Einleitung und Liedbeginn
Der Titel lautet: „Jesus, Jesus, Brunnen des Lebens, stell dich bei uns ein.“ Das ist unsere Bitte, die wir jetzt singen wollen – zunächst die ersten vier Strophen.
Wir haben wieder Klavier- und Bläserbegleitung, vielen Dank dafür.
Das war das Sturmlied der Erweckung, 75 Jahre bevor die Erweckung in Basel begann. Mit der Christentumsgesellschaft, der Basler Mission und der Basler Traktatgesellschaft hat Hieronymus Anoni, aus altem italienischem Adel, gesungen: „Herr, du hast uns doch verheissen, dass du Wunder tun kannst.“
Und jetzt lass uns dich erkennen – das wird das Thema heute Mittag sein.
Im Johannes 17, hat der Herr Jesus im hohen priesterlichen Gebet gesagt: „Das aber ist ewiges Leben.“ Johannes 17 beschreibt das ewige Leben als das Erkennen dessen, der allein wahrer Gott ist, und dessen, den du gesandt hast, Jesus Christus.
Oh, so lass uns dich erkennen!
Wir wollen die Strophen sechs und sieben miteinander beten:
Lehr uns singen, lehr uns beten,
Hauch uns an mit deinem Geist,
Dass wir vor den Vater treten,
Kindlich, wie’s dein Mund uns heißt.
Sammle die zerstreuten Sinnen,
Wehr der Flatterhaftigkeit,
Lass uns Licht und Kraft gewinnen
Zu der Christen Wesenheit!
Amen!
Erinnerung an Johann Albrecht Bengel und sein Lebenswerk
Gestern Morgen um zwei Uhr früh waren es genau zweihundertfünfzig Jahre, dass Johann Albrecht Bengel in Stuttgart gestorben ist.
„Da ist wahr geworden, bis ich nach ausgestandener Probe in vollem Licht zu Gottes Lob die Gottesschau erlangen.“ So hatte er es in einem seiner großen Lieder gedichtet: „Ich möchte die Gottesschau erlangen.“
Johann Albrecht Bengel, der große Schriftgelehrte unseres schwäbischen Landes, war breitschultrig und hochgewachsen. Man hätte ihm eigentlich zugetraut, dass er ein gesunder, gestandener Mann sei, ein richtiges Mannsbild. Doch er war immer kränklich. Die drei Jahrzehnte in Denkendorf verbrachte er stets krank. Dreimal war er sogar dem Tod nahe.
Doch nun war die Stunde gekommen, als er 64 Jahre alt war – eine Stunde, auf die er sich lange vorbereitet hatte: „dass die Hütte bricht.“ Ein Fiebersturm war gekommen, der bis zur Sterbeminute anhielt.
Man rief dem Sterbenden noch zu: „Herr Jesus, dir lebe ich, dir leide ich, dir sterbe ich, dein bin ich tot und lebendig.“ Der sterbende Bengel deutete mit seiner rechten Hand auf seine Brust und sagte: „Das gilt jetzt mir, dein bin ich tot und lebendig.“
Schon bei der Auslegung der Bibel war ihm wichtig gewesen, dass wir einmal dorthin kommen, wo es wahr wird: „Die Frommen werden schauen dein Angesicht“ (Psalm 11). Oder in einem der folgenden Psalmen: „Ich will schauen dein Antlitz in Gerechtigkeit, ich will satt werden, wenn ich erwache an deinem Bild, wenn ich dich sehe.“
„Bis ich nach ausgestandener Probe in vollem Licht zu Gottes Lob die Gottesschau erlange.“
Die Bedeutung der Erkenntnis Gottes im Leben
Aber Bengel war es nicht nur wichtig, dass wir Gott einmal nach unserem Sterben schauen, sondern dass wir ihn schon jetzt erkennen.
