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Erdbebensicher

29.01.1994Jeremia 9,22-23
Immer wieder bebt die Erde. Leute klettern aus den Trümmern und stehen vor dem Nichts. Sie brauchen ein stabiles Wohnhaus in einer erdbebengefährdeten Stadt. Und wir brauchen ein stabiles Lebenshaus in einer erdbebengefährdeten Welt. Deshalb kommen wir nicht um diese drei grundlegenden Fragen herum: Wie und wo und was muss gebaut werden? - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart

Los Angeles ist eine große Stadt. Innerhalb von 100 Jahren ist sie auf sechs Millionen Einwohnern angewachsen. Heute ist sie die drittgrößte Stadt der Vereinigten Staaten. Los Angeles ist eine weite Stadt. Sie nimmt mit ihren unzähligen Einfamilienhäusern eine Fläche von über 1000 Quadratkilometern ein. Heute ist sie die weitläufigste Stadt der Vereinigten Staaten. Los Angeles ist eine schöne Stadt. Die Vorstädte wie Pasadena, Santa Monica oder Hollywood gehören zu den begehrtesten Wohnplätzen in ganz Kalifornien. Heute ist sie eine gesuchte Stadt in den Vereinigten Staaten. Los Angeles ist auch eine betriebsame, industriereiche, finanzkräftige Stadt, aber eben auch eine erdbebengefährdete Stadt. Immer wieder bebt die Erde. Immer wieder wackeln die Wände. Immer wieder stürzen Häuser und Brücken ein. Dann klettern Leute aus den Trümmern und stehen vor dem Nichts. Los Angeles ist erdbebengefährdet, San Francisco auch, Tokio auch, Lissabon auch, Skopje auch.

Ja, und so frage ich, gibt es überhaupt eine Stadt, in der ich sagen könnte: Hier bebt nichts. Gibt es überhaupt einen Ort, an dem ich feststellen könnte: Hier wackelt nichts? Gibt es überhaupt ein Fleckchen Erde, an dem ich erdbebensicher bin?

Denn leider gibt es nicht nur Erdstöße, die von einem Epizentrum ausgehen und zerstörerische Wirkung haben. Wir kennen Schicksalsstöße, die von einer Prüfung ausgehen. Trotz intensiver Vorbereitung hat es nicht geklappt und die Berufsaussichten waren dahin. Da war es, als ob alles über einen hereinbrechen würde. Wir kennen Herzstöße, die die vom Ehepartner ausgehen. Der Mann erklärt, dass er die gemeinsame Wohnung kündigen und zu einer neuen Lebenspartnerin ziehen werde. Da war es, als ob der Boden unter den Füßen weggezogen würde. Wir kennen Schmerzstöße, die von einer Krankheit ausgehen. Nach einer gründlichen Untersuchung machte der Arzt ein ernstes Gesicht und sprach von unheilbaren Tumoren. Da war es, als ob sich die Erde unter einem spalten würde. Wir kennen Trauerstöße, die von einem Tod ausgehen. Der Liebste war doch noch jung und sprudelte von Lebensfreude. Da war es, als ob man in den Abgrund stürzen würde. In jeder Stadt sind wir erdbebenge­fährdet. An jeden Ort sind wir erdbebenbedroht. Überall sind wir nicht erdbebensicher.

Deshalb fragen wir wie jene Frau in Glendale bei Los Angeles. Ein Bildbericht zeigte sie vor den Überresten ihres Hauses. Mit ein paar Helfern suchte sie einige Habseligkeiten aus den Trümmern zu retten. Natürlich will sie wieder bauen, muss sie wieder bauen, aber sie fragt sich jetzt: Wie muss ich denn bauen, damit die Wände halten? Wo muss ich denn bauen, damit das Fundament stabil bleibt? Was muss ich denn bauen, damit das entsteht, was hier angemessen ist?

Die Frau braucht ein stabiles Wohnhaus in einer erdbebengefährdeten Stadt, und wir brauchen ein stabiles Lebenshaus in einer erdbebengefährdeten Welt. Deshalb kommen wir auch nicht um diese drei grundlegenden Fragen herum: Wie und wo und was muss gebaut werden?

1. Wie muss gebaut werden?

Das ist die Frage nach der Bauweise. Nun gibt es verschiedene Berater, die sich als kompetente Bauleute ausgeben.

