Ich freue mich sehr, heute hier dabei sein zu dürfen. Die meistgestellte Frage oder Aussage, die ich beim Hereinkommen gehört habe, war dieselbe, die auch ich mir gestellt habe, als ich heute Morgen angekommen bin.
Es ist großartig, an einer Veranstaltung teilzunehmen, bei der etwas Neues geschieht. Das ist eine große Ehre und ein besonderes Privileg.
Ein wenig habe ich schon gezittert, vor 500 Lehrern sprechen zu müssen. Ich habe auch etwas Lehrerfahrung, die ich während meines Vikariats sammeln konnte.
Zu Beginn des Vikariats wird man in den Religionsunterricht eingeteilt. Mein Mentor fragte mich, was ich gerne machen würde, und ich antwortete, ich wolle eine Herausforderung. Diese Herausforderung bekam ich dann auch: Ich unterrichtete die siebte und achte Klasse an einer Hauptschule.
Das war ein echtes Stahlbad fürs Leben, das ich nie vergessen werde. Ich könnte unzählige Anekdoten erzählen und von tiefen Niederlagen berichten.
Die Suche nach Identität in Zeiten der Verunsicherung
Ja, an diesem Morgen sind wir plötzlich explodiert. Von erwarteten 50 oder 100 Teilnehmern sind wir auf 500 angewachsen. Das zeigt ein riesiges Bedürfnis. Es spiegelt vielleicht auch viele Fragen wider, die unter uns aufgebrochen sind – in unseren Schulen, unseren Kirchen und in unserer Gesellschaft.
Es könnte auch Fragen widerspiegeln, die von einer großen Verunsicherung zeugen. Diese Verunsicherung ist Ausdruck einer Identitätskrise einer ganzen Kultur und einer Wertekrise einer Zivilisation. Wir stellen ganz neue Fragen, weil wir in vielen Dingen verunsichert sind und Gewissheit verloren haben.
Man könnte viele Beispiele dafür anführen. Eines sei genannt: Es mag viele Gründe geben, warum in den vergangenen Wochen die Franzosen und Holländer die EU-Verfassung abgelehnt haben. Doch einer dieser Gründe war sicherlich auch der Eindruck, dass wir heute nicht mehr genau wissen, was Europa eigentlich ist. Wir wissen nicht mehr genau, was uns zusammenhält und was das eigentlich sein soll.
Was macht die Identität dieses Kontinents aus? Wer kann das noch sagen? Wer sind Europäer, und was wollen sie werden? Man kann nur so etwas zustimmen, wenn man das Gefühl hat, es zu kennen. Wenn man das nicht kennt, sagt man Nein.
Sie bekommen bestimmt auch oft Anrufe von Firmen, die Ihnen tolle Finanzgeschäfte aufschwatzen möchten oder eine kostenlose und unverbindliche Beratung anbieten. Sie kennen diese Menschen nicht. Wenn Sie klug sind, machen Sie es wie ich: Vielen Dank für Ihren Beitrag, auf Wiederhören – und dann legen Sie auf.
Wenn wir etwas nicht kennen, sagen wir Nein. Wenn wir verunsichert sind, können wir nicht wachsen. Nur wer eine Identität hat, wer weiß, wer er ist und sich seiner selbst gewiss ist, kann wachsen. Was für den einzelnen Menschen gilt, gilt auch für einen ganzen Kontinent.
Wir wissen heute unendlich viele Dinge. Trotz Pisa-Studien haben wir wahrscheinlich eine der gebildetsten Generationen der Weltgeschichte. Das Weltwissen verdoppelt sich alle drei Jahre – also das weltweit verfügbare Wissen, leider nicht unser persönliches Wissen. Dennoch führt diese Flut an Wissen nicht zu größerer Gewissheit, im Gegenteil.
Wenn man in Tübingen in die Universitätsbibliothek geht, bekommt man einen kleinen Eindruck davon, was man alles wissen könnte, wenn man es schaffen würde. Doch diese Wissensflut hat unter uns nicht zu mehr Gewissheit geführt. Wir sind uns selbst nicht gewiss.