In der großen Auslegung von Bengel zu Johannes 17, dem hohenpriesterlichen Gebet unseres Herrn Jesus, heißt es zu Vers 3 im Kapitel 17: „Das aber ist das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, mich, Jesus Christus, erkennen.“
Bengel hat dazu geschrieben, dass er eigentlich besser Latein als Schwäbisch sprach: Cognitio in negotio salutis est maximi momenti. Das bedeutet: Die Erkenntnis, die Schau Gottes, ist im Geschäft des Seligwerdens der allergrößte Moment.
Maximi momenti ist ein Maximum. Wenn ich einen Durchblick bekomme, wer Gott ist und wer sein Sohn Jesus Christus ist, dann nicht nur theoretisch, sondern wirklich. Im Neuen Testament heißt es ja einmal, Jesus lieb zu haben ist besser als ihn nur zu erkennen. Sozusagen zielt die ganze Erkenntnis darauf ab, dass ich in ganz großer Liebe sage: „Mein Gott, mein Herr und Gott.“
Dazu ist die Erkenntnis Gottes da, damit mein Herz in großer Freude entbrennt über meinen Heiland, über meinen Gott. Es ist ähnlich, was Bengel gesagt hat: Cognitio in negotio salutis est maximi momenti. Johannes Calvin, der Reformator von Genf, hat dies gleich als Frage eins in seinem Genfer Katechismus festgestellt: Das höchste Ziel für ein Menschenleben ist die Erkenntnis Gottes.
Ich weiß nicht, ob Ihnen das bewusst geworden ist: Gott will, dass allen Menschen geholfen wird und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Wir denken oft, Gott wolle, dass wir seine Gebote halten und ein Leben führen, an dem er Freude hat. Nein, Gott will, dass wir ihn erkennen.
Im Geschäft des Heils ist die Erkenntnis Gottes das Allerwichtigste. Aber jetzt könnten Sie sagen: „Ich sehe doch Gott nicht, ich sehe den Herrn Jesus nicht.“
„Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“ Was ist denn gemeint mit dem Erkennen?
Die Erkenntnis Gottes durch das Wort und die Evangelien
Gott hat seine Erkenntnis, die Erkenntnis seines Wesens, dem Wort angehängt – in Form von schwarz auf weiß geschriebenen und gedruckten Worten seiner Propheten und Apostel.
Es gibt das ja auch im zwischenmenschlichen Bereich: Wir erkennen das Wesen eines Menschen oft besser durch das, was er schreibt, als in einem direkten Gespräch von Angesicht zu Angesicht. Wenn unsere Kinder, als sie klein waren, das Haus unbemerkt verlassen wollten, aber dennoch ein Signal geben wollten, wo sie eventuell sind, dann haben sie kleine Zettel hinterlassen. Diese Botschaften waren so verfasst, dass wir als Eltern das Wesen unserer Kinder besser verstanden als durch ihre Verhaltensnoten im Zeugnis. Das Geschriebene macht oft das Wesen eines Menschen deutlicher sichtbar.
Gott möchte durch das geschriebene, schwarz auf weiß erkennbare Wort seiner Apostel und Propheten selbst in seinem Wesen erkennbar werden.
Doch wie soll das vor sich gehen, dass wir Gott erkennen? Es gibt drei Teile, die dabei eine Rolle spielen.
Das Erkennen Gottes in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
Wir dürfen Gott und seinem Sohn hintennachsehen, hintennachsehend erkennen. Vielleicht kennen Sie die Geschichte, als Mose vor die Aufgabe gestellt wurde, das immer wieder murrende und ungehorsame Volk, das sich das goldene Kalb gemacht hatte, in das zugesagte Land zu führen. Mose sagt zu Gott: „Lieber Gott, ich möchte deine Herrlichkeit sehen.“ Er sagt weiter, dass er an der Unsichtbarkeit Gottes fast zugrunde geht und deshalb seine Herrlichkeit sehen möchte.
