Jesus, der Retter ohnegleichen

Konrad Eißler
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An Jesus festhalten, auch wenn uns andere abhalten, das bedeutet, ihn hoch zu halten, ihn tief zu halten und uns nahe an ihn zu halten. - Predigt beim Christustag in Stuttgart


Was halten Sie von Hofacker, liebe Freunde?

Ich meine Pfarrer Ludwig Hofacker, dessen 200. Geburtstag sich am 15. April jährte. Im Schwarzwald, das heißt in Wildbad geboren, im Gäu, das heißt in Gärtringen aufgewachsen, am Fuß des Roßbergs, das heißt in Öschingen konfirmiert, am Stromberg, das heißt in Maulbronn das Seminar besucht, am Schlossberg, das heißt im Tübinger Stift Theologie studiert, auf den Fildern und am Nesenbach, das heißt in Plieningen und Stuttgart Vikar, im Murrkreis, das heißt in Rielingshausen Pfarrer. Schwäbischer geht’s nicht mehr. Ein Stiftskopf, kein Dickkopf, wenn auch zuweilen ein Hitzkopf, jedenfalls, und so beschreibt ihn sein Dichterfreund Albert Knapp: “Ein schönes, römisches Haupt mit der regelmäßigen Nase, den redlich blauen Augen, der schönen offenen Stirn, von reichem kastanienbraunen Gelock bis auf den Nacken überwallt.” Ach, es könnt mein Großvater gewesen sein!

Sein Vater nannte ihn “s’Mändle”, seine Brüder “Louis”, seine Kommilitonen “Bruder Lustig”. Wir nennen ihn einfach “dr Hofacker” und meinen damit entweder diesen Prediger oder sein Predigtbuch. In meinen beiden Ausgaben aus den Jahren 1858 und 1873 steht als Widmung: “Zum Hochzeitsfest.” Wenn also der Uropa die Uroma zum Traualtar führte, hatte sie in ihrer Mitgift nicht nur ein “Bettziach” aus Laichinger Leinen und einen Milchpott aus Häfner-Neuhausener Lehm, sondern auch einen Hofacker “Predigten für alle Sonn- und Festtage”. Oft wurde dann im Familienkreis der Sonntag mit einer Hofackerpredigt abgeschlossen, wobei sich die Kinder besonders auf das Wörtlein “Amen” freuten, weil Hofacker wohl mit heißer Feder, aber auch mit langem Atem seine Betrachtungen geschrieben hat.

Was halten Sie von diesem Ludwig Hofacker?

Die einen halten viel von ihm. “Zeugt ihr Töchter und ihr Söhne”, dichtet Albert Knapp, “die er durch seine mächtgen Töne erweckt, und um das Kreuz vereint: Ich weiß, ihr zeuget gern: Der war ein Licht im Herrn, schön und herrlich.” Rolf Scheffbuch hat es im “Chefbuch” über Hofacker nüchterner formuliert: “Gott hat diesen durch und durch zerschlagenen Ludwig Hofacker zu einem besonderen Werkzeug gemacht. Sein Ruf ist bis heute nicht verhallt.”

Die andern halten wenig von ihm. “Es sind schlechte Predigten der Form nach”, bescheinigten ihm seine Kritiker. “Der Ton ist unwürdig, zu frech, zu keck, zu absprechend.” Warum es aber zu diesen schlechten Predigten nur so strömte, darauf konnten sich die futterneidigen Kollegen kein Reim machen.

Die dritten halten gar nichts von ihm. Gewisse Theologen und Prediger schüttelten den Kopf über den nassforschen Evangelisten, der die Waffenrüstung der bewährten Predigtweise abgelegt und ganz einfach mit der Schleuder des Wortes Gottes kühn und munter einherschritt. “Die Schilderung des menschlichen Grundverderbnis ist zu stark aufgetragen und die Sittenlehre kommt vor lauter Buße nicht zu ihrem vollen Recht.” Ihr Urteil war vernichtend. “Solches Zeugnis gehört nicht auf die Kanzel.”

