Die Bedeutung und der Wert der Gnade in unserer Zeit
Liebe Freunde,
darauf habe ich mich gefreut: dass wir gemeinsam diese Entdeckungsreise machen können, um zu verstehen, was Gnade ist. Dieser Begriff ist in unserem Volk ein wenig verloren gegangen. Manche halten ihn für veraltet oder verstaubt. Doch Politiker und sogar die Werbung benutzen diesen Begriff immer wieder. Dabei wird er oft missbraucht und dadurch entwertet.
Schon Wilhelm II. nannte sich Kaiser und König „von Gottes Gnaden“. Gottes Gnade ist jedoch etwas ganz anderes, nicht wahr? Selbst unser früherer Kanzler Kohl sprach gutmeinend von der „Gnade der späten Geburt“. Er hätte genauso gut sagen können: „Glücklicherweise wurde ich nicht so geboren, dass ich SS-Mann wurde, sondern später.“
Wir Eltern können davon sprechen, dass es eine Gnade ist, jeden Morgen gesund aufzuwachen. Junge Leute sagen das meist nicht. Ich sehe es als Gnade an, wenn sie liegen bleiben dürfen. Aber dann würden sie den Begriff Gnade gar nicht mehr benutzen.
Der Begriff Gnade ist in unserer Zeit beinahe ein Auslaufmodell. Deshalb ist es höchste Zeit, dass wir neu entdecken, was Gnade wirklich bedeutet. Es geht ja nicht nur darum, dass ein biblischer Begriff noch irgendwo im Kurs bleibt. Menschen werden arm, wenn sie nicht mehr wissen, was die Gnade unseres Herrn Jesus Christus ist. Menschen werden arm, wenn sie kein Verlangen mehr nach der Gnade unseres Herrn Jesus Christus haben.
Darum habe ich das Thema für den Abend gesetzt: Herrschaftswechsel. Jemand sagte mir jedoch, das sei genauso unverständlich. Was ein Regierungswechsel ist, wissen wir erst seit ein paar Monaten. Ob er zum Besseren ist, muss ich noch herausstellen.
Was ein Pfarrwechsel ist, wissen Sie auch. Bei der Investitur wurde gesagt: „Neue Besen kehren gut, aber alte wissen besser, wie es in der Ega aussieht.“
Herrschaftswechsel als Bild für die Gnade Gottes
Im Jahr 1843 gab es in Möttlingen einen Herrschaftswechsel. Der junge Pfarrer Johann Christoph Blumhart stand einer Frau gegenüber, die von Dämonen besessen war. Er war zunächst ziemlich hilflos. Lange betete er mit ihr, rang mit ihr und sprach ihr seelsorgerlich zu. Bis zu jenem Abend im Jahr 1843, an dem er sagte: „Jetzt haben wir lange genug gesehen, was der Teufel fertigbringt, Herr Jesus, jetzt wollen wir auch mal sehen, was du kannst.“
Dann geschah ein Herrschaftswechsel. Dort, wo zuvor Dämonen gewütet hatten, übernahm Jesus das Kommando.
Auch der Apostel Paulus erlebte einen Herrschaftswechsel in seinem Leben. Davon spricht er im Kapitel 5 des Römerbriefs. Dort beschreibt er, wie die Sünde mächtig geworden war. Doch die Gnade, merken Sie das Stichwort „Gnade“, wurde noch viel mächtiger. Paulus sagt: „Wie die Sünde geherrscht hat zum Tod hin, so herrsche auch die Gnade.“
Jetzt wird klar, warum ich vom Herrschaftswechsel spreche. Es geht um Herrschen, ums Regieren, um Chefsachen. Wer ist der Chef in unserem Leben? Ist es die Sünde? Das kann eine ganz derbe Sünde sein. Der Apostel Paulus selbst hatte keine derben Sünden in seinem Leben. Aber er stellte später fest, wohin ihn sein Fanatismus gerissen hatte. Er tat genau das, was Gott nicht wollte, und meinte dabei, Gott zu dienen.
Da waren ganz andere Kräfte am Werk. Wo die Sünde geherrscht hatte, da herrscht jetzt die Gnade. Paulus betonte das immer wieder in seinem Leben. Im 1. Korinther 15 sagt er: „Aus Gnade bin ich, was ich bin; seine Gnade ist an mir nicht vergeblich gewesen. Vielmehr habe ich mehr geschafft als ihr alle, aber nicht ich, sondern Gottes Gnade, die mit mir ist.“
Gottes Gnade kann sogar dazu beitragen, dass man in einem normalen 24-Stunden-Tag mehr leisten kann als sonst üblich. Es ist möglich, dass dadurch mehr herauskommt.