Wer sich seiner selbst nicht gewiss ist, gerät in Depression oder Aggression. Er muss verkümmern oder um sich schlagen. Als Pädagoginnen und Pädagogen wissen Sie genau, was ich meine. Das erleben Sie täglich in der Schule, das erleben wir in der Jugendarbeit.
Wenn junge Menschen ihrer selbst nicht gewiss sind, werden sie depressiv oder aggressiv. Da ist eine gewaltige Suche nach Identität: Wer bin ich? Wer sind wir eigentlich?
Die Bedeutung von Gottesgewissheit für Selbstgewissheit
Und heute treffen wir uns zum ersten christlichen Pädagogentag. Hier sind Lehrerinnen und Lehrer versammelt, die den Wunsch teilen, Kindern und jungen Menschen mehr mitzugeben als nur eine solide Bildung, mit der sie einen Beruf erlernen und ihr Leben halbwegs glücklich gestalten können.
Es geht uns um mehr als nur darum, Kindern und jungen Menschen eine Hilfestellung zu geben, damit ihr Leben äußerlich gelingt. Nein, es geht darum, dass junge Menschen gewiss werden – es geht darum, dass sie Gottes gewiss werden. Indem sie Gottes gewiss werden, werden auch sie selbst gewiss. Denn es gibt im allerletzten keine Selbstgewissheit ohne Gottesgewissheit.
Das hat kaum jemand treffender zum Ausdruck gebracht als der große Kirchenvater Aurelius Augustinus. Er schreibt das programmatisch in seinen Bekenntnissen: „Wir sind zu dir, Gott, hingeschaffen, und unruhig ist unser Herz und bleibt unser Herz, bis es Ruhe findet in dir.“ Ohne Gottesgewissheit keine Selbstgewissheit.
Wie aber kommt es zu dieser Gottesgewissheit? Und wie führt die Gottesgewissheit zu einer Selbstgewissheit? Das sind Bildungsfragen. Es ist kein Zufall, dass im Wort „Gewissheit“ auch das Wort „Wissen“ enthalten ist. Gewissheit hat etwas mit Wissen zu tun. Was muss ich eigentlich wissen, um gewiss werden zu können?
Diesen Bildungsfragen möchte ich mich anhand eines Textes aus dem Alten Testament nähern. Vielleicht spüren Sie an diesem Moment nur nebenbei das Vorrecht, das wir haben: In einer Zeit, in der eine ganze Kultur sich ihrer selbst nicht mehr gewiss ist und nicht mehr sicher ist, was sie zusammenhält, haben wir ein Buch, das wir aufschlagen können.
Ich empfinde es als ein großes Vorrecht, dass ein christlicher Pädagogentag mit dem Aufschlagen eines Buches beginnen kann, in dem wir Antworten erfragen können – wer dieses Vorrecht hat. Es ist nicht irgendein Buch, sondern „Hobiblios“ im Griechischen, die Bibel. Und wir tun dies im Wissen und auch in der Gewissheit, dass wir Antworten aus diesem Wort erhalten. Es sind Antworten eines Größeren als wir, dessen, der uns geschaffen hat, der die Kinder geschaffen hat, die uns anvertraut sind, und der uns Wege zeigt, wie wir unserer Arbeit und unserer Aufgabe gerecht werden können.
Der biblische Bildungsauftrag im Übergang ins gelobte Land
Es ist reiner Zufall, dass der Text, über den ich sprechen möchte, das Motto des diesjährigen Kirchentages enthält. Dadurch hat er eine gewisse aktuelle Prominenz. Bitte verstehen Sie meine Wahl, die schon viel früher getroffen wurde, nicht als Ko- oder Gegenreferat. Es ist ein Reden über einen Bibeltext, der mir lieb geworden ist.
