Der Freund

Konrad Eißler

Wenn unsere Vorräte aufgezehrt sind, unsere Möglichkeiten erschöpft, müssen wir Fehlanzeige erstatten: “Ich habe nichts.” Aber das Gleichnis vom bittenden Freund lehrt: Beten macht Sinn, auch und gerade dann, wenn wir nichts haben. Denn unser Freund hat alles, unser Freund hört alles und unser Freund gibt alles. - Predigt zum Sonntag Rogate aus der Stiftskirche Stuttgart


Ich habe nichts. Das war die peinliche Entdeckung jenes Mannes, von dem diese Bildgeschichte erzählt, diese Werktagsgeschichte, diese richtige Alltagsgeschichte. Zu Beginn des Tages hätte er frisches Brot servieren können. Die Hausfrau stand nämlich vor Sonnenaufgang auf und blies beim ersten Hahnenschrei das Feuer an. Dann wurde das Korn gemahlen, der Teig geknetet, die Fladen ge­formt, handtellergroß und fingerdick. Nicht zu viel, nur drei Stück pro Person, weil Fladenbrot über Nacht trocken und muffig wird. Frisch gebacken schmeckt es vorzüglich und unser Mann ließ es sich auch schmecken, zum Frühstück und zum Hirsebrei am Mittag. Abends wurde bei einem Krüglein Ziegenmilch das letzte Stück verzehrt. Gut war’s, prima, danket dem Herrn, denn er ist freundlich. Dann schob er den Balken vor die Tür, legte noch etwas Holz nach, entrollte seine Matte auf dem Boden und ging müde schlafen. Und dann stand noch ein später Gast vor der Tür, nichts Ungewöhnliches in einem Land, wo man wegen der Tageshitze gern in der Abendkühle marschiert. Selbstredend wird er hereingebeten, denn Gastfreundschaft ist heilige Pflicht. Ein Tisch ist da, wo er sich setzen kann. Ein Stuhl ist da, wo er sich ausruhen kann. Eine Wasserschale ist da, wo er sich die Füße waschen kann, aber kein Stückchen Brot mehr. Der Gastgeber mag noch einmal gesucht haben, am Ofen, beim Geschirr, im Vorratskrug, irgendwo muss doch noch ein Rest liegen, aber ver­gebens. Er findet nichts, was seinen Gast sattmacht. Er entdeckt nichts, was sein Gast nötig hat. Er hat nichts, was sein Gast braucht: “Ich habe nichts!”, muss er enttäuscht feststellen.

Nun sind bei uns die späten Wanderer selten geworden, aber jene peinliche Entdeckung macht uns auf viel tiefgründigere Weise zu schaffen. Andere stehen vor der Tür, vielleicht der eigene Sohn, nichts Ungewöhnliches in einer Zeit, wo Zwanzigjährige die Koffer packen und zur Freundin ziehen. Selbstredend wird er hereingebeten, denn Vaterschaft ist heilige Pflicht. Ein Zimmer ist da, wo er sich wohlfühlen kann. Ein Bett ist da, wo er sich ausschlafen kann. Ein Balkon ist da, wo er sich erholen kann, aber kein Stückchen Liebe mehr. Der Vater mag noch einmal gesucht haben, im Gedächtnis, im Gefühl, im Herzen, irgendwo muss doch noch ein Rest liegen, aber vergebens. Er findet nichts, was seinen Sohn sattmacht. Er entdeckt nichts, was sein Sohn nötig hat. Er hat nichts, was sein Sohn braucht. Und die Tochter bräuchte Verstehen, und die Mutter bräuchte Geduld, und der Kollege bräuchte Zuspruch und der Kranke bräuchte Hoffnung. Aber enttäuscht muss er feststellen: “Ich habe nichts.”

So ist es doch. Unsere Vorräte sind aufgezehrt. Unsere Möglichkeiten sind erschöpft. Unsere Schubladen sind leer. Wir sind ausgebrannt. Wir sind abgebrannt. Wir sind leergebrannt. Angesichts des Hungers und der Not um uns herum müssen wir Fehlanzeige erstatten: “Ich habe nichts.”

Damit ist aber diese Bildgeschichte nicht beendet, sondern fängt erst richtig an. Der späte Wanderer wird nicht mit ein paar entschuldigenden Worten abgespeist. Der nächtliche Besucher wird nicht mit langem Magen unter die kurze Decke gelegt. Hunger ist kein kaltes, ehernes, unabwendbares Schicksal. Der Hausherr, der sagen musste: “Ich habe nichts!” sagt nun:

1. Er hat alles

Das ist das Erste. Seine Fächer sind nicht leer. Seine Körbe sind randvoll. Seine Krüge laufen über. Bei ihm gibt es keinen Mangel. Bei ihm gibt es keine Leere. Bei ihm ist die Fülle. Er hat einfach alles. Er, aber wer? Denkt der Mann an einen fernen Schlossherren, der hinter seinen Mauern abgeschieden lebt und sich keinen Deut um die kleinen Leute kümmert? Oder denkt er an einen reichen Gutsherren, der sein Schäflein im Trockenen hat und nun von oben herab sein Gesinde behandelt? Oder denkt er an einen stolzen Stadtherren, der in die Vollen greift und kein Gespür für die Armut hat? Nichts von alledem. Der Mann denkt nur bis zur nächsten Haustür. Gleich nebenan ist er eingezogen. In dieser ärmlichen Bude hat er Wohnung genommen. Er war sich für solches Armenviertel nicht zu schade. Mitbürger ist er geworden, sogar Nachbar, ein richtiger Freund. Unser Mann ist mit ihm per du. Nur so über die Straße weg kann er mit reden und sprechen. Er lebt mit dem, der alles hat, in guter Nachbarschaft.

Warum denken wir bei Gott, der von allem die Fülle hat, immer wieder an einen fernen Himmelsherrn, der über den Wolken abgeschieden lebt und sich keinen Deut um uns kleinen Leute kümmert? “Ihr wandelt droben im Licht auf weichem Boden, selige Genien”, klagt Hölderlin in seinem Schicksalslied. Warum denken wir bei Gott, der von allem keinen Mangel hat, immer wieder an einen reichen Landherrn, der alles im Trockenen hat und nur von oben herab seine Dienerschaft behandelt? “Wir haben vergebens gehofft und geharrt. Er hat uns geäfft und gefoppt und genarrt, wir weben, wir weben”, lässt Heine die schlesischen Weber aufschreien. Warum denken wir bei Gott, dem es an nichts mangelt, immer wieder an einen Weltenherrn, der - selber reich -, für solche Armen keine Ader hat? “Du musst dir alles geben, Götter geben dir nichts” stellt Gottfried Benn bitter fest. Spätestens seit dem Jahr 0 müssen wir aber nur bis zur nächsten Haustür denken. Gleich nebenan ist er eingezogen. In einem erbärmlichen Stall hat er Wohnung genommen. Er war sich für solche Armen- und Elendsviertel nicht zu schade. Mitbürger ist er geworden, obwohl sie ihm von Anfang an die Bürgerschaft streitig machten. Nachbar ist er geworden, obwohl sie ihm die Hölle heiß machten. Sogar unser Freund ist er geworden. Die Herablassung Gottes in Jesus ist un­glaublich, aber wahr. Deshalb gibt es Leute, die mit ihm auf du und du sind. Sie reden nicht nach der Etikette, sondern so, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist und wie es ihnen ums Herz ist. Deshalb gibt es Leute, die nur einen Steinwurf weit von ihm ent­fernt wohnen. Die Distanz zwischen Himmel und Erde ist für sie auf eine Straßenbreite geschrumpft. Deshalb gibt es Leute, die leben mit Jesus in guter Nachbarschaft. Das ist keine exklusive Gesellschaft oder superfromme Gemeinschaft. Jeder kann dort leben und ist heute dazu eingeladen, wenn er angesichts unserer Leere und seiner Fülle sagt: “Ich habe nichts, aber er hat alles.” Und …

2. Er hört alles

Das ist das Zweite, was unser Hausherr vom guten Nachbarn weiß. Der hat ja nicht nur seine Fächer und Körbe und Krüge voller Sachen, sondern seine Stube voller Kinder. Da wimmelt und wuselt es nur so von putzmunteren Lausbuben und zopfmaschigen Puppenmüttern. Dieser Freund von nebenan ist kinderreich und kinderlieb. Kein Wunder, dass er so viel um die Ohren hat, zumal sich in einer damaligen Fellachenwohnung das ganze Leben in einem einzigen Raum abspielte. Das Wohnzimmer war zugleich Schlafzimmer, Küche und Stall. Eine Wohnwaschküche mit Tierzuchthaltung, hat einer formuliert. So hört der Mann morgens das Meckern der Ziegen und das Blöken der Schafe, mittags das Schreien der Buben und das Singen der Mädchen, abends das Weinen und Heulen der Kinder, wenn sie ins Bett sollen. Sicher gibt es hier noch zu wehren und dort noch zu trösten und in jener Ecke noch ein Machtwort zu sprechen. Dann aber wird es still und der Vater kann sich ermattet aufs Ohr legen. Nichts kann und darf ihn mehr stören, denn wer tags so viel zu hören bekommt, darf nachts alles überhören. Das weiß unser leergebrannter Hausherr und trotzdem geht er um Mitternacht hinüber und klopft an die Tür und bittet durch die Türritze hindurch um drei Fladen Brot. Da mag der geplagte Vater von seinem Lager hochfahren und hinausflüstern: “Hör auf, du weckst meine ganze Mannschaft. Ich kann dir nichts langen. Der Kleinste liegt auf dem Brotfach. Morgen früh wieder. Gute Nacht.” Der Bittsteller bleibt bei seiner Bitte, einfach deshalb, weil er weiß: Der hört, der hört es, der hört alles, so wie Gott auch.

Immer wieder stellen wir uns diesen Allmächtigen wie einen gestrengen Hausvater vor, der nicht nur die Stube, sondern die Welt voller Kinder besitzt. “Wie köstlich ist deine Güte, Gott, dass Menschenkinder unter dem Schatten deiner Flügel Zuflucht haben”, weiß der Psalmist. Deshalb, und so folgern wir, hat er so viel Wichtigkeiten und Schwierigkeiten und Hässlich­keiten um die Ohren, dass er unseren Kleinigkeiten nicht auch noch das Ohr leihen kann. Aber er sagt: “Bittet, so wird euch gegeben, suchet, klopfet!” Gewiss gehört auch Lob und Dank und Anbetung in das richtige Beten hinein, aber eben auch die Bitte. Dieser nächtliche Klopfer schämt sich seines Mangels nicht, sondern wird geradezu zum unverschämten Bettler mitten in der Nacht: “Herr, gib mir Brot für meinen Gast!” Ohne Sprechstunde und ohne Besuchszeit, einfach rund um die Uhr ist dieser gute Nachbar hörbereit. Und wenn dieser Hausherr wegen einem Handvesper solchen Umstand machte, dann gibt es doch nichts mehr, was ich meinem Gott nicht vortragen könnte: “Herr, gib mir Liebe für meinen Sohn! Herr, gib mir Verstehen für meine Tochter! Herr, gib mir Geduld für meine Mutter! Herr, gib mir Zuspruch für meinen Kollegen. Herr, gib mir Hoffnung für meinen Kranken!” Unser Klopfen ist nicht umsonst. Unser schmerzliches Rufen verhallt nicht. Unser verwegenes Bitten ist nicht in den Wind gesprochen. Auch wenn immer wieder Neunmalkluge ihre Stimme erheben: “Doch, wie es scheint, ist seine Heiligkeit auch für das frömmste Lämmlein nicht zu sprechen. Herr Zebaoth spaziert im Wolkenhain und schert sich einen Blitz, wie ich es finde.” Diese Verse einer Zeitgenossin werden vom Vers des Psalmisten Lügen gestraft: “Da dieser Elende rief, hörte der Herr”. Doch, er hört alles und …

3. Er gibt alles

Das ist das Dritte. Der gute Nachbar steht wirklich auf. Ohne Rücksicht auf die schlafenden Kinder macht er Licht. Beim Brotholen ist eine Ruhestörung nicht mehr zu vermeiden. Und spätestens, wenn der Türbalken aus den Ringen gezogen wird, ist auch der Letzte wach. Aber das soll diesen Bittgänger nicht belasten, was seine Bitte den nachbarlichen Freund kostet. Er be­kommt sein Brot. Er hat keine Fehlbitte getan. Dankbar eilt er nach Hause. “Bittet, so wird euch gegeben, suchet, so werdet ihr finden, klopfet an, so wird euch aufgetan.” Wer um Brot bittet, bekommt bei ihm keinen Stein. Wer einen Fisch sucht, findet bei ihm keine Schlange. Wer wegen eines Eis anklopft, erhält von ihm keinen Skorpion. “Alles, was ihr bittet im Gebet, wenn ihr glaubt, so werdet’s ihr empfangen” unterstreicht Jesus. Aber wenn wir auch die andere Erfahrung machen, dass sich unser Bitten nicht so buch­stäblich erfüllt, dass der Graben zwischen mir und dem Sohn bleibt, dass die Disharmonie zwischen mir und der Tochter weiterschwingt, dass die Langzeitkrankheit jede Hoffnung auf Heilung endgültig zu­nichte gemacht hat, ja, wenn wir statt Freude Leid, statt Lust Last, statt Liebe Hass erfahren, was ist dann mit unserem Beten?

Liebe Freunde, dann mag es schwer sein, ein Ja zu sagen. Da mag es schwierig sein, einen guten Nachbarn und Freund zu glauben. Dann mag es mühsam sein, das Vertrauen zu dem, der alles geben will, nicht zu verlieren. Trotzdem gilt, und allen Zweiflern und Verzweifelten sei es besonders gesagt, was Luther so sagte “Wenn nicht geschehen wird, was wir wollen, so wird geschehen, was besser für uns ist.” Und das Beste, was er zu vergeben hat, ist der Heilige Geist, seine Gegenwart, seine unzerstörbare Gemeinschaft mit ihm, die Anzahlung auf ein ewiges Leben, nicht mehr in guter Nachbar­schaft, sondern in ewiger Gemeinschaft. Wer ihn hat, ist still und satt. Beten macht Sinn, auch und gerade dann, wenn wir nichts haben. Denn er hat alles, er hört alles und er gibt alles. Hören Sie: alles!

Amen

[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]