Der Apostel Paulus sagt im 1. Timotheus 1: „Ich war ein Lästerer und Verfolger und Schmähredner. Ich habe die Gemeinde Jesu verfolgt. Aber desto reicher ist die Gnade geworden. Sie hat mich stark gemacht, mir ein Amt gegeben und mein Leben sinnvoll gemacht.“
Die Kraft und das Wesen der Gnade
Herrschaftswechsel
Gnade ist nicht bloß ein wenig Sympathie Gottes, die uns gelegentlich liebevoll und wohlwollend betrachtet. Wenn Gott gnädig ist, dann geschieht etwas. Gnade ist voller göttlicher Vitalität und göttlichem Handeln.
Das wurde vor etwa dreihundert Jahren durch den Pietismus neu entdeckt. Zuvor hatte Martin Luther unserem Volk eindrucksvoll erklärt, was Gnade bedeutet: Wir werden gerecht gemacht vor Gott allein durch seine Gnade. Bei uns gibt es viele Sünden, doch bei Gott gibt es noch viel mehr Gnade.
Diese Wahrheit geriet in den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten jedoch in Vergessenheit. Immer wieder kommt es vor, dass wir gefüllte biblische Aussagen verwässern, abschleifen oder wie einen abgetretenen Läufer auf dem Boden zertreten.
Vor über 300 Jahren, als der Pietismus entstand, betrachtete man Gnade oft wie einen himmlischen Tropfen Öl. Wenn die Maschinerie der Kirche oder des Staates nicht mehr richtig funktionierte, brauchte man ein bisschen Gnade. Oder wenn Menschen nicht mehr richtig konnten, wenn sie müde wurden – das gab es ja auch damals schon. Das war dann gottnädig, wie eine religiöse Vitaminspritze.
Doch das brachte Pfarrer Philipp Jakob Spener auf die Palme. Das konnte es doch nicht sein! 1675 schrieb er eine kleine Flugschrift mit dem Titel Pia Desideria. Daraus entstand der Spitzname „Pietisten“ – ihr mit eurem, übersetzt, herzlichen Verlangen.
Wonach sehnte sich Spener so sehr? Er hatte das herzliche Verlangen, dass endlich ein paar Menschen die wahre Bedeutung der Gnade erkennen. Gnade ist nicht ein bisschen Sympathie Gottes, nicht ein bisschen Wohlwollen, nicht ein kleines Blinzeln, das zeigt, dass er es gut mit uns meint. Gnade ist vielmehr die überbordende, in unserem Leben nicht fassbare Kraft Gottes, die unser Leben verändern, prägen und neugestalten will.
Ich habe das herzliche Verlangen, so heißt es in Pia Desideria, dass einige Menschen das wieder begreifen: Jesus war keine Gestalt von gestern, sondern man kann sagen: „Ich lebe – ach was – nicht ich, sondern Christus lebt in mir.“
Philipp Jakob Spener erkannte die ganze Schönheit und Tiefe unseres Glaubens. Viel tiefer als alles Seicht-Religiöse zeigte er die Einzigartigkeit unseres Glaubens auf: dass ich wesensmäßig verbunden sein kann mit dem lebendigen Jesus Christus und dass wir die überschwängliche Kraft – so zitiert Spener aus der Bibel – die überschwängliche, verändernde Kraft Gottes in unserem Leben erfahren.
Die Geschichte August Hermann Frankes als Beispiel für gelebte Gnade
So hat es angefangen. Schon sieben Jahre später wurde einem Menschen das Auge geöffnet. Der 24-jährige August Hermann Franke möchte ich Ihnen einfach ein wenig aus der Geschichte des Pietismus erzählen, zumal dieser bereits sein zweihundertjähriges Jubiläum gefeiert hat.
August Hermann Franke, ein begabter junger Theologe, kam als Vikar nach Lüneburg. Man sagte ihm, er solle am Pfingstmontag die Predigt halten. Rechtzeitig erhielt er den Predigttext: Johannes 20. Darin steht, dass geschrieben ist, dass ihr glaubt, dass Jesus der Sohn Gottes ist, und dass ihr in diesem Glauben das Leben habt.
Er setzte sich hin, der begabte junge Mann, und begann, seine Predigt vorzubereiten. Er wollte erstens, zweitens, drittens schreiben, bis ihn plötzlich die Frage überfiel: Habe ich denn in Jesus das Leben? Was wäre anders in meinem Leben, wenn es Jesus gar nicht gäbe?
Gut, dann wäre ich nicht Pfarrer, dann gäbe es keine Kirche. Aber wäre ich vielleicht Lehrer? Wo hat denn Jesus mein Leben geprägt? Mein Leben ist geprägt durch meine Vorfahren, durch meine Erfahrungen, mein Studium und meine Freunde. Wo hat Jesus mein Leben geprägt? Ist denn eigentlich alles, was ich als Pfarrer von mir gebe, nur Geschwätz? Ist alles, was in der Kirche passiert, Routine? Bin ich ein Schauspieler vor mir selbst, vor der Gemeinde, vor meinen Mitmenschen, vor Gott?