Gott antwortet ihm: „Niemand kann mich sehen. Aber wenn ich meine Herrlichkeit an dir vorbeigehen lasse, kannst du mir hintennachsehen.“ Mose durfte hinterhersehen und erkannte Gottes Barmherzigkeit und Gnade. Er sah die große Gnade und Güte Gottes. So dürfen auch wir hintennachsehend erkennen.
Schon in unserem Leben zeigt sich das. Der Apostel Paulus schreibt im 2. Korintherbrief, Kapitel 1, dass sie in Asien in großer Not waren, so sehr, dass sie am Leben verzweifelten und meinten, alles sei aus. In dieser Situation hat Paulus wahrscheinlich die Gegenwart Gottes gar nicht wahrgenommen und dachte, Gott habe ihn verlassen. Aber dann schreibt er weiter: „Das geschah aber deshalb, dass wir unser Vertrauen nicht auf uns selbst setzten, sondern auf den Gott, der von den Toten errettet.“ Hinten nach hat Paulus erkannt, dass Gott ganz nahe war. Gott hat ihm geholfen und ihm zugleich eine Lektion erteilt: Er lässt seine Leute nicht im Stich.
Wenn ich darüber nachdenke, mit welcher Gnade und Güte Gott mich durch so viele Wunderwege meines Lebens geführt hat, finde ich keinen Grund, nicht hintennachzusehen. Gott hat mich oft auf Adlersflügeln getragen, väterlich, selbst in dem Augenblick, in dem ich meinte, Gott sei gar nicht da. Ich darf hintennachsehen. Der Rückblick auf ein langes Leben ist erfüllt von großer Dankbarkeit, weil Gott oft da war, auch wenn ich dachte, er sei weit weg.
Wir dürfen auch so den Herrn Jesus erkennen, hintennachsehend. Die Evangelien des Neuen Testaments sind so anschaulich geschrieben, dass wir Jesus wirklich erkennen können. Zum Beispiel sehen wir ihn zitternd vor Trauer, mit Tränen auf der Wange, wenn er auf Jerusalem blickt und sagt: „Wie oft habe ich dich versammeln wollen, wie eine Glucke ihre Küchlein versammelt, und ihr habt nicht gewollt.“ Jesus ist so herrlich, dass er nicht einfach sagt: „Wenn sie nicht wollen, dann lasse ich es bleiben.“ Stattdessen dürfen wir die Herrlichkeit des sich um uns sorgenden Gottes im Angesicht Jesu erkennen.
Heute Morgen hat uns Pfarrer Wanner in Konthald dieses Wort besonders nahegebracht: Im Angesicht Jesu dürfen wir die Herrlichkeit Gottes erkennen. So ist Gott: Wie Jesus ins Nachtdunkel über dem sturmgepeitschten See Genezareth blickt und versucht, mit seinen Augen das Boot mit den Jüngern zu erblicken, die vor Angst schreien, weil ihr Herr nicht bei ihnen ist. Dann kommt Jesus über die Wogen zu seinen Jüngern. Ach, so einen herrlichen Herrn Jesus habe ich!
Es gilt für mich, was ich jetzt hintennachsehend erkennen kann. Herr, öffne mir die Augen, dass ich die Wunder in deinem Gesetz sehe! Dazu sind uns die Evangelien gegeben, damit wir offene Augen bekommen für die Herrlichkeit unseres Herrn Jesus. Wie er mit erwartungsvollen Augen zu dem Betrüger Zachäus auf seinen Maulbeerbaum hinaussieht und sagt: „Du, ich möchte heute zu dir kommen, sei du mein Gastgeber.“ Wie er diesem Zachäus die Ehre gibt – so ist mein Jesus. Ich darf hintennachsehend erkennen, was in den anschaulichen Evangelien steht.
Vor der Mittagspause waren zwei Brasilienmissionare bei uns. Wir fragten sie, wie sie den Indianerstämmen das Evangelium verkünden. Sie antworteten, sie könnten nur die Geschichten von Jesus erzählen. Dabei werde etwas von der Herrlichkeit Gottes im Angesicht Jesu deutlich. Wir sollten viel weniger theoretisieren, sondern erkennen und etwas in unserem geistigen Auge sehen. Hinten nach erkennen wir die Herrlichkeit Gottes.
Das war auch tief verborgen, als ich das letzte Mal bei Ihnen sein durfte. Unser Thema war: „Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe zur Erlösung für viele.“ In der Vorbereitung für diese Bibelstunde dachte ich, das Wichtigste erkannt zu haben: dass Jesu Dienen in Jerusalem zum letzten großen Dienst führt. Aber seitdem ist mir klar geworden, dass das Dienen Jesu schon in der Ewigkeit begann.
Ein schönes Lutherlied, das wir neulich im Bibelkurs bewusst gemacht haben, beschreibt es so: Gott jammert in Ewigkeit „Mein Elend ohne Massen.“ Er spricht zu seinem lieben Sohn: „Fahr hin, es ist zum Erbarmen, jetzt ist die Zeit.“ Der Sohn ward dem Vater gehorsam. So begann der Dienst Jesu.
Dann folgen die drei Jahrzehnte in Nazareth, in denen er unser Leben kennenlernte. Wie das ist mit dem Weinstock und mit der schwangeren Frau, und dass man das Haus auf den richtigen Grund bauen muss – all diese Anschaulichkeiten des Evangeliums hat Jesus in den Jahrzehnten in Nazareth erfahren. Für uns wird das Evangelium dadurch plastisch und anschaulich.
Der Sohn Gottes lebte 28 Jahre im letzten galiläischen Nest, weil er wollte, dass wir verstehen, wie das ist mit dem Weinstock und den Reben, wie das ist mit dem Hirten, der seine Schafe aus dem dumpfen Stall herausführt. So will Jesus uns aus Gefahren herausholen.
Ach, dass wir hintennacherkennen, auch wenn wir anfangen, eine Bibelarbeit oder eine Bibelstunde vorzubereiten, dass wir uns noch tiefer hineinführen lassen. Ich möchte, dass Sie erkennen, erkennen! Wir dürfen hintennachsehend erkennen, dass es zu solchen Maximomenten kommt: cognitio est maximo maximi momenti.
Die Gegenwart Gottes erkennen
Und zweitens: Wir können die Gegenwart Gottes erkennen. Wenn manche Leute sagen: „Das verstehe ich nicht, man kann Gott doch nicht sehen“, dann gibt es auch im zwischenmenschlichen Bereich Situationen, in denen wir etwas spüren, obwohl wir es nicht sehen.
Zum Beispiel kommen wir in eine scheinbar leere Wohnung. Pfarrer erleben das oft bei Hausbesuchen. Man hat ein Gespür, dass die Wohnung nicht einfach leer ist. Da muss jemand sein, vielleicht die Oma ganz hinten im Zimmer. Man spürt es, auch wenn man nichts sieht.
In der Schorndorfer Gemeinde gab es eine blinde Dame. Wenn man leise ins Zimmer trat, sagte sie sofort: „Ist jemand da, gell, das ist der Herr Schäffuch.“ Sie hat es schneller begriffen als jemand mit Augen. Es gibt also ein Gespür für das, was wir nicht mit den Augen sehen können, was aber dennoch da ist.
Und noch viel mehr gilt das bei dem, der gesagt hat: „Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“ Den spüren wir. Neulich habe ich meine Frau am S-Bahnhof abgeholt, abends. Sie kam aus Stuttgart und fragte: „Warum hast du gewusst, dass ich sieben vor eins komme?“ Es war aber klar – Eheleute wissen so etwas manchmal, nicht wahr?
Der Apostel Johannes hat einmal gesagt, dass Gott uns einen Sinn gegeben hat, damit wir den Wahrhaftigen erkennen. Es ist wie ein sechster Sinn, mit dem wir die Gegenwart des Herrn Jesus wahrnehmen.
