Christ werden

Konrad Eißler
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Der Zöllner Matthäus hatte mit dem Frommsein nicht viel am Hut. Trotzdem wurde er Christ - nicht wegen seiner Leistungen und seiner Opferfähigkeit, sondern durch Gottes warmherzige, weitherzige und großherzige Barmherzigkeit. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]

Wer die Wahl hat, hat die Qual, liebe Gemeinde. Zum Beispiel bei der Essenswahl, ob fett oder mager, bei der Kleiderwahl, ob hell oder dunkel, bei der Partnerwahl, ob blond oder schwarz. Wer die Wahl hat, hat die Qual, auch bei der Berufswahl. Mein ältester Bruder tat sich besonders schwer. Seine Pläne wechselten so schnell wie der Mond. Schließlich besorgte sich der besorgte Vater ein Büchlein: Wie wird man was? Kummervoll studierte er die Ausbildungs­gänge. Unter “A” fand er Arzt: Einserabitur, Studium, Promotion, aber weil er an die Viererzeugnisse seiner Kids dachte, blätterte er weiter. Unter “F” fand er Flaschner: Schulabschluss, Lehre, Gesellenprüfung, aber weil er um die linken Hände seiner Sprösslinge wusste, suchte er weiter. Unter “K” fand er Kammersänger: Schulreife, Musikhochschule, Künstlerklasse, aber weil er als spröder Jurist die Musikalität wahrlich nicht vererbt hatte, forschte er weiter. Bis unter “Z” Zirkusdirektor entdeckte er noch viele Berufe. Aber so verschiedenartig sie auch waren, in dem einen glichen sie sich alle. Sie brauchen ein Opfer an Zeit und Kraft und Energie. Ohne Opfer wird keiner eine Arztpraxis aufmachen können. Ohne Opfer wird keiner sein Geld als Flaschner verdienen können. Ohne Opfer gelingt keine Kammersängerkarriere. Nur, und so hätte man jenen Buchtitel kurz und bündig beantworten können: Nur durch Opferfähigkeit wird man was. Auch Christ, liebe Gemeinde? Schade, dass uns jene Broschüre nicht mehr zur Hand ist. Unter “J” Jünger, “N” Nachfolger oder “C” Christ könnte es doch so stehen: Taufe, Religionsunterricht, Konfirmation, Gottesdienstbesuch, Abendmahlteilnahme, Bibellektüre. Ohne Opfer an Zeit wird keiner ein Jünger. Ohne Opfer an Kraft wird keiner ein Nachfolger. Ohne Opfer an Energie gelingt kein Christsein. Nur durch Opferfähigkeit wird man Christ.

Aber passen wir auf. Der Zöllner Matthäus war zwar mit allen Wassern gewaschen, aber nicht getauft. Er war wohl in vielen Gaunereien versiert, aber nicht konfirmiert. Er war mächtig eingebildet, aber nicht fortgebildet. Mit dem Frommsein hatte er nicht viel am Hut. Trotzdem wurde er zum Jünger berufen, zum Nachfolger, bestellt, trotzdem wurde Matthäus Christ, so wie Lukas und Johannes und Petrus und Paulus auch. Das Reich Gottes ist nun einmal keine Leistungsgesellschaft. Zum Arzt können wir es bringen, zum Jünger bringt er’s. Zum Flaschner können wir es schaffen, zum Nachfolger schafft er’s. Zum Kammersänger können wir berufen, zum Christsein beruft er. Und zwar ganz allein und in souveräner Entscheidungsfreiheit. Gott sei Dank ist nicht zuerst ein Opfer verlangt, weil er, und so ist es ausdrücklich beim Propheten Hosea festgeschrieben und beim Evangelisten Matthäus festgemacht, weil er Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer hat. Das ist die gute Nachricht für alle, die sich mit der Nachfolge, mit dem Jüngerwerden, mit dem Christsein schwertun. Christ werde ich nicht durch meine Opferfähigkeit, sondern durch seine Barmherzigkeit.

Christ werde ich nicht durch meine Opferfähigkeit, sondern durch seine Barmherzigkeit.