Die Meinungen über Ludwig Hofacker sind geteilt. Immer sind die Meinungen über andere geteilt. Immer sind die Meinungen über andere verschieden. Bei andern Menschen sind wir geteilter Meinung. Von den einen halten wir viel, von den andern wenig, von den dritten gar nichts.

Gilt dies auch für Jesus Christus? Gilt dies auch für Jesus Christus, den Sohn des lebendigen Gottes? Was Sie von der Person Hofacker halten, ist nicht so wichtig, aber was halten Sie von der Person Jesu? Was Sie von der Predigt Hofackers halten, ist nicht so entscheidend. Aber was halten Sie von der Predigt Jesu? Was Sie vom Werk Hofackers halten, ist nicht so bedeutend, aber was halten Sie vom Werk Jesu?

Der Apostel sagt: Lasst uns festhalten an Jesus, auch wenn uns andere abhalten und sagen: Sein Wort ist uns zu spitz. Lasst uns festhalten an Jesus, auch wenn uns andere aufhalten und sagen: Sein Weg ist uns zu steil. Lasst uns festhalten an Jesus, auch wenn uns andere fernhalten und sagen: Jesu Tür ist uns zu eng. Lasst uns festhalten an Jesus, so wie es unsere Väter formuliert und unsere Lehrer gelehrt haben: Wir glauben an Jesus Christus, den eingeborenen Sohn, unseren Herrn. Das schließt diese dreifache und herzliche Bitte ein:

1. Lasst uns Jesus ganz hoch halten

Kinder denken auf der Spielplatzebene. Wer die Schaukel am höchsten schwingt, wer den Kirschstein am weitesten spuckt, wer den Schnabel am meisten aufreißt, der ist der große Max. Ein pfiffiger Frechdachs wird auf dem Spielplatz hochgehalten. Studenten denken auf der Hochschulebene. Wer das Staatsexamen mit Prädikat abschließt, wer den Doktorhut cum laude aufgesetzt bekommt, wer die Habilitation unter Dach und Fach bringt, der ist das große As. Ein blitzgescheiter Kopf wird auf der Hochschule hochgehalten . Erwachsene denken auf der Berufsebene. Wer den Fahrer mit dem Handy rufen kann, wer sein Redemanuskript nicht selber schreiben muss, wer keinen Chef mehr über sich hat, der ist der große Boss. Ein fitter Manager wird im Beruf hochgehalten.

Und die Bibel sagt, wenn ihr Christen seid, müsst ihr noch eine ganz andere Ebene sehen. Wenn ihr Christen seid, müsst ihr noch auf eine ganz andere Ebene treten. Wenn ihr Christen seid, müsst ihr noch in ganz anderer Ebene denken. Christen denken nämlich an die Himmelsebene, die alle andern Ebenen himmelweit überragt. Wer die kosmischen Räume durchschritten, wer den göttlichen Thronsaal betreten, wer den Thron der Gnade erreicht hat, der ist der große Hohepriester ohnegleichen. Ein mit Gottes Geist ordinierter und in Gottes Macht investierter Jesus Christus wird im Himmel hochgehalten. Diese Höhendimension Jesu gibt Antwort auf die Machtfrage. Wenn wir in die Zeitung hineinsehen und von Feuer, Überfällen und Terrorakten und Mobilmachungen lesen, dann fragen wir uns: Wer hat die Macht in der Welt? Wenn wir in den Fernseher hineinsehen und von Überschwemmungen und Dürrekatastrophen und Vulkan­ausbrüchen hören, dann fragen wir uns doch: Wer hat die Macht in der Natur? Wenn wir in den Spiegel hineinsehen und die ins Gesicht hineingeschriebenen Altersrunzeln und Sorgenfalten und Krankheitssymptome entdecken, dann fragen wir uns doch: Wer hat die Macht in unserem Leben?

Aber, liebe Freunde, wir müssen hinaufsehen, ganz hoch hinauf. Dort entdecken wir über den Welt- und Natur- und Krankheitsmächten die Allmacht unseres Herrn. Jesus präsentiert sich als der Mandatsträger von unumschränkter Machtfülle. Es gibt keine Gegenmacht, die ihm gefährlich werden könnte. Die Scheinmächte haben ausgespielt, bevor sie sich aufspielen. Die Machtfrage ist mit Jesus geklärt. Warum sehen Sie immer wieder zurück und bangen vor sogenannten Machthabern, die die Weltkarte verändern könnten? Warum sehen Sie immer wieder nach unten und leiden an der Ohnmacht unserer Hände, die so wenig bewirken können? Warum sehen Sie immer wieder voraus und zittern vor kosmischen Urmächten? Sehen Sie doch endlich wieder hinauf! Jesu ist der Machthaber. Er sagt es denen, die meinen, mit ein paar Öllachen unter der Erdrinde sei die Macht schon verteilt: “Mir ist alle Macht gegeben”. Er sagt es denen, die meinen, gegen Krankheitsmächte sei kein Kraut gewachsen: “Mir ist alle Macht gegeben”. Er sagt es denen, die meinen, der Tod sei die Großmacht schlechthin. “Mir ist alle Macht gegeben”. Man kann Jesus nicht hoch genug halten.

Aber hat er damit nicht abgehoben? Ist er damit nicht als Super-Mega-Gott in weite Ferne gerückt? Wird er damit nicht zum kosmischen Weltenlenker, von dein wir mit indianischen Spruchweisheit sagen: “Trau dem nicht, der nicht wenigstens einen halben Mond in deinen Mokassin gegangen ist”? Deshalb das Zweite:

2. Lasst uns Jesus ganz tief halten

Jesus, von dem Johannes sagt, dass er nicht wert sei, seine Schuhriemen aufzumachen, kam auf unsere Lebensebene. Nicht nur einen halben Mond, sondern 30 Jahre lang ist er in unseren Mokassins gegangen. Er weiß, wo uns der Schuh drückt.

Betrübte denken an die Leidensebene. Sie sehen Jesus in Gethsemane. Ein zitternder und zagender Herr, der sogar Blut schwitzt. “Meine Seele ist betrübt bis in den Tod”, sagt er zu Petrus, Jakobus und Johannes. Einen Steinwurf weiter wirft er sich platt auf den Boden und betet wie ein Kind: “Vater, alles ist dir möglich. Nimm diesen Kelch von mir.” Jesus muss in Gethsemane tief hinunter.

Verlassene denken an die Sterbensebene. Sie sehen Jesus auf Golgatha. Rohe Hände richten ihn so zu, dass er in keinen Schuh mehr passt. Barfuß, halbnackt, ganz zerschlagen legen sie ihn aufs Kreuz. Ein entsetzlicher Schrei zerreißt die Finsternis: “Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Jesus musste auf Golgatha noch tiefer hinunter.

Trauernde denken an die Grabesebene. Sie sehen Jesus im Felsengrab. Eingewickelt in ein Leinentuch hat er auf einer Steinbank seine letzte Ruhe gefunden. Die Nacht senkt sich über dem Garten des Josef von Arimathia. Jesus muss im Gartengrab noch tiefer hinunter.

Und die Bibel sagt, wenn ihr Christen seid, müsst ihr noch an eine ganz andere Ebene denken. Wenn ihr Christen seid, müsst ihr noch auf eine ganz andere Ebene treten. Wenn ihr Christen seid, müsst ihr noch an eine ganz andere Ebene denken. Christen denken nämlich auch an die Höllenebene, die sich unter allen andern Ebenen höllisch tief auftut. Wer die finsteren Räume durchschritten, wer das Reich des Todes betreten, wer den Fürst dieser Welt gestellt hat, der ist der große Retter ohnegleichen. “Gelitten, gekreuzigt, gestorben, begraben, hinabgefahren in das Reich des Todes”, deshalb muss Jesus ganz tief gehalten werden. Diese Tiefendimension Jesu gibt Antwort auf die Schuldfrage.