Es handelt sich um den fünften Mose, Kapitel sechs. Ich möchte mich auf die Verse 1 bis 7 und 20 bis 25 konzentrieren. Dort heißt es im fünften Buch Mose:
„Dies sind die Gesetze, Gebote und Rechte, die der Herr, euer Gott, geboten hat, damit ihr sie lernt und tut in dem Land, in das ihr zieht, um es einzunehmen. So sollst du dein Leben lang den Herrn, deinen Gott, fürchten und alle seine Rechte und Gebote halten, die ich dir gebiete, du und deine Kinder und deine Kindeskinder, damit du lange lebst. Israel, du sollst es hören und festhalten, damit du es tust, auf dass dir's wohl ergehe und du groß an Zahl werdest, wie der Herr, der Gott deiner Väter, dir zugesagt hat, in dem Land, in dem Milch und Honig fließt. Höre, Israel: Der Herr ist unser Gott, der Herr allein. Du sollst den Herrn, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft. Diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen. Du sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Haus sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst.“
Dann folgt eine Zwischenpassage mit konkreten Anweisungen. Danach geht es weiter in Vers 20:
„Wenn dich nun dein Sohn morgen fragt: Was sind das für Vermahnungen, Gebote und Rechte, die euch der Herr, unser Gott, geboten hat?, so sollst du deinem Sohn sagen: Wir waren Knechte des Pharao in Ägypten, und der Herr führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand. Der Herr tat große und furchtbare Zeichen und Wunder an Ägypten, am Pharao und an seinem ganzen Haus vor unseren Augen. Er führte uns von dort weg, um uns hineinzubringen und das Land zu geben, wie er unseren Vätern geschworen hatte. Der Herr hat uns geboten, nach all diesen Rechten zu handeln, damit wir den Herrn, unseren Gott, fürchten und es uns wohl ergehe unser Leben lang, so wie es heute ist. Unsere Gerechtigkeit wird sein, dass wir alle diese Gebote tun und halten vor dem Herrn, unserem Gott, wie er uns geboten hat.“
Wir stehen in diesem fünften Buch Mose vor dem Einzug Israels ins gelobte Land. Auch Israel befand sich damals in einer Übergangssituation. Übergangssituationen sind ja immer auch Krisensituationen. Man hatte sich in der Wüste eingerichtet. Das Leben funktionierte – zwar schlecht, aber es funktionierte.
Nun war die Frage: Wird unser Leben auch in diesem neuen Land funktionieren? Darauf gab es alles andere als Gewissheit. Nach welchen Regeln würde es denn jetzt funktionieren?
In dieser Situation formuliert die große Gestalt Israels, Mose, eine Art Testament, einen letzten Willen für die neue Generation, die in dieses Land einzieht. Die Frage lautet: Was sollte Israel seinen Kindern mitgeben, damit Gewissheit entsteht in einer neuen Lebenssituation, in einer neuen Zeit?
Was sollten sie ihnen mitgeben, damit Treue gegenüber diesem Gott möglich ist und Leben entsteht? Wie hat Israel seinen Kindern dieses vergewissernde Wissen vermittelt?
Man könnte eine Fülle von Beobachtungen machen. Ich will mich auf wenige beschränken.
Bildung als Gottesbegegnung und ethisches Wissen
Erstens erwächst Gewissheit aus der Gottesbegegnung. Bildung war und ist niemals wertneutral, und nach dem biblischen Anspruch soll sie das auch nicht sein. In der Heiligen Schrift beginnt und endet alle Bildung mit dem Glauben an und dem Glaubensgehörsam gegenüber Gott.
In den Sprüchen im Alten Testament wird es ganz klar gesagt: „Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Erkenntnis.“ Dort, wo man Gott und seinen Willen achtet, beginnt Bildung. Entsprechend waren die Bildungsinhalte in der familiären und später in der synagogalen Erziehung die Tora, die fünf Bücher Mose, und die Weisheitstexte wie die Sprüche und das Predigerbuch. Die Grundfragen lauteten: Wer ist eigentlich Gott und was ist sein Wille?
Bemerkenswert für die biblische Anthropologie, also das biblische Menschenbild, ist, dass Lernen, Verstehen, Begreifen und Erkennen eigentlich nur in einem festen Glaubens- und Wertgefüge möglich sind. Ohne einen festen Glaubens-, Hoffnungs- und Sinnhorizont wird Bildung biblisch gesehen glaubenslos, hoffnungslos und sinnlos.
Die Bibel kennt eine Ethik des Wissens. Es kommt ihr nicht darauf an, möglichst viel zu wissen, sondern das Richtige zu wissen. Die Bibel sagt: Leben gelingt nicht dadurch, dass man vieles weiß. Es ist nicht falsch, viel zu wissen, und es ist hilfreich, aber viel Wissen führt nicht automatisch zur Lebensgewissheit. Entscheidend ist, dass ich das Richtige weiß.