Und dieser Zentralbegriff der Bibel, der mehr und mehr aus unserer Sprache verschwindet, wird in dieser Momentaufnahme auf Jesu Weg näher beleuchtet. Die Silbe “barm” hängt nämlich sprachgeschichtlich mit den Worten warm, weit und groß zusammen. Deshalb können wir so formulieren:

1. Seine Barmherzigkeit ist warmherzig

Tatort Zollhaus. Business as usual, ganz normaler Geschäftsbetrieb. Matthäus im Schichtdienst. Ein Marktbauer kommt an die Schranke und sieht den Uniformierten, der die Zollkleber verkauft. Der lässt den Bauern kalt, so wie uns uniformierte Schalterbeamte kalt lassen. Sie berühren uns überhaupt nicht. Dann kommt ein Straßenhändler an die Schranke und sieht den Gauner, der den Leuten das Fell über die Ohren zieht. Dem zeigt der Händler die kalte Schulter, so wie wir korrupten Gaunern die kalte Schulter zeigen. Mit denen wollen wir nichts zu tun haben. Dann kommt ein Eselsreiter an die Schranke und sieht den Kollaborateur, der mit der Besatzungsmacht unter einer Decke steckt. Den lässt der Reiter kalt abfahren, so wie wir die miesen Zeitgenossen kalt abfahren lassen. Die haben es bei uns total verspielt. Und dann kommt Jesus an die Schranke. Er sieht den Uniformierten, aber der lässt ihn nicht kalt. Er sieht den Gauner, aber dem zeigt er nicht die kalte Schulter. Er sieht den Kollaborateur, aber den lässt er nicht kalt abfahren. Jesus sieht Matthäus, so wie er ist, mit seinen ungeklärten Fragen, mit seinen unheimlichen Bindungen, mit seinen unwahrscheinlichen Sehnsüchten, und deshalb geht er nicht kaltherzig weiter, sondern wendet sich ihm warmherzig zu. Liebe Freunde, Jesus sieht jeden, auch wenn er nicht im Zollhaus, sondern im Schulhaus oder im Rathaus oder im Kaufhaus oder im Bankhaus oder gar im Tollhaus sitzt. Jesus sieht jeden, auch wenn er nicht am Schalter, sondern am Schreibtisch oder am Zeichenbrett oder am Bildschirm oder am Fließband arbeitet. Jesus sieht jeden, auch wenn er keine Uniform, sondern Bluse oder Sakko oder Pulli oder Weste trägt. Jesus sieht jeden, so wie er ist: mit seinen ungeklärten Fragen, die einen seit Jahren begleiten und oft genug quälen, mit seinen unheimlichen Bindungen, die hoffentlich nie ans Licht kommen und noch meine Familienbande zerstören, mit meinen unwahrscheinlichen Sehnsüchten, die sich nach besseren Tagen, schmerzfreien Stund­en, glücklichen Augenblicken Ausschau halten. “Du bist ein Gott, der mich sieht” hat Hagar gesagt. Dabei ist es geblieben. Er sieht nicht seine Straße. Er lässt mich nicht links liegen. Er geht nicht kaltherzig weiter, sondern wendet sich warmherzig zu. Jesu Barmherzigkeit ist warmherzig.

2. Seine Barmherzigkeit ist weitherzig

Tatort Zollhaus. Schalter geschlossen. Matthäus im Wechseldienst. Warum? Jesus sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf, folgte ihm und wechselte den Dienstherrn. Einer hat ein Buch geschrieben mit dem Titel: “Der unmögliche Jesus”. Diese Anstellung im Eilverfahren passt dazu. Im Vorübergehen wird doch keiner eingestellt. Wenn Jesus wenigstens ein Anstellungsgespräch mit ihm geführt hätte, so wie ein Bürochef. Schließlich ist Matthäus kein unbeschriebenes Blatt. Wenn Jesus wenigstens einen Eignungstest verlangt hätte, so wie ein Personalleiter. Schließlich ist Matthäus kein unschuldiges Lamm. Wenn Jesus wenigstens eine Probezeit vereinbart hätte, so wie ein Lehrlingsmeister. Schließlich muss dieser Zöllner seine innere Kehrtwende erst einmal beweisen. Aber dieser Herr benützt den kurzen Schrankenstopp zur schnellen Dienstverpflichtung. Jesus ist eben kein Bürochef, der zuerst Gespräche führen müsste, kein Personalleiter, der auf Eignungstest angewiesen wäre, kein Meister, der mit Probezeiten auf Nummer sicher geht. Jesus ist der Herr, der jeden aus dem Effeff kennt und trotzdem in seine Gemeinschaft hineinrufen will. Keiner ist so unmöglich, als dass er nicht ein möglicher Kandidat für diesen unmöglichen Jesus wäre. Auch wenn ich kein unbeschriebenes Blatt mehr bin, weil Tage und Jahre zu viel darauf geschrieben haben, auch wenn ich kein unschuldiges Lamm mehr bin, weil mich die Schuld bis in die Wolle hinein rot eingefärbt hat, auch wenn ich kein sicherer Kantonist mehr bin, weil ich zu oft umgefallen und hingefallen bin, Jesus sagt: Folge mir! Das ist seine Weitherzigkeit, die Luther als vorlaufende Gnade bezeichnet, und die keinen in seinen alten Verhältnissen belassen will. Matthäus muss heraus, denn das Zollhaus wird nun einmal kein Bethaus, die Zollbude zu keinem Traktatkiosk. In dem Gestrüpp von Lug und Trug verfängt er sich wieder. Niemand kann im alten Milieu neu leben, niemand muss im alten Milieu neu leben. Auch wenn wir keine Möglichkeit haben, den Schalter zu schließen, den Laden dicht zu machen und die Stelle fristlos zu kündigen wie Matthäus, so gibt es doch ein inneres Folgen, das sich aus den Verstrickungen und Bindungen herauslöst und sich diesem neuen Herrn ganz unterstellt. Er will, dass keiner in der Dickluft seiner vier Wände erstickt, sondern jeder in der Ozonluft seiner neuen Welt durchatmen kann. Deshalb sagt er: Folge mir! Jesu Barmherzigkeit ist weitherzig.