Diese Fragen rissen ihn, wir sagen, in einen Abgrund der Verzweiflung. Auch Muslime sprechen schließlich von Allah. Ist denn unser Gott überhaupt real, oder ist das eine Einbildung von uns Christen? Wochenlang war er in dieser Verzweiflung gefangen, bis er schließlich an einem Abend rief: „Gott, wenn es dich überhaupt gibt, dann erweise dich mir, dass es dich gibt.“
In seiner Biografie beschreibt er dieses Erlebnis: Es war, als würde sich eine Hand wenden. Vorher war da Herr Zweifel – an sich selbst, am Christentum, am Glauben, an der Bibel, am Beten. Jetzt aber war Gewissheit da, wie wenn sich eine Hand wendet, wo vorher abgrundtiefe Verzweiflung und Angst waren. Plötzlich war Gottesnähe da. Gnade.
Gleichzeitig war da eine unvorstellbare Vitalität. Ich würde am liebsten heute Abend endlos erzählen, was August Hermann Franke alles geschafft hat. Er war Pfarrer in Glaura vor dem Stadttor von Halle und hat nebenbei das Theologiestudium völlig umgekrempelt – so, wie es Spener sieben Jahre zuvor eigentlich schon gefordert hatte. „Wir brauchen wieder gemeindegemäße Pfarrer, Seelsorger, nicht bloß Leute, die spitzfindige Fragen diskutieren.“
Neben einem vornehmen Institut für Adelskinder, in dem später auch Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf war, baute er das Waisenhaus von Halle auf. Wenn Sie den Stuttgarter Salonnenplatz mit dem Waisenhaus vergleichen, sehen Sie, dass es nach dem Vorbild des Waisenhauses in Halle gebaut wurde.
Die Kaiserin Katharina von Russland besuchte Franke und ließ sich sein pädagogisches System zeigen, um es in Russland zu übernehmen. Das gesamte preußische Schulwesen wurde nach den neuen pädagogischen Vorstellungen Frankes umgestaltet.
Er entdeckte, dass schwedische Offiziere in Gefangenschaft in Sibirien waren, und sorgte für sie. Er sagte zum Grafen Kahnstein: „Die Bibeln sind zu teuer. Richte eine Bibelanstalt für Volksausgaben von Bibeln ein.“
Er entsandte den ersten Missionar, Bartholomäus Ziegenbalg, nach Indien, wo noch niemand wusste, was Weltmission ist. Es war wie ein Vulkan von Kraft.
Heute werden Sie von ehrfürchtigen Führern durch die halleschen Anstalten geführt. Kürzlich gab es sogar eine Sonderbriefmarke. Franke baute das erste Naturalienkabinett auf. Er hat nicht bloß fromm gesäuselt, sondern hatte einen Blick für die Schöpfung Gottes.
Einer seiner engsten Mitarbeiter war der Richter überhaupt. Wenn Sie mal im Gesangbuch die Lebensläufe nachlesen, sehen Sie, dass ein neuer Thron evangelischen Singens von Halle ausging. Der Richter dichtete: „O Jesus, aus dem mein Leben fließt und alle Gnade sich ergießt in meine Seel zum Leben.“
Verstehen Sie, Franke hat neu entdeckt, was Gnade ist. Jesus persönlich strömt mit seiner Kraft, mit seiner verändernden Kraft in mein Leben ein.
Das war hundert Jahre, bevor die beiden Bernhäuser Webergesellen Metzger und Trautwein pietistische Impulse hierher nach Bernhausen brachten. Sie haben diese Impulse auch für Bernhausen und die Umgebung neu entdeckt und neu gefasst.
Die zentrale Botschaft des Pietismus über Gnade
Gnade ist nicht bloß ein bisschen Sympathie Gottes, nur ein wenig Wohlwollen, nicht eine Emotion oder eine Stimmung bei Gott. So heißt es in der Gnade: „Oh Jesus, aus dir fließt mein Leben, und alle Gnade ergießt sich in meine Seele zum Leben!“ Das ist ein neuer Lebensimpuls, eine neue Lebenswirklichkeit – nicht bloß eine Schubrakete. Jesus ist mein Lebenszentrum. So lebe ich nun – ach was, nicht ich, Christus lebt in mir.
Und liebe Schwestern und Brüder, wenn mich einst traurig gemacht hat, lieber Bruder Raftan, dass ich Herrn Prelat gesagt habe: „Hier bin ich der Bruder.“ Und bloß einer in Bernhausen darf nicht Bruder zu mir sagen, mein Sohn, der soll ruhig nur Vater sagen.
Also Gottes Gnade – das ist dem Pietismus hier in Württemberg anvertraut. Viele denken, Pietismus sei muffig und eng, spiessig. Die Stuttgarter Zeitung sagt immer, die Kehrwoche sei durch den Pietismus erfunden worden und alles, was muffig und eng und spiessig ist, sei pietistisch. Pietismus bedeutet aber nicht, dass man besondere Gemeinschaften hat, spezielles Liedgut, eine besondere Form des Betens oder einen besonderen Lebensstil. All das kann als Folge dazukommen.
Das Wesen des Pietismus ist, dass er entdeckt hat, was Gnade ist. Man kann sagen: Gott persönlich ist da. Das ist Gnade – dass Gott es mit uns Menschen zu tun haben will, nicht bloß befehlend, sondern verändernd. Das ist Gnade. Nicht bloß, dass man morgens gesund aufstehen kann, sondern dass es die Liebe Gottes ist, die dazu hilft. Gnade ist viel zu wertvoll, als dass wir sie in den Zusammenhängen, in denen wir sie gebrauchen, ausreichend erfassen könnten.
Und es wird dem Pietismus in Württemberg – ich muss es andersherum sagen, unserer Kirche in Württemberg – ich weiß, wovon ich spreche, dringend notwendig, diesen Ruf zur Sache aus dem Pietismus überzeugt und überzeugend auszusprechen. Wir haben es nicht mit Religiosität zu tun, mit Stimmung, Emotion oder Eindrücken, was ich für richtig halte, sondern Gott selbst muss wieder bei uns tätig werden.
Wir haben lange genug gesehen, was Menschen planten, vorhatten und als Lösung vorgeschlagen haben. Wir haben auch menschliche Ohnmacht erlebt – im Staat, in der Kirche, immer wieder auch im Pietismus. Und wir haben erlebt, was der Teufel kann. Wie in einer Welt, in der der Teufel los ist – das ist nicht bloß eine Redewendung. Jesus nennt den Teufel den Fürsten dieser Welt.
Wir haben es lange genug gesehen. Jetzt wollen wir auch sehen, was Jesus kann. Aber – und jetzt bin ich beim zweiten Teil.
Die besondere Gnade unseres Herrn Jesus Christus
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus – Sie kennen das aus unserer liturgischen Formel. Es ist ein Wort aus dem Korintherbrief: „Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns.“ Die Gnade Jesu Christi ist etwas ganz Besonderes.
Nicht umsonst hat der Apostel Paulus so genau formuliert. Er hat nicht gesagt: „Die Gnade Gottes und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft Gottes sei mit uns.“ Wir müssen aufpassen, denn die Bibel ist sehr differenziert und spricht genau von dem, was sie sagen will. Dabei besteht immer die Gefahr, alles in einen Topf zu werfen.
Von Gnade wurde schon viel in Israel gesprochen. In Jesaja 63 etwa heißt es: „Wie viel Gedenken der Gnade des Herrn und der Ruhmestaten, die er seinem Volk erwiesen hat.“ Man wusste damals schon, dass Gnade etwas mit dem Tun Gottes zu tun hat. Er errettet, befreit, führt, speist in der Wüste, tränkt dort, wo es kein Wasser gibt, und bewahrt. Er führt zum Ziel. Gnade bedeutet, dass Gott etwas tut.
Aber die Gnade Jesu Christi – mein Bruder Kurt, der Philologe, Historiker und Geschäftsführer in der Welt ist, sagt immer: „Warum sprecht ihr immer ‚Jesu Christi‘? Dieser alte lateinische Genitiv – sprecht doch von Jesus Christus! Die Gnade des Herrn Jesus Christus! Sprecht das doch noch einmal aus, sonst weiß jemand, der neu mit dem Glauben anfängt, nie, ob er sagen muss: ‚Christi ist mein Herr‘ oder ‚Ich liebe Christa‘, oder ob das wieder etwas anderes ist.“
Die Gnade Jesu Christi – davon spricht der Apostel Paulus sehr pointiert. Wir haben gesehen, die Herrlichkeit Gottes dort, wo Jesus war. Wir sahen seine Herrlichkeit – eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater. Wie geht es weiter? Voller Gnade! Das war das Wichtigste!
Und denken Sie nun nicht einmal, Herr Jesus habe uns nur lieb gehabt. Sondern, so wie es die Evangelien berichten, da sprudelte alles nur so vor Vitalität und dem Tun Gottes. Voller Gnade, voller Zuwendung zu den Menschen, sodass Jesus Menschen bei der Hand nahm, sie sah und zu sich führen ließ. Er legte schon den kleinen Kindern die Hände auf.
Bei Jesus wurde eindeutig, was Gnade bedeutet. Jesus kann Menschen verändern. