Ja, wer ist denn dieser Jesus? Ist er ein Doktor Eisenbart, der seine Leute auf seine eigene Art kuriert? Oder ist er ein Dompteur, der die Geister tanzen lässt? Oder ist er ein Guru, der die magischen Kräfte im Griff hat? Wer ist dieser Jesus wirklich?
Ein Maler bekam den Auftrag, ein Bild von Jesus zu malen. Stolz über diesen Auftrag ging er in sein Atelier, stellte sich vor die Staffelei und begann zu pinseln. Doch das Ergebnis befriedigte ihn nicht. Ein Entwurf nach dem anderen landete im Papierkorb.
Eines Abends arbeitete er wie besessen bis tief in die Nacht hinein. Dann war das Jesusbild endlich fertig. Völlig erschöpft legte er sich ins Bett. Er konnte kaum schlafen. Als er am nächsten Morgen aufstand, eilte er sofort in sein Atelier, schaute auf sein Bild – und dann das große Erschrecken: Er hatte diesem Jesus sein eigenes Angesicht gegeben.
Menschen zu allen Seiten haben diesem Jesus ihr eigenes Angesicht gegeben.
Die vielfältigen Gesichter Jesu
Im sechsten Jahrhundert malten sie ihn in der Pose des lehrenden Weisen, also Jesus als Lehrer. Die Byzantiner setzten ihn auf einen Thron – Jesus als Herrscher. Die Germanen zogen ihm das Lendentuch aus und legten ihm einen Purpurmantel um – Jesus als König.
Im Mittelalter war er der geschlagene und geschundene Mensch, Jesus als Opfer. Im neunzehnten Jahrhundert marschierte er durch deutsche Wälder und Felder, der Feldwaldwiesen-Christus mit Klosterfrau Melissengeist.
Heute sieht man Jesus mit Jeans, Dreitagebart und den Gesichtszügen eines Che Guevara – Jesus als Revolutionär. Oder Jesus in der schwarzen Robe des Rechtsanwalts, der sich nur für Bedrückte und Unterdrückte einsetzt – Jesus als Advokat.
Wieder andere stecken ihn in den weißen Mantel des Arztes, der die Drogenszene abschreitet und dort den Gefallenen die Hand reicht – Jesus als Arzt ohne Grenzen. Und wieder andere stellen ihn auf die Bühne, mit Glitzeranzug, gebleichten Ohren, Zunge und Lippen – Jesus Christus Superstar!
Jesus soll so aussehen, wie wir aussehen! Jesus soll das sagen, was wir auch sagen können! Jesus soll so denken, wie wir denken – Jesus am laufenden Meter!
Und die, die das durchschauen, sagen: „Jesus, das ist doch kalter Kaffee.“ Aber wer ist er denn? Was hilft er denn? Wozu brauchen wir ihn denn?
Verlust und Verlorenheit im Leben
Erlauben Sie mir einen längeren Gedankenweg, und ich bitte Sie, mir heute Abend auf diesem Weg zu folgen. Wissen Sie, man kann sein Geld verlieren.
Vor einiger Zeit wurde bei mir eingebrochen. Das ganze Geld war weg. Ich rief die Polizei an, aber sie kam nicht. Ich rief erneut an, doch sie kam wieder nicht. Beim dritten Anruf kamen schließlich zwei Beamte. „Ach, wir haben Wichtigeres zu tun als Ihre Papiben“, war der einzige Trost.
Sie sagte, mein Geld ist weg, und dann sagten Sie: „Ach, verstecken Sie Ihr Geld besser.“ Wissen Sie, übrigens, ich habe es gemacht. Und wenn Sie es nicht weitererzählen, sage ich Ihnen auch, wo ich es versteckt habe. Ich habe jetzt mein Geld im Kühlschrank.
Nur habe ich jetzt die große Angst, dass, wenn die Ganoven wiederkommen und dann nach dem Einbruch auch noch vespern, nicht nur mein Geld, sondern auch meine Wurst weg ist.
Man kann sein Geld verlieren – oder man kann den Faden verlieren.
Eine Angst, die mich begleitet, seit ich Pfarrer bin, ist die, dass plötzlich der Faden reißt. Zum Beispiel bei einer Predigt am Sonntagmorgen stehe ich auf der Kanzel und sage: „Liebe Gemeinde, heute Morgen...“ Aber dann ist der Faden ab. Ich fange noch einmal an: „Liebe Gemeinde, heute Morgen ist Sonntag...“ Aber der Faden ist ab.
Die ersten Leute verschwinden schon hinterm Gesangbuch, lächelnd. Ich nehme noch einmal all meine Kraft zusammen und beginne: „Liebe Gemeinde, heute Morgen ist Sonntag und ich freue mich.“ Amen, die Kirche ist aus.
Man kann den Faden verlieren, man kann den Takt verlieren. Fragen Sie mich nicht, als Posaunenbläser, wie oft ich im Ulmer Münster beim Bachchoral überhaupt kein Problem hatte. Aber bei Stücken von Kirchenmusik, die direkt aus der Schweiz nach Pforzheim kamen, da lag ich links draußen.
Liebe Freunde, man kann auch sein Herz verlieren.
Ich denke an diesen Abiturienten. Mit Mädchen hatte er überhaupt nichts am Hut, die waren ihm fern, also vor Kattepittel. Aber eines Tages hat er sie getroffen. Ich weiß nicht, wie sie hieß, vielleicht Eulalia oder so.
Auf jeden Fall: Wenn er an sie dachte, war die Logik weg. Wenn er mit ihr telefonierte, waren die Zeiteinheiten weg. Wenn er mit ihr ausging, war das Geld weg. Und wenn er sie an die Hand nahm, dann war die Vernunft weg. Und dann war das Herz weg – er war einfach ganz weg.
Man kann sein Herz verlieren. Es gibt nichts, was man nicht verlieren könnte: eine Brille, seinen Hausschlüssel, seinen Schirm. Schirme sind überhaupt nur erfunden, damit man sie stehen lässt und verliert.
Es gibt nichts, was man nicht verlieren könnte. Aber haben Sie gewusst, dass man sich selbst verlieren kann? Haben Sie gewusst, dass man selbst abhandenkommen kann? Haben Sie gewusst, dass man selbst ein Verlorener ist?
Verlorenheit als Zustand des Menschen
Ich höre die ersten Proteste – Entschuldigung, Verlorene. Sie sitzen in Bruchsal oder in Stammheim. Verloren sind sie im Rotlichtmilieu in Stuttgart oder Karlsruhe oder gar hier. Aber doch nicht bei so einer ehrwürdigen Versammlung hier im Zelt 99.
Verloren heißt, nicht mehr dort zu sein, wo man hingehört. Bei uns zu Hause hatten wir einen Briefkastenschlüssel, und der hatte seinen Platz an einem Nagel an der Wand. Dort hing er.
Aber nun liefen auch Kinder im Haus herum. Sie spielten nicht nur mit Lego und Bleimüll, sondern auch mit dem Briefkastenschlüssel. Wenn der Vater abends nach Hause kam, war der Schlüssel irgendwo im Spielfach oder im Mülleimer, aber nicht mehr an seinem Platz an der Wand. Er war verloren gegangen.
Sehen Sie, das ist unser Platz – bei Gott. Dort gehören wir hin, dort hängen wir, nein, dort sollten wir hängen. Und auf einmal hängen wir wo ganz anders: Wir hängen am Alkohol, wir hängen an den Drogen, wir hängen unsere Probleme und Sorgen an uns. Wir hängen durch, wir hängen herum, wir hängen ab. Im Spiel der Welt sind wir verloren gegangen.
Verstehen Sie, das meint das Wort Sünde.
Die Bedeutung von Sünde und Schuld
Sünde – meint ihr wirklich, wenn ich mit hundertfünfzig durch die rote Ampel fahre, dann bin ich Verkehrssünder, aber nicht Sünder im Sinne der Bibel? Sünder bin ich doch nicht, wenn ich statt fünfhundertfünftausend Kalorien zum Frühstück esse. Dann bin ich Kaloriensünder, aber nicht Sünder im biblischen Sinn.