In meinem Leben gab es so viele Momente, in denen ich sagen konnte: Gott hat mich geführt wie einen blinden Gaul. Er hat im entscheidenden Augenblick, als ich die Gefahr gar nicht bemerkt habe, das Steuer ergriffen. Er hat mir ein Wort erspart, das ich beinahe dummerweise über meine Lippen gebracht hätte. Er hat mir in einem unvorbereiteten Moment das richtige Wort auf die Lippen gelegt – der unsichtbar gegenwärtige Jesus.
Aber noch viel mehr sollen wir die Nähe Jesu erspüren – über das Wort der Propheten und Apostel. Der lebendige Gott hat uns durch Jesus ausrichten lassen: „Wer euch hört“ – Matthäus, Markus, Lukas, Johannes, Paulus – „der hört mich!“
Ich möchte meine Jesus-Nähe in dieses Wort der Apostel und Propheten hineingeben. Ich will das Wort so einsetzen und in Schwingungen versetzen, dass ihr es als mein Wort hört.
Bengels Umgang mit der Bibel und seine Nähe zu Christus
Johann Albrecht Bengel, der vor 250 Jahren verstorben ist, hat ein Jahr vor seinem Tod – genauer gesagt, exakt zwei Monate vor seinem Sterben – sein Neues Testament, das er nochmals neu übersetzt hatte, fertiggestellt und mit kleinen Anmerkungen versehen.
Ende September oder Anfang Oktober wurde das Vorwort unterzeichnet. Am 2. November folgte dann sein Todestag. Erst nach seinem Tod wurde dieses Neue Testament gedruckt.
In dem Werk sind die Abschnitte immer wieder durch ganz kurze Gesprächsfetzen mit Jesus unterbrochen. So heißt es zum Beispiel: „Vielen Dank, Jesus, hilf mir auch, deine Nähe zu erleben.“ Man merkt, dass Bengel das Evangelium nicht wie einen Roman liest, also als reine Information, sondern dass Jesus hier mit ihm spricht. Darauf antwortet Bengel mit kurzen Gebetssätzen.
Bengel konnte sagen, dass Christus selbst den Inhalt und die Summe der Schrift ausmacht. Christus selbst ist der Inhalt der Schrift.
Ein Zeitgenosse berichtete, dass man immer wieder auf Bengels Stirn die Ewigkeit Gottes habe sehen können. Diese strahlte wider, weil Bengel so im Gespräch mit dem gegenwärtigen, zu ihm redenden Gott und seinem Sohn Jesus war.
Die Emmaus-Jünger und die Erkenntnis Jesu
In Lukas 24, in der Geschichte der Emmaus-Jünger, begegnet Jesus den aus Jerusalem hinausflüchtenden Jüngern vor dem Dorf Emmaus. Es war schon großartig, dass diese Jünger sagten: „Wir hielten ihn für den Propheten, der Israel erlösen sollte.“ Sie hatten mehr von Jesus verstanden als andere Zeitgenossen.
Doch das war noch etwas anderes, als ihre Herzen anfingen zu brennen, weil Jesus ihnen die Schrift erklärte – Mose, die Propheten und die Psalmen. Noch etwas ganz anderes war es, als sie ihn erkannten: Sie erkannten, dass er nicht bloß ein großer Schriftausleger war, sondern Jesus selbst.
Daraufhin liefen sie nach Jerusalem zurück. Sie sagten nicht etwa: „So und so hat er ausgesehen.“ Sondern: „Wir haben ihn gesehen, er lebt.“ Jesus zu erkennen und die große Gewissheit zu bekommen, dass er bei mir ist, dass er da ist – mein Heiland lebt.
Auch wir können Jesus erkennen. Wir können mit ihm rechnen. Ich musste alt werden, bis ich richtig begriffen habe, dass ich mich jeden Tag, selbst wenn es bis in die Nacht hinein geht, diesem gegenwärtigen Jesus anvertrauen darf. Er ist nicht bloß symbolisch da, sondern wirklich gegenwärtig.