Die Bibel weiß auch, dass es gut sein kann, manche Dinge nicht zu wissen. Sie kennt die Gefahr, dass die Wissensgier des Menschen sein Verhängnis werden kann. Es ist für mich hochinteressant, dass in der Wissenschaft immer mehr Stimmen auf die Gefahren dieser sinnflutartigen Wissensvermehrung hinweisen. Das Weltwissen verdoppelt sich ständig in immer kürzeren Abständen.
Einer, der darauf aufmerksam gemacht hat, war der amerikanische Bioethiker Erwin Chargaff. Er ist vor einigen Jahren verstorben. Er stammte aus Polen und war Jude. Seine Mutter wurde 1943 nach Auschwitz deportiert und ermordet. Chargaff machte in Amerika eine große Karriere als Ethiker und Wissenschaftskritiker. Er sagte einmal: „Es wird nötig sein, dass die Völker sich mit dem Gedanken befreunden, dass nicht alles Wissbare auch wissenswert ist. Insbesondere ist die immer zunehmende Beschleunigung der Erzeugung sogenannten Wissens eine große Gefahr für die Menschheit.“
Diese Ethik des Wissens wird schon auf den ersten Seiten der Bibel thematisiert, in 1. Mose 3. Vor diesem Hintergrund ist es interessant, den Bildungskanon des Alten Testaments, des alten Gottesvolkes, zu betrachten. Er ist radikal einseitig: Gott und sein Wille. „Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang.“
Der Satz, dass Wissen prinzipiell gut ist, ist keine biblische Aussage. Nicht viel Wissen ist entscheidend, sondern richtiges Wissen. Es heißt hier: „Dies sind die Gesetze und Gebote und Rechte, die der Herr, euer Gott, geboten hat, dass ihr sie lernen und tun sollt, damit ihr euer Leben lang den Herrn, euren Gott, fürchtet und alle seine Rechte und Gebote haltet.“
In der Bibel begegnen wir einer Bildungskonzeption, die sich gegen eine Trennung von Theorie und Praxis wendet. Sie sperrt sich dagegen. Wer biblisch gesehen nicht tut, was er hört, hat es theoretisch auch nicht verstanden. Sicher ist vielen die umfassende Bedeutung des alttestamentlichen Wortes für „Erkennen“ bekannt. Erkennen heißt biblisch gesehen, etwas mit der ganzen Existenz zu erfahren – mit Herz, Seele und Verstand. So heißt es auch, dass Adam sein Weib Eva erkannte – mit Herz, Seele, Verstand und Leib.
Aus biblischer Perspektive kann auch das Tun dem Verstehen zeitlich vorangehen. Israel soll den Willen Gottes tun, auch wenn zunächst noch gar nicht vom kognitiven Verstehen die Rede ist. Verstehen kann dabei sein, muss aber nicht. Natürlich soll Israel irgendwann verstehen, aber zunächst soll es tun. Der Erkenntnis- und Verstehensprozess kann parallel zum Gehorsam verlaufen oder diesem sogar nachfolgen.
Biblisch gesehen ereignet sich das Verstehen oft während oder nach dem gehorsamen Tun, nicht unbedingt davor. Oft versteht man Dinge erst, indem man sie tut.
Unser Text sagt, dass Israel diese Worte hören und festhalten soll und sie seinen Kindern einschärfen soll. Im gesamten Orient, in der Antike, bestand der erste Schritt des Lernens im Auswendiglernen. Der antike Mensch lernte, indem er auswendig gelernte Texte mit sich trug, die sich nach und nach in der Lebens- und Glaubenspraxis entfalteten.
Das heißt: Ich habe ein Wort in meinem Herzen, das ich vielleicht am Anfang noch nicht verstanden habe, aber ich trage es in meinem Herzen. Dieses Wort entfaltet sich jetzt in meiner Biografie, entfaltet sich in meinem Leben.
