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Hephata!

Jesus, der Heiland
09.06.2003Markus 7,31-37
Wir haben Heilanstalten, aber keinen Heiland mehr. Im Bericht von der Heilung eines Taubstummen erfahren wir ärztlichen Wirksamkeit Jesu, nämlich von seiner Diagnose, seiner Therapie und von seiner Medizin.

Heute, am 12. Sonntag nach dem Dreieinigkeitsfest, ist uns das Evangelium gegeben aus dem Markusevangelium, und da wird im siebten Kapitel berichtet:

Und als Jesus wieder fortging aus dem Gebiet von Tyrus, kam er durch Sidon an das Galiläische Meer mitten in das Gebiet der Zehn Städte. Und sie brachten zu ihm einen, der taub und stumm war, und baten ihn, dass er die Hand auf ihn lege. Und er nahm ihn aus der Menge beiseite und legte ihm die Finger in die Ohren und berührte seine Zunge mit Speichel und sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: "Hephata", das heißt: Tu dich auf! Und sogleich taten sich seine Ohren auf und die Fessel seiner Zunge löste sich, und er redete richtig. Und er gebot ihnen, sie sollten's niemand sagen. Je mehr er es aber verbot, desto mehr breiteten sie es aus. Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: "Er hat alles wohl gemacht. Die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend." Amen.

Liebe Gemeinde, bei Krankenbesuchen kommt es manchmal vor, dass man schon unten an der Haustüre erfährt: "Wir haben den Kranken ins Krankenhaus gebracht". Gott sei Dank haben wir Häuser, wohin wir unsere Kranken bringen können. Von Afrika las ich, dass Gebiete in der Größe eines Bundeslandes nur ein Krankenhaus bzw. eine Ambulanz haben. Wir haben Häuser aus Beton und Stahl und Glas. Das Bettenangebot ist reichlich. Die ärztliche Versorgung ist hervorragend. Für unsere Kranken ist gesorgt. Die schweren Fälle bringen wir ins Hospital, Marienhospital und Katharinenhospital, auch drüben Bethanien, das sind wohlbekannte und gute Adressen. Die schwierigen Fälle bringen wir in die Kliniken. Die Kopfsachen nach Freiburg und die Sportunfälle nach Cannstatt und die Herzpatienten nach Heidelberg. Die traurigen Fälle bringen wir in die Anstalten, die Blinden in die Blindenanstalt und die Dementen ins Pflegeheim und die nervlich Angeschlagenen in die Psychiatrische.

Die damals hatten auch einen Fall, und sie brachten ihn zu ihm. Sagen Sie bitte nicht, sie hätten keine andere Möglichkeit gehabt. Sicher, von Rehabilitationszentren und Spezialkliniken hatten sie keine Ahnung. Sicher wussten sie gar nichts von Bypässen oder Chemo. Auch Arzneimittel von Bayer Leverkusen oder Böhringer Ingelheim konnten sie nicht kaufen. Aber dieses halbheidnische Gebiet der Zehn Städte am Galiläischen Meer wimmelte von seriösen Medizinmännern und dunklen Kurpfuschern. An jeder Ecke wurde um hartes Geld Hand aufgelegt und böse Geister ausgetrieben. Doch, und trotzdem brachten sie ihn zu ihm. Warum?

Dieser Mann konnte heilen. Etwas Heilendes ging von ihm aus. Doch, dieser Mann konnte heilen. Das Land hatte einen Heiland.

Und wir haben noch Heilanstalten, aber keinen Heiland mehr. Vom alttestamentlichen König Asa heißt es: "In seiner Krankheit suchte er nur die Ärzte und nicht den Herrn."

Bitte, hier ist kein Wort gegen unsere Kliniken und Anstalten gesagt. Hier ist kein Wort gegen die ärztliche Versorgung gesagt, keine Silbe gegen den aufopfernden Dienst unserer Schwestern und Pfleger und Ärzte. Wir sollten noch viel mehr dankbar sein für das, was sie tun und denen wir uns anbefehlen. Aber liebe Freunde, bringen wir unsere Kranken nicht nur dorthin, sagen wir doch wieder: "Herr, hier ist mein Kind, das einfach nicht zu Kräften kommen kann. Und Herr, hier ist meine Mutter, die nach der Operation nicht besser geworden ist und unsägliche Schmerzen leidet. Und hier ist mein Vater, der so gebückt ist unter der Last des Alters, Herr, hier bin ich selber mit meiner Schwachheit und meiner Müdigkeit und meiner Kränklichkeit. Hier bin ich selber."

Noch gilt, was in Kapernaum passierte: "Und er half vielen Kranken und heilte sie". Noch gilt, was in Möttlingen passierte. Pfarrer Blumhardt sagte über der besessenen Gottliebin Dittus: "Nun haben wir lange genug gesehen, was der Teufel vermag. Nun wollen wir sehen, was Gott tut". Noch gilt, was in vielen Städten und Dörfern passiert, nämlich, dass dies wahr ist: Der Herr ist mein Arzt.

Hier erfahren wir etwas von der ärztlichen Wirksamkeit Jesu. Genauer: Von seiner Diagnose, seiner Therapie und von seiner Medizin.

1. Jesu Diagnose

Die deckt sich mit der der Leute: taubstumm. Der Mann hatte von Kindheit an einen Hörfehler und damit war der Kontakt zu seiner Umwelt wie abgebrochen. Das Hören ist ja wie eine Brücke von Mensch zu Mensch und die war zusammengebrochen. Und nun saß er eingesperrt, gefangen, isoliert auf der Insel seines Ichs. Und diese Taubheit löste auch die Stummheit aus. Wer nicht mehr hört, kann auch nicht reden. Wer nichts mehr vernimmt, kann auch nicht sprechen. Wer taub ist, wird auch stumm.

Ich las von dem interessanten Tierversuch. Die sperrten einen Buchfinken in einen schalldichten Käfig. Schon nach einiger Zeit wurde er immer leiser und leiser und nach wenigen Wochen hatte der Singvogel das Singen verlernt. Wer im schalldichten Käfig seiner Taubheit leben muss, der verliert den Kontakt zu den anderen. Taubstumme Leute sind einsame Leute, die keine Verbindung mehr haben zu den anderen.

Und damit weitet sich dieser Taubstummenbegriff im Neuen Testament. Er sieht all die, die auch nichts mehr hören, die einsam geworden sind und die sich nicht mehr verständlich machen können. Er sieht die Mutter, die von ihrem Sohn sagt: "Ich kann reden, was ich will. Er soll die Musik leiser stellen, er soll sein Zimmer endlich einmal aufräumen. Er soll nicht nur vor dem Fernseher sitzen und SMS schreiben. Ich kann sagen und reden, was ich will, aber der Kerl hört nicht." Und er sieht den Bub, der von seiner Mutter sagt: "Ach, die redet doch immer von früher, so, als ob sie vor Christus oder gleich nach Christus geboren wäre. Ich verstehe immer nur Bahnhof". Er sieht die Frau, die von ihrem Mann sagt: "Wenn der kommt, spricht er keinen Satz mit mir". Und er sieht den Mann, der von seiner Frau sagt: "Ich kann dieses oberflächliche Gequassel überhaupt nicht verstehen". Er sieht hinein in die Parlamente und Konferenzsäle, wo einer vorne am Pult sein Manuskript verließ und die anderen in ihren Akten blättern.

Diese taubstumme Einsamkeit ist eine Not und deshalb ist sie ihm ein Anliegen. Er geht auf sie ein. Seine Diagnose ist eindeutig. Hören und Reden gehört zusammen. Wer nicht mehr auf Gottes Wort achtet, achtet auch nicht mehr auf die anderen. Wo kein Gespräch mehr mit Gott ist, erstirbt auch das Gespräch untereinander. Wo Gott stumm wird, werden wir taubstumm.

Weil dem so ist, deshalb bietet er keine oberflächliche Therapie, keine oberflächlichen Rezepte, so wie der Briefkastenonkel in der Illustrierten, wenn er über solche Nöte plaudert, z.B. wenn er schreibt: "Denken Sie an die Schöpfungsgeschichte in 1. Mose 1, wenn Sie in das chaotische Zimmer ihres Sohnes treten: 'Aus dem Tohuwabohu wurde geordnete Schöpfung'. Oder denken Sie an die Bileamsgeschichte in 4. Mose 22, wenn Sie ihrem stummen Mann begegnen. Dort heißt es: 'Da tat der Herr dem Esel den Mund auf'."

Jesus weiß nichts von jämmerlicher Oberflächlichkeit. Seine Therapie setzt in der Tiefe an. Und deshalb dieses andere, was hier steht:

2. Jesu Therapie

Er umschreibt sie mit einem Satz: "Und er nahm ihn aus der Menge".

Heute heilen sie gerne in der Menge. Ich erinnere mich an Osborn, der in Riesenstadien seine Heilkunst zeigte. Ich erinnere mich an Zaiss, der in Messehallen die Lahmen und Krüppel nach vorne rief. Wunderheiler heilen gerne in der Menge.

Jesus heilt nie aus der Menge, er nimmt beiseite, er nimmt in die Stille, auch wenn es uns sehr schwerfällt. Er nimmt uns heraus in die Stille.

Als ich im vergangenen Jahr für ein paar Tage ins Krankenhaus eingeliefert wurde, haderte ich mit meinem Gott. Sie müssen wissen, der Arbeiter lebt vom Zahltag. Der Künstler lebt vom Beifall und der Rentnerpfarrer vom vollen Terminkalender. Und deshalb zeigte ich ihm meinen gespickten Terminer mit Predigtdiensten und Freizeiten und allem möglichen und sagte: "Herr, ich bin unabkömmlich". Als ob das schwankende Schifflein der Kirche nur von einem Ruheständler über Wasser gehalten werden könnte. Aber er nahm mich beiseite.

Oder ich denke an die Mutter mit ihren fünf Kindern. Alles hing an ihr. Sie war die Achse des Familienrades, um das sich alles drehte. Doch, sie war unabkömmlich. Und dann wurde sie krank, und dann wurde ein Geschwür diagnostiziert und dann musste sie weg. Und dann bat der Mann, und dann baten die Kinder, und dann kamen Freunde hinzu und sagten: "Herr, es ist unmöglich, du kannst die Frau nicht wegnehmen". Und er nahm sie beiseite.

Wie viel unter uns haben mit dieser Erfahrung zu kämpfen, dass sie mitten im Leben, mitten im Betrieb herausgenommen werden und in die Stille geführt. Aber er muss es, denn nur in der Stille dringt sein Wort durch die schallschluckenden Wände des Herzens. So wie damals. Er nahm den Finger, legte ihn in das Ohr des Taubstummen, so wie ein Arzt, der einem Kind seinen Finger ins Ohr legt und fragt: "Tut's da weh?" "Ja, da tut's weh. Da sitzt es seit seiner Kindheit. Er ist so getrennt von seinen Kameraden, von seiner ganzen Umwelt." Und dann schaut er nach oben. Von oben kommt's, nicht von seiner Macht und seinen Möglichkeiten. Von oben kommt's. Und dann ruft er: "Hephata!", "werde aufgetan!".

Und da heißt es ganz kurz im Text: "Und sogleich tat sich sein Ohr auf und die Fesseln seiner Zunge lösten sich und er redete richtig". Ein Mensch erlebt die neue Wirklichkeit.

Doch, das kann Jesus tun.
Das kann allein Jesus tun.
Das kann allein Jesus auch heute tun.

Aber er muss es nicht. Er hat die Freiheit, es auch anders zu machen. Wer nämlich nur, nur Gesundheit erwartet, erwartet nicht zu viel, sondern zu wenig. Der Arzt Jesus will heilen. Er will eine heile Beziehung zu Gott herstellen, einen offenen Gehörgang zum Vater. Verstehen Sie? Wenn er mich mit einem kranken Herzen beiseite nimmt und mich mit einem kranken und rhythmusgestörten Herzen weiterleben lässt, dann weiß ich, dass diese Krankheit meiner Heilung dient. Und wenn er mich mit einer kranken Niere beiseite nimmt und mich mit einer schrumpfenden und schmerzenden Niere weiterleben lässt, dann weiß ich, dass diese Krankheit meiner Heilung dient. Und wenn er mich mit einem tödlichen Geschwür beiseite nimmt und sterben lässt, dann weiß ich, dass diese Todeskrankheit meiner Heilung dient.

Liebe Freunde, Menschen, denen es um nichts weiter geht als um ihre Gesundheit, die werden gerade dadurch krank. Und deshalb möchte ich nicht immer bitten: "Herr, mach mich gesund. Bitte, mach mich gesund." Ich möchte es lernen in allen Schmerzen auch des Alters mit dem Psalmisten zu bitten: "Heile du mich, so werde ich heil. Hilf mir, so ist mir geholfen."

Er will Sie heilen. Er will Ihnen helfen. Ob er sie gesund macht, ist eine nebensächliche Frage.

Das Dritte:

3. Jesu Medizin

Wir kennen Ärzte, die im Schluss ihrer Behandlung oder schon während der Behandlung den Patienten ein Verbot auferlegen. So soll der Zuckerkranke sich keine Schwarzwälder Kirschtorte zumuten. Oder der Lungenkranke soll keine Schachtel Marlboro kaufen. Oder der Leberkranke soll sich von Kirschgeist auf Kirschsaft umstellen. Davon weiß Jesus. Aber er erlässt kein Tabak- oder Zucker- oder Essverbot, sondern er erlässt ein Sprechverbot. Sie sollten es niemand sagen.

Warum? Damit hätte er doch eine berühmte Praxis aufmachen können. Die Senatoren Roms mit den Hautkrankheiten wären gekommen und die Gelehrten Athens mit ihren Thrombosen und die Priester Jerusalems mit ihren Schlaganfällen. Alle wären sie gekommen. In der Paulskirche hätte man ihm die Paracelsus-Medaille überreicht und vom Diakonischen Werk die Wiechern-Plakette in Gold. Warum? Dieses Verbot, dies alles hätte ihm das Wichtigste erspart.

Er wollte am Schluss keine berühmte Praxis, sondern er brauchte den verfluchten Galgen. Dort musste er hin. Er wollte nicht nur vor einem verschlossenen Ohr, sondern vor einem verschlossenen Grab sein "Hephata" rufen. Und er hat's gerufen am Ostermorgen: "Hephata". Und es hat sich aufgetan und die Grabestür mitsamt der Himmelstür ist aufgegangen. Seit Karfreitag gibt es eine sperrangelweit offene Tür zum Leben.

Doch, das Kreuz ist unsere tiefste Heilung.
Das Kreuz ist unsere tiefste Medizin.
Das Kreuz ist unser Heil.

Und deshalb wissen wir, dass es keine Stelle mehr gibt, wo er nicht auftauchen wird und sein "Hephata" sagen. Er wird in unsere Hospitäler gehen, ins Marienhospital und ins Katharinenhospital und sein "Hephata" sagen. Er wird in die Kliniken gehen, die Spezialkliniken und sein "Hephata" sagen. Er wird in unsere Anstalten gehen, in Blindenanstalten und sein "Hephata" sagen. Und er wird in ihre Kranken- und Altenstube kommen und sein "Hephata" rufen. Ja, er wird auf jeden Friedhof gehen und auch vor dem Grab, an dem Sie so trauern und ihren Schmerz nicht verlieren können. Auch dort wird er sein "Hephata" erschallen lassen. "Hephata", es werde aufgetan, und es wird aufgetan.

Dann, "wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, dann werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens sein, dann wird man sagen: 'Der Herr hat Großes an ihnen getan. Der Herr hat Großes an uns getan. Des sind wir fröhlich."

"Er hat es alles wohl gemacht", steht hier. Und Sie werden einmal vor dem Throne Gottes mit mir bekennen: "Er hat's wohl gemacht".

Amen