Im Wort „Sünde“ steckt das althochdeutsche Wort „Sund“. Der Sund ist ein Meeresgraben, der zwei ursprünglich zusammengehörende Erdteile trennt. So trennt zum Beispiel der Große Sund das südliche Skandinavien von Dänemark und der deutschen Ostseeküste.
Die Sünde, der Sund, trennt ebenfalls zwei, die zusammengehören: Gott und Mensch. Sünde trennt, Sünde sondert ab, Sünde kappt die Verbindung. Eigentlich sollten wir in guter Nachbarschaft mit Gott leben. Und jetzt? Jetzt leben wir in der Kraterlandschaft, wie Mitscherlich sagte. Wir leben in der Kraterlandschaft – nicht mehr in der Nachbarschaft, sondern fern von ihm.
Und das hat Folgen. Wer in der Arktis lebt, hat es mit der Kälte zu tun. Wer in den Tropen lebt, hat es mit der Feuchtigkeit zu tun. Wer in der Wüste lebt, hat es mit der Hitze zu tun. Wer in der Kraterlandschaft lebt, hat es automatisch mit der Schuld zu tun. Wir alle haben es mit der Schuld zu tun.
Darf ich drei Beispiele nennen? Zum Beispiel: Ist Hunger schuld oder nicht? Wir haben die Sechs-Milliarden-Grenze bei der Weltbevölkerung überschritten, und viele hungern. Doch niemand hat den Finnen Virtanen widerlegt, den Erfinder des Grünfuttersilos. Er sagte: Wenn wir erst einmal aufhören, Geld nur in der Luft zu verschießen oder gar Kriege vom Zaun zu brechen, wenn wir anfangen, das Grün der Meere auszubeuten, dann würden wir staunen, welche Vorräte diese Erde noch in sich hat.
Liebe Freunde, solange wir Lebensmittel denaturieren und im Euroland Geld auf der hohen Kante haben, um Lebensmittel für den Genuss unbrauchbar zu machen, solange ist doch Hunger schuld, oder nicht? Hunger ist schuld.
Und zweitens: Heimatlosigkeit ist schuld. Ich vergesse ihn nicht. In der vierten Reihe saß er in der Stadtmission in Windhoek, Namibia – ein dunkelbrauner Bursche. Wie er mir später erzählte, heißt er Amo. Er erzählte mir seine Lebensgeschichte:
Mit vier Jahren spielte er mit seinen Kameraden im Dschungel. Seine Eltern waren Untergrundkämpfer der Swapo, die gegen die südafrikanischen Besatzer kämpften. Eines Tages wurde er mit anderen Spielkameraden einfach in ein Auto gesetzt, zu einem Flugzeug gebracht und in die damalige DDR geflogen. Dort lebte er in einem Internat bei Magdeburg, um als zukünftiger Swapo-Untergrundkämpfer und Funktionär ausgebildet zu werden.
Über zehn Jahre lernte er die deutsche Sprache und deutsche Sitten, verlernte aber seine Ovambo-Sprache und Ovambo-Sitten. Dann kam der Mauerfall. Danach wurde er wieder in ein Flugzeug gesetzt und nach dem neugegründeten Namibia geflogen. Doch die Swapo-Regierung wollte nichts von diesen deutschsprachigen Farbigen wissen – sie sollten zurück.
So kamen sie wieder ins Flugzeug und zurück in die Bundesrepublik. Einen Pass bekamen sie hier nicht. Amo hat bis heute keinen Pass. Viele Menschen in der Welt leiden unter Heimatlosigkeit. Heimatlosigkeit ist doch schuld, oder nicht?
Drittens: Baumsterben ist schuld. Es ist doch kein Pilz vom Himmel gefallen. Der Forstmeister von Langensteinbach führte mich durch die herrlichen Wälder in ihrer Umgebung und zeigte mir die Schäden im Schwarzwald. Wir wissen doch, dass das von unseren Schloten und Autos kommt. Baumsterben ist schuld, schuld an allem.
Und nun höre ich, wenn jemand sagt: „Entschuldigung, ich habe noch kein Stück Brot weggeworfen, ich habe auch niemandem den Pass verweigert, und mein Auto hat einen Katalysator.“ Entschuldigung.
Wenn Sie so denken, denken Sie bitte mit mir an jene kleine Geschichte, die sich in Jerusalem im Tempel zutrug: Menschen strömen zusammen, und auf einmal bildet sich ein Kreis. Einige spielen sich als Staatsanwälte auf – die Schriftgelehrten und Pharisäer. Ein Richter ist auch da, Jesus wird in diese Rolle gedrängt. Vor ihm steht eine gebückte, arme Frau.
Die Ankläger sagen: „Zu Recht, hier gibt es gerade genug Beweise. Diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ertappt. Darauf steht doch die Todesstrafe, nicht wahr, Herr?“ Jesus schaut nieder, schreibt mit dem Finger in den Sand, schaut wieder auf und sagt in die Runde: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“
Dann schaut er wieder hinunter und schreibt weiter. In diese unglaubliche Stille hinein hört man Schritte, die leiser werden und weggehen. Als er aufschaut, sind alle weg. Diese „Kriminalstudenten“ hatten eine Altstadtkneipe aufgesucht, keiner hatte Sitzfleisch besessen. Keiner sah im Angesicht dieses Herrn seine Weste als fleckenlos an. Keiner sah sein Leben als schuldlos an. Keiner tat Gutes – auch nicht einer.
Die Herausforderung der Schuld und das Verstecken der Wahrheit
Ich frage heute Abend in diesem Zelt: Ist jemand hier hereingekommen, der sagen könnte: „Ich, Herr Eisler, ich wäre der erste Stein“?
Ist jemand hier, der sagen könnte: „Meine Weste ist weiß und ohne Flecken“?
Ist jemand hier hereingekommen, der sagt: „In meinem Leben war alles recht und richtig“?
Ist jemand hier? Können Sie an alles denken, ohne rot zu werden? An wirklich alles?
Musil hat das Buch geschrieben: Der Mann ohne Eigenschaften. Eine Szene daraus ist mir unvergesslich. Zwei erwachsene Kinder, ein Sohn und eine Tochter, haben die traurige Aufgabe, nach dem Tod des Vaters einen Schreibtisch aufzuräumen. Es ist ein altes Möbelstück mit vielen Fächern und Schubladen.
Bei dieser Arbeit stoßen sie auf ein Geheimfach. Es gibt keinen Schlüssel, aber sie brechen es auf. Aus diesem Fach ergießt sich der ganze Schmutz eines Lebens: dreckige Bilder, Artikel – kurzum der Schmutz eines Lebens.
Und dann heißt es in dem Buch: Angesichts dieses Faches erstarb die Liebe zu ihrem Vater.
Nicht jeder hat seine Dinge im Schreibtisch versteckt. Es gibt genug Fächer, in denen wir unsere Dinge verbergen können – im Herzen und im Gewissen.
Was wäre, wenn all das, was ich weiß, meine Frau wüsste? Wenn das meine Freundin wüsste? Wenn das meine Kinder wüssten?
Liebe Freunde, um dieses Fach geht es! Um dieses Fach geht es!
Wir leben in einer Kraterlandschaft. Wir können den Höhenweg, den Randweg oder den Talweg gehen – wir kommen von dieser Kraterlandschaft, von diesem furchtbaren Eiland, nicht weg.
Schuld ist an allem Schuld. Deshalb haben sich die klügsten Köpfe die Gedanken wundgerieben: Wie kommen wir denn über den Sund?
Das ist die Hauptfrage: Wie kommen wir denn über den Sund?
Die Suche nach Brücken über die Trennung
Wenn Sie eine Möglichkeit sehen, dann können Sie gehen. Ich sehe keine andere. Lassen Sie mich jedoch zuerst sagen: Einige meinen, die Möglichkeit liege im Brückenschlag nach Westen.
Alles Gute komme vom Westen, nicht nur heute, sondern schon nach dem Krieg. Von Amerika kam zu uns der Glaube an den Fortschritt, den wir übrigens im letzten Jahrhundert exportiert hatten. Ich glaube an den Menschen, ich glaube an den Heiligen Geist, der Fortschritt hat, sagte Ludwig Feuerbach in seinem Buckberger Glaubensbekenntnis. Auch Heinrich Heine meinte: Wir wollen hier auf Erden schon das Himmelreich errichten, Zuckererbsen für jedermann, bis die Schoten platzen. Den Himmel überlassen wir den Engeln und den Spatzen. Wir schaffen das schon selbst, wir backen das schon selbst. Mit solchen Schuldgefühlen sind wir längst fertig.
Dann hörten wir von Professor Bedford aus Phoenix in Arizona, der sich nach seinem Tod in eine Eistruhe bei minus 139 Grad einfrieren ließ, um später wieder auferweckt zu werden, wenn die Medizin weiter fortgeschritten ist. Als ob man mit Gefrierfleisch den Tod überlisten könnte – so dumm, und dann noch Doktor. Wir merken: Remarque hat es schon im Ersten Weltkrieg richtig erkannt – im Westen nichts Neues, im Westen nichts Neues. Der Brückenschlag nach Westen ist ein Fehlschlag.
Vielleicht ist es der andere Weg – der Brückenschlag nach Osten. Alles Gute komme vom Osten. Wohl erinnere ich mich daran, wie dieser junge Guru Maharaji, ein fettleibiger junger Mann, eine Meditation verkündete, die sein Vater in Indien erfunden hatte und die allen Seelenfrieden bringen sollte. Viele, viele lagen ihm zu Füßen.
Dann kam Maharashi, Mahesh Yogi, der Mann mit der roten Rose, der auch von unserer Landesregierung empfangen wurde. Er verkündete die Transzendentale Meditation, TM. Nicht weit von meiner Wohnung in Stuttgart ist heute noch das Zentrum. Er versprach all denen Befreiung von Schuldgefühlen, einfach den inneren Frieden, denen, die eine einzige Mantrasilbe dauernd wiederholen.
Die Dritten gingen zu Bhagwan nach Pune in Indien. Weil dort die Polizei hinter ihm her war, ging er nach Oregon in die USA, und alles wanderte in die USA ab. Heute ist er tot, doch wieder laufen junge Leute nach Pune, um seinen Lehren zu folgen.
Wieder andere entdecken Konfuzius, obwohl er 600 Jahre vor Christus lebte. Seine Erkenntnisse könnten vielleicht die Pflastersteine eines Weges sein, der aus dieser Schuldkraterlandschaft herausführt. Wieder andere üben Versenkung nach Laozi, und wieder andere buchstabieren den achtfachen Pfad des Buddha in seiner berühmten Predigt von Benares. Ein Weg, der im immer edleren Mutterschoß wiederkehrt, bis er endlich im Nirwana endet.
Wieder andere konvertieren sogar vom Kreuz zum Halbmond, weil dieser uns mehr zu sagen hätte zu diesem Problem.
Entschuldigen Sie, ich betreibe hier keine Weltreligionsbeschimpfung, bitte nicht, ganz bestimmt nicht – sogar im Gegenteil.
Die Grenzen menschlicher Lösungen und die Notwendigkeit göttlicher Hilfe
Für mich unvergessen ist diese Szene auf dem Flughafen in Khartum. Ich wollte dort beim Umsteigen eine Cola kaufen, hatte aber keine Piaster, sondern nur D-Mark. Deshalb suchte ich in diesem kleineren Flughafen eine Bank und fand sie auch. Über einem Schalter stand in goldenen Lettern „Bank of England“, also Bank von England, Tag und Nacht geöffnet. Doch der Schalter war dicht.
Ich las noch einmal „Tag und Nacht geöffnet“, so weit reichte mein Englisch, aber die Bank war zu. Vier wunderbare Scheichs standen schon in einer Reihe davor. Ich stellte mich als Fünfter dahinter und wartete ungefähr vier, fünf Minuten. Dann stieß ich den Wartenden an und sagte: „Excuse“. Er drehte sich um, musterte mich und fragte: „You come from Europe?“ – „Sie kommen von Europa?“. Ich antwortete: „Ja.“
Nervöse Leute, nervöse Leute, nervöse Leute, sagte er, „wait a minute“, warten Sie eine Minute. Es wurden weitere fünf Minuten. Dann sah ich durch die Gitter des Schalters hindurch. Neben seinem Schreibtisch lag dieser kaffeebraune Sudanese auf einem Gebetsteppich, ausgerichtet Richtung Osten.
Dann stand er auf, rollte seinen Teppich zusammen, verstaute ihn im Schrank, kam an den Schalter, schob ihn hoch und sagte mit freundlichstem Gesicht: „The next please“ – der Nächste bitte. Ich dachte: Die Bank von England muss dichtmachen, wenn der mit seinem Gott redet, und wir haben keine drei Minuten am Morgen Zeit, um mit unserem Gott zu reden. Keine drei Minuten, um mit unserem Gott zu reden. Nein, von oben bis unten können wir auf diese Leute nicht herabschauen.
Nur eine Frage: Was sagen Sie denn zum Problem meiner Schuld? Was sagen Sie zum Problem meiner Kraterlandschaft? Wenn hier nicht geholfen wird, dann ist doch alles kalter Kaffee. Man kann schwärmen für Mohammed, aber leben und sterben wie ein Mohammedaner. Man kann schwärmen für Buddha, aber leben und sterben wie ein Buddhist. Man kann schwärmen für Hindu, aber leben und sterben wie ein Hindu.
Liebe Freunde, jede Gegend ist schön, solange man nur Gast darin ist. Jede Religion ist faszinierend, solange man sie nur studiert. Wer aber weiß, dass sie zum eigentlichen Problem meines Lebens nichts zu sagen haben.
Deshalb ist auch dieser Brückenschlag nach Osten ein Fehlschlag (in Klammern). Im Jubeljahr Goethe – auch er wird Ihnen bei diesem Problem nicht helfen können. Bei seiner Begegnung mit der jungen Friederike Brion im Elsass bekam er nicht nur Schuldgefühle, sondern lud unendlich viel Schuld auf sich. Er versuchte, mit dieser Schuld fertigzuwerden, aber auch in seinem Hauptwerk „Faust“, in der Figur des Gretchen, gelang ihm die Bewältigung dieser Schuld nicht.
Wir leben in der Kraterlandschaft der Schuld, und Brückenschläge nach Osten und Westen helfen nicht. Wenn ich nicht um einen dritten Brückenschlag wüsste – es ist kein weiterer Brückenschlag nach Norden oder Süden –, sondern es ist der Brückenschlag Gottes zu uns, der Brückenschlag von außen.
Gottes Brückenschlag durch Jesus Christus
Gott ist kein ferner Weltendenker. Gott ist kein Abstraktum, kein „Es“. Im Römerbrief heißt es: „Aber, lieber Vater...“ Eine Verhandlung werde ich nie vergessen. Wie gesagt, ich bin im Amtsgericht groß geworden. Mein Vater, ein Richter, hatte viele Verhandlungen erlebt. Diese eine Verhandlung steht mir noch lebhaft vor Augen.
Es ging um ein junges Paar – eigentlich waren wir befreundet. Ein achtzehnjähriger junger Mann und ein sechzehnjähriges Mädchen hatten ein Kind bekommen. Dieses Kind wollte der junge Mann auf keinen Fall haben. Deshalb besuchte er eine Freundin. In einem unbewachten Moment ging er zum Bettchen des Kindes, riss das vier Wochen alte Baby heraus, presste es in seine Aktentasche und lief aus dem Haus hinaus, nicht hinunter über die Brücke, sondern dort versenkte er die Tasche in den Fluten.
Warum war diese Tat so entsetzlich? Warum erinnere ich mich heute noch daran? Warum ergriff sie damals die ganze Stadt? Ganz einfach deshalb, weil Kinder von ihren Eltern weglaufen können, weil junge Männer ihre Mädchen sitzen lassen können, weil Ehemänner ihre Ehefrauen oder umgekehrt sitzen lassen können – aber ein Vater kann nicht von seinem Kind lassen. Ein Vater kann nicht von seinem Kind lassen.
Gott ist Vater, und sie sind sein Kind – ob sie es wollen oder nicht, ob sie es glauben oder nicht, ob sie es abschreien oder nicht. Sie sind sein Kind, und er kommt nicht von ihnen los. Deshalb sandte er seinen Sohn, diesen Jesus, von dem wir gesprochen haben. Deshalb sandte er seinen Sohn als Leidensgenossen. Deshalb machte er ihn zum Sündenbock und setzte ihm die Dornenkrone auf – diesen Mann, der die ganze Schuld trug.
Weihnachten ist der Brückenschlag von der anderen Seite. Karfreitag ist das Brückenholz dieser Brücke, und Ostern das Brückengeländer für unsere zitternden Hände. Dort kam Jesus. Er kam zu den schweren Jungs und leichten Mädchen und stieß sie nicht noch tiefer in den Sumpf der Schuld, sondern sagte: „Gib deine Schuld her!“
Dann ging er zu den Tauben, Blinden und Lahmen – wir haben es gehört. Er riss ihnen die Binden von den Augen, nahm ihnen die Krückstöcke weg und machte sie zum Marschieren des Lebens.
Dieser Jesus ist heute unterwegs. Er geht heute Abend durch dieses Zelt, er geht durch alle Reihen. Er geht zu jedem und sagt: „Du, gib doch auch deine Schuld her, gib doch auch deine Vergangenheit her, gib das her, was dich bedrängt.“
Jesus ist der Einzige, der das sagen kann. Er hat Schuld auf sich geladen, sie wurde ihm sehr schwer. Er ist darunter zusammengebrochen, aber er hat sie nicht abgeladen. Er schleppt sie weiter bis zum Kreuz. Dort hing er dann zwischen Himmel und Erde und schrie: „Es ist bezahlt! Die Schuld ist bezahlt, und der Tod ist heimgezahlt!“
Jesus – nein, kein kalter Kaffee, sondern eine heiße Nachricht für unser Leben. Es gibt eine Brücke über den Sund. Sie hat einen Namen: Jesus.
Die Brücke der Liebe und Rettung
Soll ich es Ihnen noch in einer Kurzgeschichte erklären? Sie stammt von dem Meister der Kurzgeschichten, Werner Bergengrün.
Das Netz ist Bild in Sizilien. Dort war ein Fischer lange unterwegs, um seinen Unterhalt zu verdienen. Während seiner Abwesenheit geriet seine Frau in die Netze eines anderen Mannes. Diese verbrecherische Tat kam ans Licht, und nach dem sizilianischen Recht wurde sie zum Tode verurteilt.
Das Todesurteil wurde stets oben an der Klippe vollstreckt. Die Verurteilten wurden von dort in das Meer gestoßen. Es wird eindrucksvoll erzählt: Am frühen Morgen wurde die Frau zur Klippe geführt, noch vor Tagesanbruch. Oben stand sie am Rand, hinter ihr die Männer. Beim ersten Sonnenstrahl, der über den Horizont kam, wurde sie von hinten gestoßen. Sie fiel und fiel, doch sie fiel nur in die Netze ihres Mannes.
In der Nacht war der Fischer zurückgekehrt und hatte von der Tat gehört. Unter unsäglicher Mühe und Arbeit spannte er sein Netz über den Abgrund. Wegen seiner Tat musste sie nicht sterben. Wegen seiner Tat durfte sie leben.
Wir sind doch in die Netze eines Anderen geraten, der viele Masken trägt. Auch über unserem Leben steht die Todesstrafe. Nun ist er in der Nacht von Karfreitag, dieser Jesus, zurückgekehrt. Unter unsäglichen Mühen und Arbeit hat er Netze gespannt – Netze seiner Liebe.
Wenn wir ihn kennen, wenn wir ihm gehören, wenn wir jetzt fallen, fallen wir nicht ins Nichts. Gar nie, auch nicht in ihrer Depression, auch nicht am letzten Tag dieses Lebens. Dann fallen wir nicht ins Nichts, sondern nur in die Netze ihres Herrn.
Es mag ihr letzter Abend sein, sie mögen abgerufen werden, doch sie fallen nicht ins Nichts, wenn sie diesem Herrn gehören. Sie fallen in die Netze ihres Herrn.
Es gibt eine Brücke über den Sund. Sie hat einen Namen: Jesus.
Einladung zum Vertrauen auf Jesus
Darf ich es zum Schluss an einem Erlebnis verdeutlichen? Ich fuhr durch die südlichen Straßen der Vereinigten Staaten, und dort hat mich ein Pfarrer der lutherischen Kirche beherbergt. Dann sagte er: „Wenn Sie schon hier sind, muss ich Ihnen auch das Schönste und Wichtigste zeigen.“
Er lud mich in sein Auto, einen Caravan, und fuhr mit mir hinaus in die Steppe am Abend. Dort stieg ich aus, und er sagte: „Schauen Sie sich um.“ Es war eine Steppe mit abgebranntem Gras, ein paar Eisenstangen und noch zwei, drei Ketten. Ich fragte: „Entschuldigung, ist das sehenswert? Das können Sie bei mir auf der schwäbischen Alb an jeder Ecke sehen.“
Er antwortete: „Nein, Sie stehen hier auf dem letzten Sklavenmarkt der Vereinigten Staaten.“ Plötzlich stand dieses Bild vor mir: Hier waren die ärmsten Damen zusammengetrieben, in Afrika wie das Vieh über das Wasser gebracht und hier angeboten. Unter der sengenden Sonne des amerikanischen Südens wachten sie auf einen Käufer oder auf den Tod.
Ich dachte darüber nach, was wohl in solch einem Mann vorging, in solch einem Sklaven, wenn einer kam – einer, der ihn nicht nur gering schätzte, sondern stehen blieb. Was muss in diesem Mann vorgegangen sein, wenn plötzlich jemand den Lederbeutel zog und ein paar Dollarnoten herausblätterte?
Was muss in diesem Mann vorgegangen sein, wenn plötzlich die Handeisen und Fußketten weggeworfen wurden? Welche Freude muss über diesem Leben gelegen haben, welcher Jubel muss ausgebrochen sein, welche Herrlichkeit war plötzlich in diesem Leben, dass es neu lebenswert geworden ist?
Die Sklaven sind Sie und ich. Wir sind gebunden an den Kreislauf und gebunden tot. Wir sind gekettet an unsere Sorgen und Schulden. Auf uns wartet nur der Tod oder ein Käufer. Und dieser Jesus ist auf diese Erde gekommen. Er sagt nicht nur: Veränderte Verhältnisse, als ob sich an anderen Ketten und Stangen besser leben ließe. Er sagte nicht nur: Der Gedanke nimmt es nicht so ernst, sondern er verhandelte, er bezahlte.
Er bezahlte nicht nur mit ein paar Dollarnoten, er bezahlte mit seinem Leben, mit seinem Blut. Liebe Freunde, welche Freude müsste eigentlich über unserem Leben liegen, dass es durch diesen Herrn neu lebenswert werden kann? Welcher Jubel müsste in diesem Zelt aufbrechen, wenn wir begriffen, dass es tatsächlich ein sinnvolles Leben gibt?
Welche Herrlichkeit müsste sich in dieser Dunkelheit herabsenken, in unser Herz und in unsere Seele, dass wir jetzt einem Herrn gehören, der uns nicht fallen lässt? Es gibt eine Brücke über den Sund, sie hat einen Namen, und der heißt Jesus.
Ich weiß, alle Erklärungsversuche können dieses Geheimnis letztlich nicht erklären. Es gibt nur eine einzige Möglichkeit: nämlich die, seinen Fuß auf diese Brücke zu setzen und auszuprobieren, ob sie trägt. Darf ich Sie einladen, diese Brücke zu begehen?