Kein Mensch kennt die Schwierigkeiten des Auswendiglernens besser als Sie. Ich will da gar nicht groß drauf herumreiten. Und man kann bei jungen Menschen kaum Blumentöpfe gewinnen, indem man sie auswendig lernen lässt – weil unsere Lehrer uns ja auch nicht mit Auswendiglernen gewonnen haben.
Ich will es mal ganz persönlich formulieren: Ich frage mich, ob ich manche schwierige Situation in meinem Leben besser bewältigt hätte, wenn ich mehr Worte des Lebens in meinem Herzen getragen hätte, als ich es tatsächlich getan habe. Wenn ich mehr gelernt hätte, wären mir in manchen Situationen vielleicht mehr Dinge ins Auge gesprungen, hätten mich mehr getröstet und mir mehr Gewissheit gegeben.
Auf meinem Schreibtisch liegen seit Neuestem die Lernkarten von Hans-Joachim Eckstein. Ich hoffe, mit diesen Lernkarten dieses Defizit ein wenig beheben zu können.
Die Gottesbildung und Lebensorientierung Israels vollzog sich vor allem durch das Memorieren seines Willens und seiner Selbstoffenbarung und zweitens durch die Gehorsamspraxis im alltäglichen Leben. Im Alten Testament gilt: Wer den Willen Gottes weiß und tut, wird gewiss – das ist die grundlegende Einsicht Israels.
Vom Neuen Testament her müssen wir einen Schritt weitergehen. Dort steht gerade die tiefe Erkenntnis des Scheiterns an diesem Willen im Mittelpunkt. Im Neuen Testament gilt: Das Wissen um den Willen Gottes löst angesichts meines Scheiterns an diesem Willen eine große Unsicherheit aus.
Paulus sagt: „Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen? Ich will tun, und ich tue nicht; ich scheitere.“ Das macht nicht gewiss, sondern sehr ungewiss. Paulus sucht die Gewissheit im Tun, scheitert aber immer wieder und bleibt deshalb zutiefst ungewiss.
Im Neuen Testament entsteht Gewissheit nicht durch das eigene Tun des göttlichen Willens, sondern durch das Wissen um die Liebe dessen, der den Willen Gottes getan hat. Paulus sagt am Ende von Römer 8: „Ich bin gewiss nicht durch mein Tun und Gehorsam, sondern durch die Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“
Die Grundstruktur bleibt jedoch dieselbe: Dort, wo sich Gott mir in den Weg stellt, wo mir Gott in seinem Wesen begegnet und mir sein Wort sagt und seinen Willen offenbart, und sich diese Offenbarung in meinem Leben verankert, dieses Wort einen Landeplatz in meinem Leben bekommt, da erfahre ich Gewissheit.
Herzensbildung als Schlüssel zur Lebensgewissheit
Ein zweites Gewissheit erwächst aus einer Herzensbildung.
„Und du sollst den Herrn, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft. Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen.“ Das Herz ist ein Schlüsselbegriff in diesen Versen. Biblisch gesehen ist es das Kommandozentrum des Menschen.
Im Herzen lokalisiert die Bibel den Willen des Menschen. Wir entscheiden im Herzen. Dort befindet sich auch der Verstand. Biblisch betrachtet denken wir nicht mit dem Hirn, sondern mit dem Herzen. Im Herzen ist das Gewissen des Menschen; dort wird angeklagt und verteidigt. Im Herzen fällen wir unsere Lebensentscheidungen: wie wir mit unserem Geld umgehen, wie wir unsere Zeit nutzen, wie wir mit unserer Sexualität umgehen. All das entscheidet sich, biblisch gesprochen, im Herzen – in unserer Kommandozentrale.
Unsere Lebensentscheidungen treffen wir nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Herzen. Dabei spielen ganz andere Dinge eine Rolle als nur der Intellekt. Entsprechend ist das Herz die Hauptadresse des Wortes Gottes. Im Herzen entscheidet sich das Schicksal des Menschen. Deshalb will Gott unser Herz – und zwar ganz. Er begnügt sich nicht mit unserem Intellekt, nicht mit unseren Gefühlen, nicht mit unserer physischen Kraft. Er will der Herr der Herzen werden.
Wir können Gott unser Herz nur ganz geben oder gar nicht. Dazwischen gibt es nichts. Man kann das nicht prozentual stückeln. Das hat Konsequenzen für christliche Bildung. Christliche Bildung wird sich niemals nur mit der Ausbildung von immer mehr Kompetenzen begnügen. So wichtig das auch ist, gar keine Frage. Sie wird immer zuerst Herzensbildung sein wollen.
Noch einmal ein Wort von Erwin Chargaff, gesprochen aus seiner jüdischen Prägung heraus: „Ich bin schon früh des Glaubens gewesen, dass das Menschenschicksal aus seinem Herzen kommt. Dieses Herz, wie mir später klar wurde, wird nicht durch seine DNS programmiert. Unser Herz ist nicht durch unsere DNS programmiert. Die Geschichte meines Lebens ist eine Geschichte des Gesprächs zwischen Gott und meinem Herzen, und die ist zunächst einmal offen.“
Biblische Bildung zielt auf eine Veränderung des Herzens. „Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen.“ Gott will unser Herz, und „diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen.“ Dort will Gottes Wort hin. Aus der Veränderung und Umkehr des Herzens oder der Verhärtung des Herzens entspringt Segen oder Fluch für Israel. Es ist kein Zufall, dass Jesus im Doppelgebot der Liebe dieses Wort aufnimmt.
Noch ein letztes Zitat von Erwin Chargaff: „Alternativen können nur aus dem Herzen des Einzelnen kommen, der versteht, dass Wissenschaft nie zu einer Lizenz zur Unmenschlichkeit werden darf. Nach all dem, was wir im zwanzigsten Jahrhundert erlebt haben, darf bezweifelt werden, dass Bildung und Wissenschaft von allein zu größerer Menschlichkeit führen. Dies wird nur durch eine Veränderung des Herzens, der Herzen, durch eine Herzensbildung geschehen. Wissen braucht einen ethischen Rahmen oder, um es noch deutlicher zu sagen: Wissen braucht eine Gottesbeziehung, sonst wird Wissen zerstörerisch.“
Ich glaube, dass das nicht nur für die Spitzenforschung in den Laboren gilt, sondern auch für unsere Klassenzimmer. Wissen braucht einen ethischen Rahmen, eine Gottesbeziehung. Dort, wo unser Wissen nicht rückgebunden ist an das Wort und den Willen Gottes, wird es bindungslos, unverbindlich.
Deshalb wird christliche Bildung immer das Herz eines Menschen vor Augen haben. Es genügt nicht, viel zu wissen. Es geht um eine Veränderung unserer Herzen.
Weil wir hier in Waldorf Haeslach sind und eigentlich ursprünglich im CVM-Zentrum tagen wollten, erlaube ich mir an dieser Stelle, einmal an Karl Wetzel zu erinnern. Er muss Ihnen nicht bekannt sein. Er war Jugendreferent ein halbes, ein ganzes Leben lang, eigentlich in Waldorf Haeslach. Über fünfzig Jahre war er Leiter und Gründer auch dieses CVM-Zentrums. Er war eine Persönlichkeit, die nie im Leben eine theologische Ausbildung genossen hat. Er hätte das gern gemacht, aber es hat sich nie gefügt, es hat sich nie ergeben.
Er hat ein Leben lang junge Menschen gebildet, ohne theologische Ausbildung. Die einzige Bildung, die er besaß, war eine Herzensbildung – eine Herzensbildung aus dem Wort Gottes heraus. Mit dieser Herzensbildung hat er Generationen von jungen Menschen geprägt.
Bei der Trauerfeier für ihn im vergangenen November sprach dann Theodor, einer unserer ehemaligen württembergischen Landesbischöfe, der eine ganz andere Bildungsgeschichte hinter sich hat. Er sprach über das Phänomen der nicht vorhandenen äußeren Bildung, wissenschaftlichen Bildung oder sonstiger Ausbildung bei Karl Wetzel. Und über das Phänomen, dass er dennoch Generationen geprägt hat.
Er stellte dieses Phänomen unserer gegenwärtigen Bildungskultur gegenüber und sagte: „Wir leben heute in einer qualifikationssüchtigen Zeit, in einer Scheinwelt, wo die Scheine zählen, wo Zeugnisscheine zählen, wo Fortbildungsscheine zählen, wo Examensscheine zählen. Wir leben in einer Scheinwelt, wo der Schein alles ist. Und manchmal ist es dann eben auch nur Schein. Unser Weiterkommen und Fortkommen ist heute von Scheinen abhängig.“
Und dann sagte er: „Der Bibel geht es um etwas ganz anderes. Hier geht es um von Gott qualifizierte Persönlichkeiten, hier geht es um von Gott gebildete Persönlichkeiten, es geht um im Herzen gebildete Persönlichkeiten.“ Und das war dieser schlichte Mensch Karl Wetzel.
Das war auch dieser Franz Rombeck, ganz offensichtlich, dessen Todesanzeige wir am Anfang sahen. Das war der Namensgeber des Hauses meines Arbeitgebers, Johann Albrecht Bengel. Ich habe mich oft gefragt, wie dieser einfache Schulmeister so eine Wirkung entfalten konnte. Er hat viel geschrieben, zum Teil auch sehr Merkwürdiges.
Ich glaube, das Geheimnis seiner Persönlichkeit war nicht das, was er geschrieben hat, sondern das, was er über 28 Jahre für seine Schüler war: eine geistlich orientierende Persönlichkeit, die die Herzen dieser Jungen, die 14 bis 16 Jahre alt waren, gebildet und geprägt hat.
Es geht um von Gott qualifizierte Persönlichkeiten, um orientierende Persönlichkeiten. Junge Menschen und Kinder sollen durch die Begegnung mit Jesus Christus, durch die Erfahrung seiner Liebe und durch die Vergebung ihrer Schuld eine Veränderung ihrer Herzen erfahren. Damit sie anfangen zurückzulieben und weiterzulieben – gegenüber Gott und anderen.
Die Bedeutung von Geschichte und Erzählung für Gewissheit
Ein Letztes: Wie erfahre ich jetzt diese Veränderung? Auf welcher Grundlage kann ich eigentlich zurückleben? Wie kann ich weiterleben?
Drittens: Gewissheit braucht Geschichte, und Gewissheit braucht Geschichten. Wenn dich dein Sohn morgen fragen wird – so heißt es am Ende dieses Textes – dann geht es um die Plausibilitätsfrage. „Papa, warum soll ich eigentlich das ganze Zeug halten? Was macht das für einen Sinn? Warum?“ Kinder, die so fünf, sechs Jahre alt sind, befinden sich im „Warum“-Alter. Meine Tochter ist gerade in diesem Alter, und das kann sehr nervtötend sein. „Warum? Warum sollte ich diesen geforderten Gehorsam leisten? Warum sollte ich diesen einen Gott glauben und nicht an die vielen anderen? Warum?“
Wenn dein Sohn dich morgen fragt – liebe Kolleginnen und Kollegen –, unsere Söhne und Töchter, unsere Schülerinnen und Schüler, die fragen uns das schon heute. Und zwar in aller Massivität und Aggressivität. Heute wird diese Plausibilitätsfrage einer ganzen Kultur um die Ohren gehauen.
Wie wird jetzt die Frage nach dem Sinn und der Plausibilität dieser Lebensorientierung beantwortet? Interessanterweise folgen in diesen Versen keine philosophischen Erwägungen, keine ethischen Fundamentalüberlegungen. Stattdessen folgt das Erzählen einer Geschichte.
So sollst du deinem Sohn sagen: „Wir waren Knechte des Pharao in Ägypten, und der Herr führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand. Der Herr tat große und furchtbare Zeichen und Wunder in Ägypten, am Pharao und an seinem ganzen Haus, vor unseren Augen. Er führte uns von dort weg, um uns hineinzubringen und uns das Land zu geben, wie er unseren Vätern geschworen hatte.“
Liebe Schwestern und Brüder, wir haben Gott nicht unser Herz gegeben, weil Gott eine gute Idee ist, die uns in einem genialen Gedankenblitz aufgegangen wäre. Wir haben Gott nicht unser Herz gegeben, weil er uns ein gutes Gefühl gegeben hat, das wir nicht mehr verlieren wollen. Oder weil er uns in einem ekstatischen Rausch überwältigt hat.
