Einführung und Kontext der Gemeinde Thessalonich
Bibelwoche, 1. Thessalonicher Kapitel 2, Verse 1 bis 16 – darum werden wir uns kümmern. Ich verspreche euch heute, dass ich nicht mit dem falschen Buch anfangen werde, sondern gleich mit dem richtigen.
Es war mir wirklich peinlich. Ich habe den ganzen gestrigen Tag gebraucht, um mich von dieser Peinlichkeit zu erholen. Ich habe jetzt auch meine richtige Bibel mitgebracht, nicht meine Großdruck-Bibel fürs Predigen, mit der ich mich nicht so gut auskenne. In dieser kenne ich mich aus. Ich weiß, wo ich bin, in welchem Buch, wenn ich nur die richtige Seite habe. Also, erster Thessalonicher.
Ein kurzer Rückblick: Wir schauen Paulus auf die Finger, der an eine ganz junge Gemeinde schreibt. Diese Gemeinde gibt es erst seit ein paar Monaten, und sie begeistert ihn sehr. Gleichzeitig macht sie ihm auch ein bisschen Sorgen, weil er sie kurz nach der Gründung Hals über Kopf verlassen musste. Dabei bleiben natürlich viele Fragen zurück: Schaffen sie das ohne mich? Wäre es nicht toll, wenn ich mal vorbeigehen könnte? Haben sie wirklich alles verstanden? So ist in Paulus eine Gemengelage von Gefühlen.
Wie sich die Gemeinde weiterentwickelt hat, schauen wir uns im zweiten Vortrag an. Jetzt müsst ihr nur wissen: Wir haben eine Gruppe ganz junger, leidenschaftlicher Christen, an die dieser Brief geschrieben ist. Paulus findet sie großartig. Wenn es um Liebe, Glauben und Hoffnung geht, sind sie absolut vorbildlich. Sie sind so produktiv, lebendig und leidenschaftlich, dass man schon nach wenigen Wochen in ganz Griechenland von ihnen spricht.
Ich weiß nicht, wie sie das gemacht haben. Sie sitzen in Thessalonich, der Hauptstadt der Provinz Mazedonien. Von dort aus ziehen Händler ins gesamte römische Reich. Thessalonich hat einen Seehafen an der Ägäis, von dem aus die Waren überall hingingen. Die Gemeinde war Stadtgespräch.
Wenn Paulus irgendwo anders hinkam und erzählte, wie es in Thessalonich war, sagten die Leute: Das wissen wir schon, du bist zu spät – das sind die Thessalonicher.
Der mutige Dienst Paulus’ trotz Widerständen
Wir befinden uns in Kapitel 2, und ich beginne mit den ersten beiden Versen, also 1. Thessalonicher 2,1-2.
Ihr selbst wisst, wie unser Eintritt bei euch war – also unser Eintritt in die Stadt, in diese Gemeinde und auch in die Synagoge. Ihr wisst, wie wir aufgetreten sind. Denn unser Kommen zu euch war nicht vergeblich.
Nachdem wir zuvor gelitten und Misshandlungen erlitten hatten – wie ihr ja wisst, in Philippi –, wurden wir freimütig in unserem Gott, das Evangelium Gottes zu euch zu verkünden, und das unter großem Kampf.
Ich habe euch das gestern vorgelesen, so ein bisschen die Reiseroute. Bevor Paulus nach Thessalonich kam, war er vorher in Philippi. Dort geschah etwas, das eigentlich nicht hätte passieren dürfen.
Er wurde nämlich ohne Gerichtsverfahren bestraft und inhaftiert. Das war für römische Bürger nicht erlaubt. Es war ein Skandal, eine Entehrung und eine Demütigung.
Diese Erfahrung hing ihm noch eine Weile nach, als er Philippi verlassen musste. Deshalb sagt Paulus: Ihr wisst, wie mein Eintritt bei euch war, ihr wisst, wo ich herkomme, und ihr wisst wahrscheinlich auch ein Stück weit, wie bedrückt ich war und was das mit mir gemacht hat, dass man so mit mir umgegangen ist.
Umso schöner ist es dann hier zu lesen: Wir wurden freimütig in unserem Gott. Ich glaube, dass die Thessalonicher diesen Wandel mitbekommen haben – wie jemand kommt, der eben noch hinausgeworfen und entehrt wurde, aber neue Kraft schöpft und dann das Evangelium Gottes predigt.
Das Evangelium Gottes – Gott ist der Urheber. Er ist derjenige, der hinter diesem Evangelium steht. Es ist nicht das Evangelium des Kaisers, sondern das Evangelium von Gott. Es ist eine gute Nachricht von Gott.
Und Paulus predigt es. An dieser Stelle möchte ich nur einen Schwerpunkt setzen: Wenn wir evangelisieren, dürfen wir nicht erwarten, dass es ein Spaziergang wird. Wir müssen damit rechnen, dass die Mächte der Finsternis alles tun werden, um uns daran zu hindern.
Paulus hat das immer wieder erlebt. Für ihn bedeutete Evangelisation immer wieder, gegen Widerstand anzukämpfen, um den Menschen das Evangelium Gottes zu verkünden.
Die Integrität und Motivation des apostolischen Dienstes
Dabei war er darauf bedacht, es auf eine Weise zu tun, die er als Apostel Gottes verantworten konnte. Er sagt in Vers 3 und Vers 4: „Denn unsere Ermahnung geschah nicht aus Irrtum, noch aus Unlauterkeit, noch mit List. Sondern wie wir von Gott tauglich befunden worden sind, mit dem Evangelium betraut zu werden, so reden wir, nicht um Menschen zu gefallen, sondern Gott, der unsere Herzen prüft.“
Er sagt nicht aus Irrtum das, was er predigt. Er weiß, was er sagt. Das Evangelium ist keine Lüge. Auch nicht aus Unlauterkeit sind die Motive, warum er das macht. Es geht ihm nicht um seine eigene Ehre, und es geht ihm auch nicht um Habgier.
Und nicht aus List. Mit List sind rhetorische Tricks gemeint, mit denen man jemanden über den Tisch ziehen kann. So dass der am Ende gar nicht weiß, wozu er Ja gesagt hat, weil es alles so logisch und in sich schlüssig klang. Und plötzlich habe ich den Vertrag unterschrieben.
Paulus sagt, das habe ich alles nicht gemacht. Es war nicht gelogen, es war nicht unlauter, es war nicht listig. Sondern es war so, wie Gott sich das vorstellt.
Ich möchte euch auf einen Vers aufmerksam machen. Er sagt: „Sondern wie wir von Gott tauglich befunden worden sind, so reden wir nicht, um Menschen zu gefallen.“ Ein Apostel hat sich einmal vorgenommen: Wenn er den Mund aufmacht, dann interessiert es ihn nicht, was die anderen von ihm denken, sondern Gott.
Ich finde das total schön, dieser Gedanke. Ich rede. Und wenn ich rede, dann mag es sein, dass ich ab und an mal Dinge sage, die nicht jedem gefallen. Das ist halt so. Auf der anderen Seite geht es nicht darum, ob das jedem gefällt, sondern es geht um die Frage: Was sagt Gott dazu?
Wenn Gott, der die Herzen prüft, also meinen Charakter und meine Motivation kennt, sich die Frage stellt: Was redet der da eigentlich? Dann möchte ich ihm gefallen.
Ich finde es einen sehr schönen Gedanken, diese Idee: Ich lebe mein Leben vor Gott. Also gar nicht so sehr vor den Menschen, sondern alles, was ich tue.
An anderer Stelle, kurz davor, wird der Apostel Paulus an die Kolosser schreiben: „Alles, was ihr tut, im Wort oder im Werk, das tut im Namen des Herrn Jesus und sagt Gott dem Vater Dank durch ihn.“ Wir leben vor Gott. Das dürfen wir nie vergessen, vor allem dann nicht, wenn wir in Zeiten hineingeraten, in denen von außen der Druck zunimmt.
In solchen Zeiten lebt es sich vielleicht leichter, wenn man mal den Mund hält oder Dinge sagt, die mehr normkonform sind, die politisch korrekter sind, die dem Zeitgeist mehr entsprechen. Paulus hat das nicht gemacht.
Ablehnung von Schmeichelei, Habgier und Ehrsucht
Warum findet Gott nichts Falsches in seinem Herzen?
In 1. Thessalonicher 2,5-6 heißt es: „Denn weder sind wir jemals mit schmeichelnder Rede aufgetreten, wie ihr wisst, noch mit einem Vorwand für Habsucht – Gott ist Zeuge –, noch suchten wir Ehre von Menschen, weder von euch noch von anderen.“
Warum findet Gott nichts Falsches in seinem Herzen? Das Erste, was Paulus sagt, ist: „Ich bin kein Schmeichler.“ Weißt du, was ein Schmeichler ist? Schmeichler kommen in der Bibel nicht gut weg. In Sprüche 29,5 heißt es: „Ein Mann, der seinem Nächsten schmeichelt, breitet ein Fangnetz vor seinen Schritten aus.“ Und in Hiob 32,21 steht: „Für keinen werde ich Partei ergreifen und keinem Menschen werde ich schmeicheln.“
Ein Schmeichler ist jemand, der einem anderen Komplimente macht – aber nicht, weil er ein echter Freund ist. Ein guter Freund macht Komplimente aus ehrlichem Grund. Ein Schmeichler hingegen macht Komplimente, um den Eindruck zu erwecken, Freund zu sein, weil er sich einen Vorteil davon verspricht. Er schmiert dem anderen gewissermaßen Honig ums Maul oder um den Bart. Paulus sagt: „Ich bin kein Schmeichler.“ Seine Motivation, das Evangelium zu predigen, ist nicht Schmeichelei und auch nicht ein Vorwand für Habsucht. Er predigt nicht, um reich zu werden. Er versteckt den Wunsch nach materiellem Gewinn nicht hinter der Maske eines einfachen Predigers.
Habgier ist in der Bibel immer eine ganz böse Sache. Die Bibel warnt davor, habgierig zu sein. Was ist Habgier? Habgier ist der Wunsch nach immer mehr Geld. Ich glaube, dass sich dieser Wunsch mehr oder weniger heimlich in jedem Herzen irgendwann einstellen kann. Deshalb warnt die Bibel an dieser Stelle immer wieder und sagt: „Sei vorsichtig! Lege es nicht darauf an, reich zu werden.“
Wenn man aus Versehen reich wird, dann ist das ein Geschenk. Das kann passieren, man hat vielleicht eine geniale Idee, und plötzlich hat man viel Geld. Aber das Denken „Ich brauche mehr“ oder „Ich habe nie genug“ – davor warnt die Bibel. Das biblische Ideal zum Thema Geld steht in 1. Timotheus 6,6: „Die Gottseligkeit mit Genügsamkeit aber ist ein großer Gewinn.“
Auch im Alten Testament gibt es dazu eine Weisheit. In Sprüche 30,7-8 heißt es: „Zweierlei erbitte ich von dir, verweigere es mir nicht, bevor ich sterbe: Armut und Reichtum gib mir nicht.“ Dort liegt eine Gefahr dahinter. Die Bibel ist ganz klar: Habgier, dieses nie genug haben wollen, immer mehr Geld, ist gefährlich.
Paulus sagt, bei ihm war das nie so. Er hat es nie darauf angelegt, reich zu werden.
In 1. Thessalonicher 2,6 steht außerdem: „Noch suchten wir Ehre von Menschen, weder von euch noch von anderen.“ Wer waren die Rockstars der Antike? Es waren die Redner. Heute kann man sich das kaum vorstellen: Leute, die öffentliche Rededuelle führten, die ein Thema nahmen und dann vor Publikum dafür oder dagegen argumentierten.
Ein guter Redner überzeugte seine Zuhörer mal für eine Sache und kurz darauf vom Gegenteil. Diese Menschen waren brillant in Ausdruck, Logik, Argumentation und Rhetorik. Das waren die Rockstars der Antike. Sie kamen in die Stadt und wollten sofort die Massen auf ihre Seite ziehen. Sie suchten die Ehre von Menschen.
Paulus sagt: „Darum geht es mir nicht.“ Man könnte meinen, Paulus hätte ein Minderwertigkeitsproblem oder wüsste nicht, wer er ist. Doch er betont klar, dass er nicht nach menschlicher Ehre strebt.
Die liebevolle und zärtliche Haltung Paulus’ gegenüber der Gemeinde
Aber er fährt hier in 1. Thessalonicher 2,7 fort, obwohl wir als Christi Apostel gewichtig hätten auftreten können.
Fällt euch etwas auf, was in diesem Satz zunächst nicht zu stimmen scheint? Seht ihr es? Da steht ein „Wir“, obwohl wer ist denn noch Apostel? Am Anfang des Briefes, in 1. Thessalonicher 1,1, heißen Paulus, Silvanus und Timotheus. Sind das auch Apostel? Da steht ein „Wir“.
Wenn man sich den Begriff Apostel anschaut, stellt man fest, dass es so etwas wie einen inneren Kern gibt. Das sind die Richtigen, die Waschechten, die Hardcore-Apostel. Das sind die Zwölf plus Paulus. Aber der Begriff Apostel wird noch in einem weiteren Sinn verstanden. Immer wieder stellt man fest, dass auch Mitarbeiter von Aposteln, die den Dienst eines Apostels taten – was ist denn ein Apostel? Ein Apostel ist ein Gesandter. Das Wort heißt erst einmal nur Gesandter, auf Lateinisch Missionar, jemand, der gesandt wird, nämlich von Gott gesandt wird, Gemeinden zu gründen, aber auch Gemeinden zu festigen.
Jetzt ist klar: Die Zwölf plus Paulus, das ist so die erste Gruppe, die ins Rennen geschickt wird. Aber mit denen arbeiten natürlich Leute Seite an Seite, die den gleichen Job machen. Deswegen sind das auch Apostel, von mir aus kleinere Apostel, aber sie sind Apostel. Und der Begriff Gesandter kann dann sogar noch weiter verstanden werden. Ein Apostel ist auch jemand, der nicht von Gott ausgesandt wurde, Gemeinden zu gründen und zu festigen, sondern wenn eine Gemeinde jemanden losschickte – fast so ein bisschen wie ein Briefträger, der im Auftrag der Gemeinde gesandt wird –, dann war das auch ein Apostel.
Jetzt merken wir hier im Text: „Wir als Christi Apostel“ – Paulus schließt seine Gefährten, seine Mitarbeiter einfach mit ein. Und er sagt: „Wir hätten natürlich gewichtig auftreten können.“ Also wir wissen schon, wer wir sind. Wenn wir jetzt nicht die Ehre von Menschen suchen, wenn wir es nicht darauf anlegen, dass uns alle zujubeln und alle „Huhu“ schreien, wenn wir vorbeigehen, dann liegt das daran, dass wir das Evangelium predigen wollen. Wir wollen mit unserem Leben nicht für uns Ehre haben, sondern wir wollen, dass ein anderer in den Mittelpunkt gestellt wird. Wir predigen ja das Evangelium Gottes und nicht das Evangelium davon, dass die Apostel so toll sind.
Obwohl wir als Christi Apostel gewichtig hätten auftreten können, sondern – und jetzt kommt ein ganz, ganz schöner Text – er ist deshalb für mich so schön, weil, wie soll ich das formulieren, ich glaube, wenn man die Bibel liest, gibt es immer wieder Texte, die einen besonders herausfordern. Ich glaube, jeder von euch hat solche Texte.
Du hast vielleicht irgendwo in deinem Leben eine Schwierigkeit. Vielleicht tust du dich schwer damit, Sorgen abzugeben. Und wenn du dir schwer tust, Sorgen abzugeben, dann wird Philipper 4 nicht dein Lieblingskapitel, weil da drin steht, du sollst das tun. Wenn du zum Beispiel jemand bist, dem vielleicht schwerfällt, über andere Leute nur nette Dinge zu sagen, dann könnte es sein, dass dir Psalm 15 nicht so gefällt, wo da steht, dass man das tun soll.
Das ist so ein Text, der mir nicht so gefällt. Es geht nämlich um die Frage, wie Paulus eigentlich seinen Dienst ausgeübt hat. Es ist ja absolut faszinierend – ich habe euch das gestern schon gesagt: Er ist ein paar Wochen da, dann wird er rausgeschmissen aus der Stadt, er muss abhauen, und zurück bleibt eine Gemeinde, die für die wenigen Wochen, die die Leute Christen sind, eigentlich schon extrem viel verstanden hat. Eigentlich sitzen sie schon so gut im Sattel, dass man sagen kann: Ja, die können ja schon Gemeinde machen.
Wenn ich mir überlege, wie lange es heutzutage dauert, jemanden in einem ältesten Benennungsverfahren dazu zu kriegen, auch mal Ältester zu werden, oder wie lange Gemeindegründungsarbeit dauert – vom ersten Hauskreis bis zur Einsetzung der Ältesten in Spandau war das von 1999 bis 2009, also mal zehn Jahre – die haben vielleicht zehn Wochen gehabt und kommen gleich so richtig unter Druck von außen. Das ist faszinierend.
Ich frage mich, wie Paulus das gemacht hat. Er lässt uns hier hineinschauen in sein Geheimnis, wie man junge Christen ganz, ganz schnell zu einer Reife führt und ganz schnell in die Eigenständigkeit bringt. Ich lese das, und ich merke: Paulus hat etwas, das fehlt mir. Oder das habe ich nur in Ansätzen, und da bin ich am Beten, dass Gott mir das schenkt.
Paulus hat eine unglaubliche Liebe zum Menschen. Ich lese euch mal 1. Thessalonicher 2,7-12 vor und achtet nur mal auf die Ausdrücke, wo es um Liebe geht oder darum, jemandem mit Zärtlichkeit, mit Mütterlichkeit, mit Väterlichkeit zu begegnen.
Ich weiß nicht, was ihr für eine Vorstellung von Paulus habt. Paulus ist ja durchaus bereit, mit Worten mal so richtig dazwischenzugehen. Der Galaterbrief lebt davon, dass er sich hinsetzt und gegen die Irrlehrer wettert. Paulus ist der, der bereit ist, öffentlich einen Petrus zurechtzuweisen in der Gemeinde. Paulus ist der, der in Apostelgeschichte 15, wo die Frage auftaucht, ob sich die Heidenchristen beschneiden lassen müssen, erst nach Jerusalem zieht und im Apostelkonzil mittendrin ist. Er hat keine Angst, mit Worten zu kämpfen. Der Typ ist total tough. Das ist so ein Typ, den steinigst du am Abend, und am Morgen, wenn er noch lebt, steht er wieder in der Stadt und predigt weiter.
Jetzt hört mal, wenn ihr diesen Hintergrund habt. Ich weiß nicht, wie ihr über Paulus denkt. Vielleicht habt ihr diesen harten Knochen vor Augen, der früher die Christen verfolgt hat und jetzt halt mit seiner Berufung von Gott eingesetzt wird, überall Gemeinde zu bauen.
Hört genau zu, wie er seinen Dienst in den wenigen Wochen, die er in Thessalonich war, beschreibt:
1. Thessalonicher 2,7-12: „Sondern wir sind in eurer Mitte zart gewesen wie eine stillende Mutter, die ihre Kinder pflegt. So in Liebe zu euch hingezogen waren wir willig, euch nicht allein das Evangelium Gottes, sondern auch unser eigenes Leben mitzuteilen, weil ihr uns lieb geworden wart. Denn ihr erinnert euch, Brüder, an unsere Mühe und Beschwerde, Nacht und Tag arbeitend, um niemand von euch beschwerlich zu fallen. Haben wir euch das Evangelium Gottes gepredigt? Ihr seid Zeugen und Gott, wie heilig und gerecht und untadelig wir gegen euch, die Glaubenden, waren. Wie ihr ja wisst, dass wir euch, und zwar jeden Einzelnen von euch, wie ein Vater seine Kinder ermahnt und getröstet und beschworen haben, des Gottes würdig zu wandeln, der euch zu seinem Reich und seiner Herrlichkeit beruft.“
Der zarte Typ! Ich lese das und denke mir: Was diesen Mann ausgezeichnet hat, war, dass er zu den jungen Christen war wie eine Mutter und wie ein Vater. Vers 7: „Zart wie eine stillende Mutter“, Vers 8: „In Liebe zu euch hingezogen“. Und dann unten: „Wir waren bereit, unser Leben mitzuteilen, weil ihr uns lieb geworden wart.“ Wahnsinn, mich berührt das.
Mich berührt das, weil ich merke, worum es geht, wenn man jungen Menschen und vor allem jungen Christen das Evangelium mitgeben möchte. Es geht darum, ihnen zu begegnen mit der Zärtlichkeit, mit der Liebe einer Mutter. Eine Mutter, die bereit ist, sich zu investieren, zu pflegen, lieb zu sein.
Vielleicht auch ein Stück weiter: In Vers 9 geht es um harte Arbeit. Es geht darum, dass die Apostel die jungen Christen nicht ausgenommen haben. Sie lagen ihnen nicht auf der Tasche, sie haben sie versorgt, möchte ich sagen. Und sie sind ein Vorbild. In Vers 10: Ihr wisst, wie heilig und fromm die Apostel leben. Genau das leben sie vor, das Leben, das sie sich wünschen, dass die anderen führen sollen. Sie zeigen ihnen, wie das mit dem Christsein geht, und investieren sich mit ihrem Leben. Sie sind gerecht und untadelig, also man kann keine Anklagen gegen sie vorbringen. Sie halten sich an Gottes Gebote und an die römischen Gesetze.
Wie geht Nacharbeit? Wie macht man das? Wie bringt man jemanden dazu, geistlich zu wachsen? Paulus würde sagen: Pass auf, dass du nicht zu viel an Frontalunterricht denkst, an Kurse, sondern überlege, ob du dich mit Leuten eins zu eins im kleinen Kreis treffen kannst, wo du ihnen etwas geben kannst, das weit über Wissen hinausgeht. Nämlich wo du ihnen deine Liebe zeigen kannst, wo du ihnen vorleben kannst, worum es geht, wo du zärtlich sein kannst, wo du sie versorgen kannst, wo du so richtig Mutter für sie sein kannst.
Als ich das las, dachte ich mir: Das möchte ich lernen. Das ist für mich eine echte Herausforderung, zu sagen: Ich möchte so jemand werden, der, wenn er auf junge Christen zugeht, ihnen nicht einfach nur Theorie vermittelt, sondern ihnen eigentlich zeigt, wie sehr ich sie lieb habe. Und ihnen, weil ich sie lieb habe, mehr mitgebe als die Theorie.
Paulus sagt: Ich bin Mutter und ich bin Vater. Wenn man mal genau hinschaut, was eigentlich den Vater ausmacht, dann stellt man fest: Der Vater ist der, der redet. Also die Mutter scheint die zu sein, die für Liebe, Zärtlichkeit, Versorgung zuständig ist. Wenn das Bild wechselt zum Vater, dann geht es plötzlich um Belehrung.
Da heißt es in Vers 11: „Wie ihr ja wisst, dass wir euch, und zwar jeden Einzelnen von euch, wie ein Vater seine Kinder ermahnt und getröstet und beschworen haben.“ Schön! Seht ihr wieder dieses kleine Wörtchen „jeden Einzelnen“? Kannst du dir vorstellen, was das bedeutet? Du triffst dich mit einem. Das erinnert mich sofort ein bisschen an Jesus, wenn ich ehrlich bin, weil Jesus ja auch nicht so ewig viele Leute gehabt hat. Es ist eine kleine Truppe.
Vielleicht geht es uns manchmal so, dass wir denken: Lohnt sich das denn, sich in eine einzige Person zu investieren? Und mir scheint, Paulus möchte hier sagen: Wenn du Menschen das Evangelium beigebracht hast, wenn Menschen glauben und du möchtest, dass sie geistlich wachsen, dann brauchst du auf der einen Seite die Liebe einer Mutter und die Zärtlichkeit. Sie müssen wissen, dass du es echt gut mit ihnen meinst. Du musst schauen, dass dein Leben für sie zum Vorbild wird.
Auf der anderen Seite brauchst du das, was einen typischen Vater auszeichnet: Du musst den Mund aufmachen, du musst reden, du musst ihnen die Dinge erklären. Was hier steht, du musst ermahnen – könnte man auch übersetzen mit ermuntern –, du musst trösten – könnte man auch übersetzen mit überzeugen –, du musst beschwören. Das ist Vateraufgabe: reden. Wenn du mal Vater bist oder es gerade bist, reden, reden, hingehen, reden, bring es ihnen bei, sag es ihnen.
Beides gehört zusammen: Mutter und Vater in einer Person. Der gleiche Paulus, der ganz zärtlich und lieb ist, macht den Mund auf und redet und redet und redet und sagt: Ich wünsche mir eines, ich möchte, dass ihr die richtigen Dinge tut, ich möchte, dass ihr überzeugt seid, ich möchte euch beschwören, des Gottes würdig zu wandeln, der euch zu seinem Reich und seiner Herrlichkeit beruft.
Paulus hat sehr klar die Vorstellung: Wir sind Bürger am Reich Gottes, da gehören wir hin. Gott hat uns zu diesem Reich berufen, und er hat uns zu seiner Herrlichkeit berufen. Das heißt, er hat uns dazu berufen, seine Herrlichkeit wiederzuspiegeln. Gott ist grandios, und er möchte, dass man in uns seine Grandiosität sieht.
Deswegen Matthäus 5,48, wo es im Zentrum der Bergpredigt heißt: „Ihr nun sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.“ Ein bisschen frustrierend formuliert vielleicht, aber ganz bewusst und auch als Vision so gemeint. Schönes Ziel, oder? Sei wie Gott, strahle seine Herrlichkeit aus, nimm dir jemanden zum Vorbild, der keine Sünde tut. Hoho, wunderbar, da geht’s hin.
Paulus hat sich mit den Leuten getroffen und ihnen gesagt: Hey, ich möchte dich ermutigen, bleib dabei. Ich möchte dich davon überzeugen, dass das richtig gut ist, was du tust. Und ich möchte dich beschwören.
Ich habe mir die Frage gestellt: Wann habe ich das letzte Mal jemanden beschworen? Also ganz ehrlich, jetzt mal ganz nüchtern: Wann habe ich mal jemanden beschworen? Es ist mir noch ein bisschen fremd und fast ein Stückchen unheimlich, was hier steht. Du gehst auf jemanden zu, fällst vor seine Füße und sagst: Mach das nicht, mach das nicht. Das ist Beschwören. Das ist nicht so ein: „Wir können mal einen Kaffee trinken gehen und ich sage dem mal was.“ Das ist ganz sich investieren in den anderen, wo der andere merkt: Boah, der hat mich ja wirklich lieb und der meint es sehr richtig ernst mit mir.
Ich beschwöre Menschen, sagt Paulus, dass sie gotteswürdig wandeln. Er ist selber ein Vorbild, er zeigt, wie das geht. Und dann geht er zum Menschen und sagt: Bitte, bitte mach das! Wow!
Merkt ihr also: Ich habe nichts gegen Jüngerschaftskurse, ich habe nichts dagegen, dass wir Bücher lesen über wie ein Christ leben soll. Aber ich glaube, wenn jemand dich anfasst, dir seine Liebe zeigt, dich beschwört, dann ist das eine viel bessere Motivation, als wenn du siebzehn Argumente liest, warum man irgendwas nicht tun soll.
Das ist auch gut, das gehört auch irgendwo dazu im Bereich der Überzeugungen. Aber mich beeindruckt das einfach. Und es fordert mich gleichzeitig heraus.
Es fordert mich heraus, mir die Frage zu stellen: Wenn jemand mein Leben sieht, wandle ich würdig Gottes? Also ist mein Leben so, wie Gott es sich wünscht? Herr Gott beruft mich zu seinem Reich, zu seiner Herrlichkeit. Wenn ich in mein Leben hineinschaue, gibt es da Bereiche, wo ich sage: Hm, die sind eigentlich nicht so dolle? Weil wenn das so ist, dann muss ich das ändern.
Es ist ja relativ einfach. Die Frage an dich: Wie sieht es aus? Paulus sagt, wir leben, um Gott zu gefallen. Wir leben sehr unterschiedlich, wir haben alle unterschiedliche Möglichkeiten, Aufgaben, Berufungen, Gaben. Aber da, wo du stehst, darf ich dir die Frage stellen: Da, wo du stehst, lebst du so, dass du sagst: Das ist für Gott, das entspricht Gott. Da kann Gott irgendwie dazu applaudieren und sagen: Es gefällt mir. An der Stelle, wo ich dich hingestellt habe, mit deinen Schwierigkeiten, mit deinen Chancen, mit deinen Risiken und Nebenwirkungen, ja, da machst du einen guten Job.
Für mich: Kannst du das für dich sagen? Ich kenne ja dein Leben nicht, deswegen weiß ich nicht, was jetzt hochploppt. Aber diese Frage, sich immer mal ehrlich vor Gott zu stellen: Bin ich eigentlich noch auf einem Lebensweg, der Gott entspricht? Oder hat es da irgendwann in meinem Leben so eine kleine Weiche gegeben? Man braucht ja oft nicht viel.
Das ist so eine kleine Abweichung, und dann läuft man die einfach mal so zehn, fünfzehn Jahre weiter. Und dann stellt man fest: Eigentlich ging es da weiter, aber man ist so ein bisschen aufs Seitengleis gerutscht. Dinge, die einem früher ganz klar waren, wo man auch vielleicht Überzeugungen hatte und wo man auch mal Träume hatte und wo man dachte: Boah, das will ich auch mal schaffen im Leben. Die rutschen so ein bisschen, sie gehen immer weiter weg. Man sieht sie noch und man grüßt sie immer so am ersten Januar, wenn man dann neue Vorsätze fasst. Und dann verliert man sie schon wieder aus dem Blick.
Ich frage euch das, weil ich das in meinem Leben sehe. Weil ich in meinem Leben merke: Dieses In-der-Spur-Bleiben passiert nicht automatisch. Wenn ich mir die Frage stelle, was mich an diesem Text herausfordert, dann sage ich: Es ist die Zärtlichkeit und der Einsatz eines Paulus im Umgang mit jungen Christen. Weil ich ganz einfach sage: Das bin ich nicht. Das bekenne ich euch, das bin ich nicht. Das möchte ich aber werden.
Warum? Weil es mich fasziniert, weil ich glaube, dass es richtig ist. Und da muss ich was lernen. Vielleicht hast du an einer anderen Stelle etwas, wo du sagst: Da möchte ich weiterkommen. Dann lass das bitte nicht los. Fang nicht an, irgendwo halb mit Gott zu leben. Das wäre wirklich schade. Die Thessalonicher haben das nicht gemacht.
Die Wirksamkeit des Wortes Gottes in der Gemeinde
1. Thessalonicher 2,13: Und darum danken auch wir Gott unablässig. Ich möchte es noch einmal wiederholen, auch wenn ich es gestern schon gesagt habe: Dank gehört zu einem Leben mit Gott dazu. Dank gilt auch den Geschwistern, so wie Paulus es in Kapitel eins macht. Dort dankt er für ihr Werk des Glaubens, für die Bemühung der Liebe und für das Ausharren der Hoffnung. Das ist grandios, das brauchen wir einfach, damit wir nicht einander irre werden. Ich werde später noch mehr dazu sagen.
Hier kommt noch ein Punkt, wofür Paulus dankt: Er dankt für die Art und Weise, wie das Wort Gottes bei ihnen eingeschlagen ist. Und darum danken auch wir Gott unablässig, dass ihr, als ihr von uns das Wort, die Kunde von Gott, also das Evangelium, empfangen habt, es nicht als Menschenwort aufnahmt, sondern als das, was es wahrhaftig ist: als Gottes Wort, das in euch, den Glaubenden, auch wirkt.
Manche fragen mich: „Jürgen, wie kam es denn, dass die Bibel zusammengestellt wurde? Es gab damals doch noch andere Schriften. Warum sind genau die Schriften in der Bibel, die drin sind?“ Dann sage ich immer drei Dinge.
Erstens: Es gibt eine Glaubensregel. Jesus hat bestimmte Dinge gepredigt, und die Apostel haben diese bewahrt. Es gab also eine Art Set von Glaubenslehren, die in einer Schrift enthalten sein mussten.
Zweitens: Die Schriften mussten von jemandem stammen, der Ahnung hatte. Apostel wären ideal, aber auch Apostelmitarbeiter waren gut geeignet.
Drittens: Es gibt das Tupperware-Prinzip. Tupperware sind diese Plastikschüsseln, die Männer nie verstehen werden, warum Frauen sie so toll finden, aber sie werden trotzdem gekauft, obwohl sie ziemlich teuer sind. Warum? Weil sie funktionieren. Man kann sagen, was man will, aber sie funktionieren einfach. Deswegen werden sie gekauft.
Das ist das, was Paulus hier sagt: Das Wort Gottes wirkt. Warum sind bestimmte Texte in der Bibel? Weil man merkt, dass Gott dahintersteckt. Es wirkt, es funktioniert. Tupperware, das so gut ist, setzt sich durch. Deshalb sind bestimmte Texte in der Bibel enthalten, während andere, wie die Didache, die etwa zur gleichen Zeit wie die Offenbarung geschrieben wurde, nicht aufgenommen wurden. Die wirkt nämlich irgendwie nicht.
Was heißt „wirkt“? Ich habe früher Volkshochschulkurse gegeben und meine Kursteilnehmer vorgewarnt: „Achtung, wir lesen hier ein Buch, das könnte euch unangenehm berühren.“ Die Bibel sagt über sich selbst, dass sie wirksam und lebendig ist, schärfer als ein zweischneidiges Schwert.
Ich habe wirklich meine Teilnehmer darauf vorbereitet: Wenn man die Bibel liest, kann es Momente geben, in denen man den Eindruck hat, Gott spricht zu einem. Das ist ganz ungewöhnlich – zumindest für mich nicht, da ich weiß, dass der Geist Gottes dahintersteht und das Wort Gottes verwendet, um Menschen von Sünde, Gerechtigkeit und Gericht zu überzeugen.
Das ist der Punkt: Das Wort Gottes, sobald ich mich darauf einlasse – nicht nur auf einer Karwoche-Postkarte, die ich verschicke, sondern wenn ich richtig darüber nachdenke und es länger betrachte, überlege, was es mit mir zu tun haben könnte – dann passiert etwas. Das ist die Gefahr des Wortes Gottes.
Deshalb sagt die Bibel über sich selbst: Du sollst sie lesen, du sollst sie im Herzen haben, also auswendig lernen. Aber das Wichtigste ist, du sollst darüber nachsinnen, darauf herumkauen. Denn wenn du das tust, wird das Wort Gottes seine transformierende Kraft in deinem Leben freisetzen.
Du kannst dich dann immer noch ein bisschen dagegen wehren und Nein sagen. Aber du kannst nichts dagegen machen, dass das Wort Gottes an sich wirksam ist und dich verändern möchte.
An dieser Stelle ist Paulus einfach begeistert davon, dass das Wort Gottes im Leben der Thessalonicher genau das getan hat: Es hat gewirkt. Es hat die Wiedergeburt bewirkt. Es war kräftig genug, Menschen davon zu überzeugen, dass sie Jesus brauchen und umkehren müssen.
Der Apostel Petrus beschreibt das so: „Denn ihr seid wiedergeboren, nicht aus vergänglichem Samen, sondern aus unvergänglichem, durch das lebendige und bleibende Wort Gottes.“ (1. Petrus 1,23)
Wieder dieser Gedanke: Das Wort ist wie ein Same. Ein Same ist ja kein Stein, sondern etwas Lebendiges. Es will wachsen, Frucht hervorbringen und neues Leben in mir bewirken – nämlich das Schriftleben, letztlich das Auferstehungsleben Jesu.
Die Erfahrung von Ablehnung und die Treue trotz Widerstand
Woran erkennt man diese Wirksamkeit? Man sieht es daran, dass die anderen es bemerken und mit Ablehnung darauf reagieren.
Vers 14: „Denn, Brüder, ihr seid Nachahmer der Gemeinden Gottes geworden, die in Judäa sind, in Christus Jesus, weil auch ihr dasselbe von den eigenen Landsleuten erlitten habt wie auch sie von den Juden.“ Paulus macht hier einen Schritt zurück und sagt: Ihr erfahrt jetzt Ablehnung, man ist gegen euch. Man möchte euch dazu bringen, den Glauben an Jesus wieder aufzugeben. Dabei werden fiese Dinge ausgedacht. Aber ihr seid nicht allein.
Dieser Schritt zurück zeigt, dass das, was ihr erlebt, auch andere Christen und Gemeinden vor euch erlebt haben. Paulus weiß genau, wovon er spricht, denn er war selbst einer dieser Verfolger. Er hat sich sehr bemüht, Menschen dazu zu bringen, den frischen, jungen Glauben wieder abzuschwören.
Vers 15: „Juden, die sowohl den Herrn Jesus als auch die Propheten getötet und uns verfolgt haben und Gott nicht gefallen und allen Menschen feindlich sind, indem sie, um ihr Sündenmaß stets voll zu machen, uns wehren, zu den Nationen zu reden, damit sie errettet werden, aber der Zorn ist endgültig – oder vielleicht besser: er ist schließlich beziehungsweise letzten Endes – über sie gekommen.“
Wenn Paulus so spricht, ist das nicht ganz politisch korrekt, und man könnte es als schwierig empfinden. Er sagt sehr deutlich Folgendes über die Juden:
Erstens: Sie haben den Herrn Jesus getötet.
Zweitens: Sie haben die Propheten getötet.
Drittens: Sie haben die Apostel verfolgt und hinausgetrieben, im Fall von Paulus eine Stadt nach der anderen. Es ist immer wieder dasselbe Problem.
Viertens: Sie gefallen Gott nicht.
Fünftens: Sie sind allen Menschen feindlich.
Hier meint Paulus „feindlich gegenüber allen Menschen“ deshalb, weil sie versuchen, zu verhindern, dass die Heiden das Evangelium von der Vergebung der Sünden durch den jüdischen Messias hören.
Das ist verrückt, weil im Alten Testament die Idee bereits prophezeit wurde, dass der jüdische Messias auch die Heiden mit dem Evangelium erreicht. Jesaja schreibt in Kapitel 49, Vers 6, über den jüdischen Messias: „Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, um die Stämme Jakobs aufzurichten.“ Das ist zu wenig. Es ist zu wenig, einen Retter nur für Israel zu senden. Gott sagt: „Das ist mir viel zu wenig.“ Er hat einen viel größeren Plan, eine größere Vision von Errettung. Er ist kein kleiner Nationalist, sondern will immer die ganze Welt, immer die ganze Schöpfung.
So sagt Gott: „Ich habe dich auch zum Licht der Nationen, der Heiden gemacht, damit mein Heil bis an die Enden der Erde reicht.“ Das ist Gottes Idee.
Paulus sagt hier, dass sie dagegen sind. Sie sind feindlich gegenüber allen Menschen und stellen sich diesem großartigen Plan in den Weg. Sie tun dies, „indem sie, um ihr Sündenmaß stets voll zu machen, uns wehren, zu den Nationen zu reden, damit sie errettet werden.“
Damit beschreibt Paulus, dass diese Menschen nicht erst in diesem Moment anfangen zu sündigen, sondern dass das jüdische Volk über die Geschichte hinweg immer wieder gegen Gott rebelliert hat. Leider haben sie den Weg Gottes oft erschwert.
Stephanus zeigt das in seiner Verteidigungsrede in der Apostelgeschichte sehr schön auf. Er beschreibt, wie Gott Schritt für Schritt vorgeht, während Menschen, in diesem Fall Juden, immer wieder dagegen sind. Sie haben ihr Sündenmaß voll gemacht.
Muss man sich das so vorstellen, dass vor Gott ganze Völker als eine Gruppe zählen? In 1. Mose 15,16 erklärt Gott, warum Abraham, dem das Land Kanaan zufällt, noch 400 Jahre nach Ägypten muss, bevor er das verheißene Land einnehmen kann. Gott verspricht Abraham das Land, sagt aber nicht „jetzt“. Ich lese euch das vor:
1. Mose 15,16: „Du wirst sterben, und in der vierten Generation werden deine Nachkommen hierher zurückkehren.“ Warum dauert das so lange? Weil das Maß der Schuld der Amoriter bis dahin noch nicht voll ist.
Gott sieht ein Volk, erkennt die Schuld eines Volkes und sagt, dass das Maß voll wird. Wenn es voll ist, kommt das Gericht.
Das gilt hier für die Juden: Sie haben ihr Sündenmaß voll gemacht, indem sie uns daran hindern, zu den Nationen zu sprechen, damit diese errettet werden. Doch der Zorn ist – und hier steht bei mir „endgültig“. Das finde ich eine eher unglückliche Übersetzung. Besser heißt es „schließlich“ oder „letzten Endes“ ist der Zorn über sie gekommen.
Was Paulus hier genau im Blick hat, wissen wir nicht ganz genau. Der Brief wurde etwa im Jahr 49 nach Christus geschrieben, und Paulus muss irgendeine Art von Gerichtshandeln Gottes meinen.
Das kann in meinen Augen nicht die Zerstörung des Tempels und die Deportation des Volkes sein, denn das geschah später.
Aber im Jahr 49 nach Christus geschieht etwas sehr Schreckliches in Jerusalem: Zum Passah sterben etwa zehntausend Juden, nach anderen Quellen sogar noch deutlich mehr.
Folgendes geschieht: Zum Passah, genauer gesagt zum Fest der ungesäuerten Brote nach Passah, kommen Tausende und Abertausende von Pilgern nach Jerusalem. Die Römer haben extra viele Soldaten aufgestellt.
Es kommt zu einer Provokation: Ein römischer Soldat provoziert die Pilger im Tempel. Diese beginnen zu pöbeln und werfen Steine. Die Situation eskaliert.
Truppen werden in den Tempel geschickt. Die verstörte Masse der Pilger gerät in Panik und rennt aus dem Tempel heraus. Man kann sich vorstellen, was passiert, wenn mehrere, vielleicht zehntausend Menschen aus dem Tempel durch die schmalen, engen Tore rennen. Ungefähr zehntausend Menschen sterben dabei.
Vielleicht hat Paulus dieses Ereignis vor Augen, wenn er sagt, dass er den Zorngericht Gottes gesehen hat. Er hat gesehen, dass Gott es nicht duldet, dass man dem Evangelium Widerstand leistet.
Paulus’ Haltung gegenüber den Juden und sein seelisches Ringen
Letzte Frage vor der Pause: Wenn Paulus so über die Juden spricht und sagt, ihr habt den Herrn Jesus getötet, die Propheten getötet, die Apostel verfolgt, ihr gefällt Gott nicht, ihr seid Feinde der Menschheit – ist er dann ein Antisemit? Die Antwort muss lauten: Nein.
Und zwar überhaupt nicht. Paulus ist ein Realist. Wenn man ihn jedoch fragt, wie es in seinem Herzen mit den Juden aussieht, dann würde er, und ich möchte euch nur noch zwei Verse zum Schluss vorlesen, so antworten, wie es im Römerbrief heißt.
In Römer 9 sagt Paulus: „Ich sage die Wahrheit in Christus, ich lüge nicht, dass ich große Traurigkeit habe und unaufhörlichen Schmerz in meinem Herzen. Denn ich selbst habe gewünscht, verflucht zu sein, von Christus weg, für meine Brüder.“
Im Kapitel 10, Vers 1 heißt es: „Brüder, das Wohlgefallen meines Herzens und mein Flehen für sie zu Gott ist, dass sie errettet werden.“
Das ist das Herz von Paulus. Auf der einen Seite sieht er ganz klar, was Sache ist. Die Tatsache, dass er verfolgt wird, die Tatsache, dass die Juden als Volk dem Evangelium im Weg stehen, ja sogar, dass sie die Propheten und Jesus getötet haben, hält ihn nicht davon ab.
Und dann merken wir wieder, was von diesem Herzen bleibt: eine Leidenschaft, an diesem Volk zu hängen. Er sagt: „Ich flehe, ich bete für dieses Volk, ich wünsche mir, dass es errettet wird. Das sind meine Leute.“
Ich kann förmlich spüren, wie er nicht mit der Idee leben kann, dass er das Evangelium den Heiden predigt – irgendwelchen Griechen, Thessalonichern, Athenern, Philippianern –, die alle zum Glauben kommen, aber die Leute, die ihm so am Herzen liegen, tun das irgendwie nicht.
Das ist sein Herz. Dieses gefühlvolle Herz lässt ihn jedoch nicht vergessen, wo die Probleme liegen. Die Probleme der Thessalonicher liegen unter anderem darin, dass die Juden in Thessalonich diesen jungen, kleinen christlichen Glauben verfolgen und nicht akzeptieren wollen. Punkt.
Erstmal bis dahin eine kurze Pause, und dann machen wir mit Kapitel 2, Vers 17 weiter.