3. Seine Barmherzigkeit ist großherzig

Tatort Zollhaus. Gläserklirren und Löffelklappern. Matthäus im Tischdienst. Er wollte nicht schofel sein, französisch Abschied nehmen und sich heimlich, still und leise durch die Hintertür verdrücken. Seine Kollegen und Kumpels sollten auch diesen neuen Dienstherrn kennenlernen, dem sich zu folgen lohnt. Deshalb wurden Stühle gerückt, ein paar Tische zusammengeschoben und eine Abschiedsparty gefeiert. Aber weil es meistens ein paar in jeder Runde gibt, die Wasser in den Wein gießen und so lange ihre ergrauten Häupter über dem Teller schütteln, bis sie ein Haar in der Suppe finden, so war auch diese bunte Gesellschaft von pharisäischen Besserwissern nicht verschont. Warm festet Jesus mit Zöllnern? Warum feiert Jesus mit Sündern? Warum Jesus in schlechter Gesellschaft? Auf diese verletzende Frage geht Jesus großherzig ein und macht sie zum Thema seiner nun folgenden Tischrede: Kranke brauchen den Arzt. Denkt an einen Augenkranken, sagt er. Der graue Star nimmt ihm das Augenlicht. Dieser Kranke braucht den Augenarzt. Denkt an einen Lungenkranken. Die Tuberkulose breitet sich als schwarzer Schatten immer weiter aus. Dieser Kranke braucht den Lungenarzt. Denkt an einen Hautkranken. Ekzeme quälen ihn Tag und Nacht. Der Kranke braucht einen Hautarzt. Und nun denkt an einen Schuldkrank­en. Die Schuld zerstört jedes Immunsystem gegen das Böse. Die Schuld zerfrisst alle Lebensorgane wie der Krebs. Die Schuld führt unweigerlich in den ewigen Tod. Welchen Arzt braucht er? Welchen Doktor brauchen wir, die wir alle von diesem Todesvirus befallen sind? Welchen Mediziner brauchen wir, die wir alle diese Krankheit zum Tode in uns tragen? Mit Allopathie und Homöopathie sind wir nicht zu retten, aber mit dieser Sympathie dieses Herrn, der von sich sagen konnte: Ich bin der Herr, dein Arzt. Ich bin der Herr, dein Facharzt für Schuld. Ich bin der Herr, dein Heiland, denn durch meine Opferfähigkeit am Kreuz ist diese Barmherzigkeit möglich geworden.

Als Student musste ich einmal zum Doktor. End­lich fand ich einen in dem reichen und schönen Hamburger Vorort Blankenese, wo ich mit Blick auf die Elbe wohnte. An der Rezeption füllte die Sprechstundenhilfe einen Bogen aus: Name, Geburtstag, Wohnort. Als sie nach der Versicherung fragte und ich AOK sagte, schrieb sie gleich gar nicht mehr weiter. “Herr Eißler”, sagte sie sehr höflich: “Wir behandeln nur Private.” Betreten schlich ich mich wieder hinaus, aber ich wusste: Jesus behandelt nicht nur Private. An seiner Praxis steht: Alle Kassen und Klassen und Rassen. Jesu Barmherzigkeit ist großherzig, weitherzig und warmherzig, einfach herzlich und herrlich.

Amen