Wir haben ihm nicht unser Herz gegeben, weil er uns eine brauchbare Ethik gibt, mit der man halbwegs unfallfrei miteinander leben kann. Nein, wir haben Gott unser Herz gegeben, weil er mit dieser Welt und mit unserem Leben eine Geschichte in Gericht und Gnade begonnen hat, die von einem gewaltigen Liebeswillen geprägt ist. Deshalb – weil er uns mit einem gewaltigen Liebeswillen in seiner Geschichte begegnet ist bis auf diesen Tag – hat er unser Herz gewonnen. Deshalb haben wir ihm das Herz gegeben.
Es ist eine Geschichte der Befreiung, eine Geschichte des Nachhausekommens, in die uns dieser Gott hineingezogen hat. Das ist die Antwort auf die Plausibilitätsfrage. Da hat Gott eine Geschichte mit uns begonnen.
Als Christen werden wir diese Geschichte vielleicht nicht mit dem Pharao beginnen. Wir werden sie mit Jesus Christus beginnen, der uns befreit und nach Hause gebracht hat. Aber wir werden, genau wie die alten Israeliten, nicht aufhören, Geschichten zu erzählen: biblische Geschichten und persönliche Geschichten, Geschichten von verlorenen Söhnen, Geschichten von Zacchaeus, Matthäus und Bartimäus, Geschichten von Lazarus und Petrus, Geschichten vom Kreuz und der Auferstehung – und Geschichten aus unserem Leben, in denen sich all das immer wieder ereignet.
Christen vergewissern sich und andere, indem sie Geschichte und Geschichten erzählen, indem sie sich selbst mit ihrem ganzen Leben wiederfinden und andere einladen, in diese Geschichten einzutreten und sie zu ihrer eigenen Geschichte werden zu lassen.
Wir erleben in diesen Tagen einen gewaltigen biblischen Analphabetismus – auch in unserem eigenen Leben, seien wir doch mal ehrlich. Und alles Lehren und Lernen fängt ja damit an, dass wir lernen. Alles Lehren beginnt mit Lernen.
Es könnte ein Anfang bei uns sein, dass wir selbst wieder von der Liebesgeschichte Gottes angesteckt werden, uns anstecken lassen. Dass wir uns diese Liebesgeschichte und diese Liebesgeschichten Gottes selbst zusprechen und vorlesen, selbst gewiss werden und dann Gewissheit weitergeben können an die jungen Menschen, die Gott uns schenkt.
Denn nur Echtes bewirkt Echtes, und nur, was von Herzen kommt, wird zu Herzen gehen.
Schlussgebet und Segenswunsch
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Ich möchte nun mit uns beten.
Herr Jesus Christus, Du hast unser Herz gewonnen, weil Du Deine Hand auf unser Leben gelegt hast und uns hineingezogen hast in Deine große Liebesgeschichte. Unser Herz ist erfüllt von dem, was Du heute Morgen in dieser Halle tust: Dass Du uns zusammengeführt hast und uns die eine große Aufgabe vereint hast.
Wir wollen Dich nun bitten, dass wir von Dir die Kraft und den Segen erhalten. Gib uns den Mut, aus unserem Herzen in die Herzen junger Menschen zu sprechen, Herzen zu bilden und Leben weiterzugeben. Dabei wollen wir deutlich machen, nicht was man viel wissen muss, sondern was man richtig wissen muss.
Wir bitten Dich, dass wir nicht verzagen angesichts der vielen Herausforderungen unseres Alltags. Gib uns den Mut, wieder ganz neu und mit großer Dankbarkeit an die Aufgabe heranzugehen, in die Du uns gestellt hast.
Wir wollen Dich für unsere Schülerinnen und Schüler bitten. Du siehst ihre große Orientierungslosigkeit, ihre Verunsicherung und Ungewissheit, Du siehst ihre Sehnsucht. Nun bitten wir Dich, dass wir die Worte finden, um Antworten auf diese Sehnsüchte zu geben.
Wir bitten Dich, dass Du durch uns unsere Schulen segnest und dass durch unsere Schulen unser Land gesegnet wird. Wir bitten Dich um Dein Erbarmen. In Deinem Namen, Amen.