Neulich war ein Gastprediger bei uns in Korntal. Er sagte: „Was soll denn der Kleinglaube, dass Jesus eventuell manchmal nicht da ist? Er trägt doch unsere ganze Welt, die ganze Wirklichkeit durch sein kräftiges Wort. Er trägt mein Leben. Er ist mehr da, als ihr ahnt.“
Mein Herz ist dadurch weit geworden. Wo Jesus großgemacht wird, da erkennt man ihn. Da lässt er sich auch erkennen. Wir dürfen nicht bloß Jesus hinterhersehen, sondern wir dürfen auch den Gegenwärtigen auf ganz besondere Art erkennen.
Die Vorahnung des kommenden Jesus
Und wir können den zukünftig kommenden Jesus erahnend erkennen. Wir dürfen zurückblicken, wir dürfen den gegenwärtigen Gott und seinen Sohn Jesus erkennen, und wir dürfen den kommenden, den zukünftigen Jesus jetzt schon erahnend erkennen.
Das gibt es ja auch im zwischenmenschlichen Bereich. 1946 wurde mein Bruder Albrecht konfirmiert, und der Vater war in französischer Kriegsgefangenschaft. Der Bruder Raph könnte uns erzählen von Larsac, Ceven, Offiziersgefangenenlager. Die Mutter hat immer gesagt: „Ihr werdet sehen, der Vater ist bei der Konfirmation von Albrecht da, der ist schon unterwegs.“ Es gab überhaupt keine Postverbindung.
Der Konfirmationstag verging, ohne dass die Ankündigung der Mutter wahr wurde. Aber 14 Stunden später war der Pfiff des Vaters, der vertraute Familienpfiff, unten auf der Straße zu hören. Da war er – ausgehungert und abgerissen.
Da hätten wir doch nicht hämisch als Kinder gesagt: „Ätsch, Mutter, jetzt hast du dich eben doch getäuscht.“ Nein, wir haben gestaunt bis heute, dass Eheleute so miteinander verbunden sein können, dass sie es auf Hunderte von Kilometern spüren: „Jetzt kommt er.“
Und wenn das schon bei Menschen möglich ist, dann haben wir am Sonntag nach der Konfirmation das Konfirmandenabendmahl gefeiert. Ich weiß noch, wie Pfarrer Knapp bei der Austeilung das Wort gesagt hat: „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, werden wir sein wie die Träumenden.“
Wenn das schon unter Menschen möglich ist, dass man so umeinander erahnt, dann hat Jesus gesagt: „Über ein Kleines werdet ihr mich sehen, ich werde euch nicht als Waisen zurücklassen, ich komme zu euch.“
Johann Albrecht Bengel hat sich doch nicht getäuscht, als er für das Jahr 1836 die besseren Zeiten angekündigt hat. Ich bin froh, dass Professor Michael Jung, ein junger Kirchenhistoriker, endlich mal herausstellt, dass immer wieder falsch abgeschrieben und behauptet wurde, Bengel habe für 1836 die Wiederkunft Jesu angekündigt. Das hat er nirgends getan; es wird immer etwas weitergeschwätzt.
Aber er hat gesagt, 1836 beginnen die besseren Zeiten, in denen Gott ganz neu eingreift, bevor der Herr Jesus wiederkommt. Damals begann in Deutschland die Weltmission, viele diakonische Werke wurden gegründet, Jugendarbeit, Kindergärten, Pflegeheime. Ganz zu schweigen von dem geistlichen Aufbruch und der Evangelisation, die in Deutschland begonnen wurde.
Bengel hat sich doch nicht getäuscht. Er hat geahnt, dass mitten in der Zeit, da der Antichrist wirkt, auch der Herr Jesus wirken wird.
Johann Christoph Blumhardt hat sich doch nicht getäuscht, als er die Erweckung in Möttlingen erlebt hat – und auch, wie die Erweckung wieder eingeschlafen ist. Blumhardt sagte mir, das habe ihm einen Eindruck gegeben von einer künftig zu erwartenden Zeit, in der unser Herr sprungschnell alles ändern kann.
