm her, du Abhauer, ich will dich aus deiner Ecke herausholen. Ich will dich durch die Fluten tragen. Ich will dich heimbringen zum Vater. Das Fahrgeld dafür bezahle ich. Teuer ist es, sehr teuer sogar. Es kostet mein eigenes Leben. Aber für dich will ich dies Blutgeld herausrücken, auf Heller und Pfennig. Nichts ist mir wegen dir zuviel. Deshalb komm!" So will uns Gott seit Jesus Christus vom Trip zurückholen. Mit unendlicher Liebe ruft er seine Einladung in diese Kirche hinein: Kommt wieder Menschenkinder! Am Karfreitag hat er sich zu Tode geschrien. Hör es doch, denn jede Flucht vor Gott endet vor Gott. Gott holt mich von dem Trip. Jona fügt das Dritte an:
"Da geschah das Wort des Herrn zu Jona zum zweiten Mal: Mache dich auf und geh!" Der Unbrauchbare wird gebraucht. Dem Ungehorsamen wird neuer Gehorsam ermöglicht. Wer nicht hören will, muss fühlen, nein, zu dem wird noch einmal geredet. Das ist die Grundlosigkeit und Grenzenlosigkeit der Gnade Gottes, die einen neuen Anfang ermöglicht. Schau zum Militärs: Dort werden Deserteure verurteilt. Schau in die Partei: Dort werden unsichere Kantonisten gefeuert. Schau in den Betrieb: Dort bekommen eigenmächtige Leute ihre Entlassungspapiere. Und Gott schafft mit Abweichlern und trägt ihnen nichts nach. Predige, du Abhauer, rede, du Ausbüxer, tu den Mund auf, du Feigling, sage, was ich dir sage. Jona wird nicht überfordert. Er wird schon das richtige Wort zum richtigen Zeitpunkt auf die Lippen bekommen. Nur nachsprechen muss er, nachplappern, nachschwätzen, was Gott ihm vorsagt. So einfach ist das eingerichtet. Wir müssen nicht im Kopf stapeln, was wir im Konfus ohnehin nicht mitbekommen haben. Seine Leute sind keine Gedächtniskünstler. Wir müssen nicht die Bänder abspulen, die wir im Gottesdienst mitgeschnitten haben. Seine Leute sind keine Kassettenrekorder. Was euch ins Ohr gesagt wird, das predigt auf den Dächern, sagt Jesus! Doch, so einfach ist das, so simpel, dass auch ich Simpel mitmachen kann. Da machte sich Jona auf und ging.
Und du? Ich hab doch keinen Tick! Und du? Gott holt mich von dem Trip! Und du? Ich wag den neuen Schritt.
Amen