Der erste sagt: "Du musst reich bauen, nicht so ärmlich." Der Salomo zum Beispiel baute das Libanon-Waldhaus, dem gegenüber ein bayrisches Königsschloss zur Elendshütte verblasst wäre. Edelste Furniere aus Zedern- und Zypressenholz, kostbarste Steine aus Marmorbrüchen, teuerste Schnitzereien aus Elfenbein, die ganzen Armaturen aus hochkarätigem Gold. Das Waldhaus wurde zum vielbe­suchten und vielbestaunten Schatzhaus des Königs. Auch wenn wir keine solchen Krösusse sind, so beruhigt es doch ungemein, wenn wir keine armen Schlucker bleiben. Ein Sparbüchlein von der Oma, ein Pfandbrief im Depot, ein Krügerrand als Notpfennig hinter der Bettwäsche versteckt, drumherum ein Häuschen, das seit fünf Jahren schuldenfrei ist. Natürlich macht das nicht glücklich, aber man schaut gelassener in die Zukunft. Und dann bebt die Erde, und dann zieht der Ehemann aus, und dann ist alles ein Scherbenhaufen. Ein reiches Haus ist nicht erdbebensicher, deshalb dieses prophetische Wort: "Ein Reicher rühme sich nicht seines Reichtums."

Nun sagt der zweite Berater: "Du musst stark bauen, nicht so schwächlich." Der Herodes zum Beispiel baute eine alte Burganlage zur Bergfeste Machaerus aus. Die Gräben waren so tief und die Mauern so dick, dass sie für unüberwindlich galt. Der dort eingesperrte Johannes der Täufer war absolut ausbruchsicher verwahrt. Auch wenn wir keine solchen Herrscher sind, so müssen wir doch nicht nur unsere Schwächen beklagen. Selbstwertgefühle müssen doch ent­deckt und eingesetzt werden. Jeder hat seine Stärke: Körperkraft oder Schnelligkeit oder Durchsetzungsvermögen oder Macht in jeder Form. Damit sollen wir Flagge zeigen auf unserer Burg. Und dann bebt die Erde, und dann bricht die Krankheit die Lebenskraft, und dann ist alles ein Trümmerhaufen. Ein starkes Haus ist nicht erdbebensicher, deshalb dies prophetische Wort: "Ein Starker rühme sich nicht seiner Stärke."

Nun sagt der dritte Berater: "Du musst weise bauen, nicht so dumm." Der Aberlin Jörg zum Beispiel baute an dieser Stiftskirche mit. Wieviel Gedanken, wieviel Überlegungen, wieviel Theorien hat dieser Baumeister in dieses altehrwürdige Gotteshaus hineingebaut. Für jeden Bau sind Ideen vonnöten. Rudolf Steiner hat solche beigetragen, auch Ludwig Feuerbach oder der Theologe Hegel, und viele haben sich daran erbaut. Und dann bebt die Erde, und dann schlägt der Tod zu, und dann ist alles ein Haufen Elend. Ein weises Haus ist nicht erdbebensicher, deshalb dies prophetische Wort: "Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit."

Wenn aber Reichtum, Stärke und Weisheit nicht gefragt sind, was dann? Jeremia sagt: Klugheit ist gefragt. Klug aber ist der, der die zweite Frage beantworten kann, nämlich:

2. Wo muss gebaut werden?

Das ist die Frage nach dem Baugrund. Jener erwähnte Bildbericht vom Katastrophengebiet in Los Angeles dokumentierte folgende Tatsache. Das große Beben mit der Stärke 8 auf der Richterskala machte keineswegs ganze Stadtteile zur Schutt­halde. Nicht alle Gebäude waren einfach platt gemacht. So blieb das direkte Nachbarhaus jener Frau in Glendale völlig intakt. Obwohl es dasselbe Zittern aushalten musste, fiel es nicht in sich zusammen. Das Haus hielt den Erdstößen stand. Und die Bild­unterschrift hieß: holzgegründet. Weil ich nichts vom Bauen ver­stehe, obwohl ich auch schon auf dem Bau gearbeitet habe und mir dort zwei linke Hände bescheinigt wurden, habe ich mich kundig gemacht, was denn Holzgründung bedeute. Und dabei lernte ich, dass dort das Haus auf keiner Betonmasse steht, die bei harten Stößen bersten kann, sondern auf Holzpfählen ruht, die die Stöße auspendeln können.