Erahntes, kommendes Wirken Jesu hat auch Karl Hartenstein nicht getäuscht, als er in unser Land hineingerufen hat mit der Botschaft vom wiederkommenden Herrn.
Es gibt eine Vorahnung des kommenden Herrn Jesus, besonders eine Vorahnung darauf, dass der Herr sich schützen und seine Knechte zu Tisch bitten wird. Und er wird kommen und ihnen dienen, so steht es in Lukas 12.
Der Herr wird sich aufschützen, die Knechte zu Tisch bitten und ihnen dienen.
Bengel hat an den Rand seines Testaments geschrieben: maxima promissio – größte Verheißung, die es gibt, dass der Herr uns dient.
In allen Religionen ist es wichtig, dass wir Gott dienen, dass wir für Gott etwas tun, dass wir Gott Freude machen. Maxima promissio – größte Verheißung: Er wird uns Armen, Geschlagenen, Mühseligen und Beladenen dienen.
Lied und Gebet als Ausdruck der Erkenntnis
Vorahnung des Kommenden. Aber es wird Zeit, dass wir zwischendurch noch ein Bengellied singen, und zwar das Lied „Du Wort des Vaters Rede du und stille meine Sinnen“ (Lied 499). Wenn Sie ein Gesangbuch haben, gibt es zwei große Lieder von Bengel darin. Eines davon ist „Du Wort des Vaters Rede du“.
Ich hatte einmal einen Chef, einen Dekan, der der liturgischen Bewegung nahestand, aber mit dem Pietismus überhaupt nichts zu tun hatte. Er sagte, das größte Lied in unserem Gesangbuch sei „Du Wort des Vaters Rede du und stille meine Sinne, vollführe deine Wunderschlacht in mir, dass meine Gedanken still werden“. Also lesen wir von diesem Lied 499 die Strophen 1 und 2. Wenn Sie noch Kraft haben, auch die Strophen 9 und 10. So lesen wir es, damit es uns noch einmal bewusst wird.
Dann wird deine Majestät mich ganz zum Tempel haben, die Majestät Gottes darin. Sie erhöht ihren Ruhm durch ihre hohen Gaben. An solchem stillen Ort wird die Weisheit ihr geheimes Wort nach ihrem Willen führen, den gegenwärtigen Jesus erkennen und wirken lassen und ihren Sitz je mehr und mehr mit ihren Wundern, Pracht und großen Taten zieren.
Und jetzt ein Vers zum Sehen: Wohlan, so lebe Gott in mir! So hören wir in dieser Nachmittagsstunde auch Bengels eigene Worte. Sonst ist die Theologie Bengels etwas spröde, auch dadurch, dass er alles in Latein verfasst hat. Karl Friedrich Werner, der dann den Gnomo und dieses Erklärungswerk übersetzt hat, hat manches nicht so wiedergegeben, dass es uns spontan ergreift. Deshalb sind wir dankbar, dass Philipp Friedrich Hiller im Grunde genommen die bengelsche Theologie so in zu Herzen gehenden Sätzen und Versen gefasst hat, dass wir alle, die wir Hillerlieder lieben, mehr bengelsche Theologie intus haben, als wir überhaupt wissen.
Also Jesus hinterhersehend erkennen, den gegenwärtigen Jesus erkennen. Beten Sie doch morgens: Herr Jesus, lass mich Deine Wirklichkeit begreifen, dass Du da bist, näher als ich denke! Und wir dürfen den kommenden Jesus erahnend schon erkennen, sodass wir auch nicht auf alle Dummheiten hereinfallen, wenn uns die Welt sagt, das sei eine Erlösergestalt, die wird helfen. Ach nein, wir erahnen Jesus, den Kommenden, der sich schützen wird und uns zu Tisch dienen.
Maxima promission – wie Wilhelm Weichle, der Pfarrer, der 1912 in Essen das Jugendhaus baute, mitten in der Ruhrgebietsmetropole. Ein Jugendhaus, in dem junge Menschen alles finden können, was ihnen Freude macht. Vor allem aber sollen sie Jesus finden. Er ließ in der Eingangshalle ein großes Bild anbringen, das den wiederkommenden Jesus auf dem weißen Ross zeigt – künstlerisch fast schon in der Nähe des Kitschigen.
Als ein Besucher fragte: „Du hast ja hier junge Burschen, im Ruhrgebiet, Kohlenpott, was soll denn das Gemälde?“, antwortete Wilhelm Weichle: „Sonntags sind die jungen Burschen hier im Jugendhaus, und schon morgen sind sie wieder in der Grube oder im Bergwerk oder Stahlwerk, in all dem Schmutz, im zotenreichen Geschwätz, im gottlosen Gewäsch. Und da soll ihnen das Bild vor Augen stehen: Das alles geht vorbei. Selbst die ganze Macht des Industriereviers. Allein Jesus hat Zukunft.“ Den Zukünftigen erahnend schon erkennen.
Das hat er Gustav Heinemann im Jahr 1949 beim Essener Nachkriegskirchentag gesagt. Damals war Gustav Heinemann gerade Innenminister der Bundesrepublik geworden. Er war vorher Oberbürgermeister in Essen gewesen und hat bei der Abschlusskundgebung hineingerufen: Es war ein regenverhangener Himmel, und im Ruhrgebiet gab es damals noch keinen blauen Himmel, sondern immer nur Kohlestaub, Schmutz und Abgase. Er sagte: „In diese Welt hinein sagen wir: Eure Herren gehen. Unser Herr kommt!“
Heinemann war Vorsitzender des Weiglehaus-Vereins. Er war als junger Bursche schon ins Weiglehaus gekommen. Er hat diese Botschaft vom kommenden König Jesus aufgenommen und in unsere Zeit übersetzt, sodass das Wort heute zitiert wird und vielen Leuten in den Mund gelegt wird – Bonhoeffer oder Niemöller zum Beispiel. Gustav Heinemann hat es damals gesagt, unser späterer Bundespräsident. Das war unter regenverhangenem Himmel im verrußten Ruhrgebiet.
Einbruch der Weltgottes – das ist ewiges Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen, den kommenden Herr der Welt.
Schluss und Gebet
Wir sind dankbar, dass Gott uns diesen Zeugen, unseren Lehrmeister Johann Albrecht Bengel, geschenkt hat. So werden wir daran erinnert: Cognitio in negocio salutis est maximi momenti – der größte Augenblick in der ganzen Sache des Heils ist, wenn wir erkennen.
So bist du, Jesus, du bist so nahe, und du kommst. Das ist das Ziel.
Wir wollen jetzt das andere Lied von Johann Albrecht Bengel, Nummer 544, singen: „Gott lebt, sein Name gibt Leben und Stärke“. Jede der vier Strophen ist sehr wichtig. Deshalb wollen wir alle vier Strophen singen. Zuerst singen wir die Strophen eins und zwei. Danach darf ich mit Ihnen beten, und anschließend singen wir die Strophen drei und vier.
Herr, das haben wir gesungen: „Versuchet, erkennt und lobet den Herrn.“ Wir wollen erkennen.
Es ist ja nicht bloß so, lieber Vater im Himmel, dass du uns durch deinen Sohn mitgeteilt hast, dass du willst, dass wir zur Erkenntnis kommen. In uns ist doch auch ein Sehnen, Gewissheit zu bekommen, gehalten zu sein von dir.
So öffne uns die Augen. Gib uns, wie es in deinem Wort heißt, geöffnete Augen des Herzens. Vollbringe das Wunder, das du dort vor Emmaus getan hast. Da wurden ihre Augen geöffnet, da sie ihn sahen.
Herr, so lass uns erkennen! Amen!
In linden und leichten, erträglichen Tagen wollen wir die Strophen drei und vier von dem Bengellied „Gott lebt!“ singen.