Liebe Freunde, manche von uns sind an ihre Sorgen gebunden. Sie wissen nicht, wie alles weitergehen soll. Sorgen sind schlimm, aber nicht das Schlimmste. Manche sind an ihre Depressionen gefesselt. Sie glauben nicht, dass es noch Licht im Dunkel gibt. Depressionen sind schlimm, aber nicht das Schlimmste. Manche sind an ihre Verzweiflungen gekettet. Sie kommen von ihren Lasten nicht mehr los. Verzweiflungen sind schlimm, aber nicht das Schlimmste. Eingeschlossen in die Schuld, das ist das Schlimmste. Eingesperrt in den Ungehorsam, das ist das Schlimmste. Von Gott getrennt sein, ist das Allerschlimmste, denn “separatum esse a deo”, von Gott getrennt sein, das ist die Hölle.

Wer schließt uns auf? Wer hat den Schlüssel? Gott sei Dank steht Gott zu seinem Wort: “Ich will derer nicht vergessen.” Er schickt den Sohn mit dem Schlüssel. Der hat die Form eines Kreuzes. Mit diesem Kreuz- und Hauptschlüssel springt die tiefste Hölle auf. Nun gibt es keine Tiefe mehr, in der ich verschmachten muss. Jesus hat diese Tiefe erreicht. Nun gibt es keinen Abgrund mehr, in den ich stürzen muss. Jesus hat diesen Abgrund durchschritten. Nun gibt es keine Hölle mehr, in der ich ewig gefangen sein muss. Jesus hat diese Hölle aufgeschlossen. Er hat den Schlüssel. Er gibt die Freiheit. Er ist der Retter ohnegleichen. “Jesus ist kommen, nun springen die Bande, Stricke des Todes, die reißen entzwei.”

Deshalb jubelt Hofacker: “Jesus. Großer Name. Anbetungswürdiger Name. Er ist eine ausgeschüttete Salbe voll köstlichen Wohlgeruchs für arme, für elende, für in sich verlorene Menschen, für Leute, die den Höllengestank der Sünde und des Teufels lange genug eingeatmet haben. Es ist Lebensluft in diesem Namen. Jesus heißt unser Gott und Heiland. Hallelujah!”

Lasst uns Jesus ganz tief halten.

3. Lasst uns ganz nahe zu Jesus halten

Der Jesus, der die allerfernsten Himmel und die allerfernsten Höllen durchschritten hat, der wohnt in allernächster Nähe. Nicht einmal über die Straße hinweg, um die Ecke herum, nicht einen Steinwurf weit, sondern ganz, ganz nahe bei mir, in Hör- und Rufweite, mit engstem Sprechkontakt. Der ist der große Bruder ohnegleichen. Er ist hilfsbereit, nicht wenn er Zeit hat, wenn er Lust hat, wenn er Sprechstunde hat, nein, er ist hilfsbereit , “wenn wir Hilfe nötig haben.” Also wenn es in der Schule nicht klappt und die Zeugnisse in den Keller rutschen, lasst uns den heißen Draht benützen. Und wenn es im Betrieb nicht klappt und meine Arbeitsstelle in Gefahr ist, lasst uns diesen Kontakt ausnützen. Und wenn es im Herzen nicht klappt, wenn Zweifel und Verzweiflungen drohen, dann “lasst uns herzutreten mit Zuversicht.”

Als es mit Dostojewski, dem russischen Dichter, zu Ende ging, hatte er noch zwei Bitten, die ihm erfüllt wurden. Einmal wollte er die Geschichte vom verlorenen Sohn hören, wie da droben der Herr dem durchgebrannten und abgebrannten Schwerenöter die Tür zum Vaterhaus öffnete. Und dann wollte er noch die Geschichte von der Taufe am Jordan hören, wie da unten der Herr seinen Weg ins Leiden und Sterben hinein begann. Mit dem Blick nach oben und dem Blick nach unten wollte er dem Tod ins Angesicht blicken. Er wusste, was wir auch wissen sollen: Wer diesen Jesus ganz hoch hält und diesen Jesus ganz tief hält, der ist diesem Hohepriester, Retter und Bruder ganz nahe und von ihm festgehalten, heute, morgen, immer.

Amen


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]