Holzgründung ist das Geheimnis des erdbebengefähr­deten Wohnhauses, und Holzgründung ist das Geheimnis des erdbebengefährdeten Lebenshauses. Gott nämlich bleibt nämlich von dem großen Zittern seiner Leute nicht ungerührt. Sein Thronsaal ist nicht so weit von den Epizentren des Lebens entfernt, dass dort keine seismographischen Ausschläge mehr registriert werden könnten. Jeder Erdstoß geht auch durch den Himmel. Jedes Beben geht durch sein Herz. Deshalb hat er seinen Sohn auf diese Erde gegeben, in die Hände der Menschen gegeben, in die Hände der Feinde gegeben, in die Hände der Henker gegeben. Gott hat seinen Sohn an den Balken des Kreuzes gegeben. Und als sie dieses Fluchholz aufgerichtet hatten, da wurde es stockdunkel und "die Erde bebte und die Felsen zerrissen und die Gräber taten sich auf". Aber genau damals, während des schlimmsten aller Beben, hat Gott dieses Holz in die Erde gerammt als Pfahlgründung für die Lebenshäuser seiner Leute. Mit den Begriffen "Barmherzigkeit", "Recht" und "Gerechtig­keit" umschreibt Jeremia das Kreuz. Seit diesem Kreuz Christi gibt es das: holzgegründet.

Ich denke an Jeremia selbst. Weil er die Waffen des Königs nicht segnen wollte, wurde er als Volkszersetzer den Scharfmachern am Hofe überstellt. Die machten kurzen Prozess und seilten ihn in eine wasserlose Zisterne ab, wo er langsam, aber sicher im Schlamm versackte. Aber tiefer ging nicht. In letzter Minute erschien der äthiopische Palastbeamte namens Ebed-Melech am Zisternenrand und zog ihn auf Gottes Geheiß wieder aus dem Loch. Jeremia war holzgegründet.

Ich denke an Paulus. Geschlagen war er, kein Zentimeter Haut ohne Narbe, krank war er, eine unheilbare Krankheit lähmte seinen Körper, gefangen war er, die römische Zelle war dicht. Aber sein Glaube versackte nicht: "Nun bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe", schrieb er. Paulus war holzgegründet.

Ich denke an Johannes auf Patmos. Er konnte nur den wolkenverhangenen Himmel über der Gefangeneninsel und die blutverschmierte Erde unter seinen Ketten erblicken, aber er rief: "Ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde."
Johannes war holzgegründet.

Wer Gott kennt, nicht so kennt wie einer eine Automarke oder Telefonnummer kennt, sondern so wie einer seine Frau oder sein Kind kennt, nämlich von Herzen liebend kennt, der braucht kein neues Beben zu fürchten. "Lass den Satan wettern, lass die Welt erzittern, mir steht Jesus bei." Seine Leute sind holzgegründet.

Eine letzte Frage:

3. Was muss gebaut werden?

Der Kluge weiß auch diese Antwort: Kein Bauwerk für die Ewigkeit. Was wir auch schaffen, ist geschaffen auf Zeit. Was wir auch bauen, ist gebaut auf Zeit. Was wir auch errichten, ist errichtet auf Zeit. Unsere Lebenshäuser sind nicht für die Ewigkeit gebaut. Einmal ist unsere Zeit abgelaufen. Einmal schlägt unser Stündlein. Einmal kommt der große Zerbruch. Haben wir dann endgültig kein Dach mehr überm Kopf? Sind wir dann endgültig obdachlos? Gilt dann Nietzsches unheimliche Vorahnung:

"Die Krähen schrei’n
und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnei’n -
weh dem‚ der keine Heimat hat!"

Aber der Kluge baut vor. Er baut ja auf seinen Herrn, der seine Leute nie unbehaust lässt. Sie wissen, was Paulus wusste: "Wenn unser irdisch Haus abgebrochen wird, so haben wir einen Bau von Gott erbaut, ein Haus nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im Himmel"(2.Kor.5). Das letzte Heim ist daheim, daheim beim Vater, endgültig erdbebensicher.

Liebe Gemeinde, noch einmal, damit wir es nicht gleich wieder auf der Straße oder spätestens daheim vergessen haben: Wie muss gebaut werden? Nicht reich, stark oder weise, sondern klug. "Solches gefällt mir", sagt der Herr. Wie muss gebaut werden? Nicht hier, dort oder sonstwo, sondern auf das Holz. "Solches gefällt mir", sagt der Herr. Was muss gebaut werden? Nichts für die Ewigkeit, weil er dort selbst baut. "Solches gefällt mir", sagt der Herr.

Amen.


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]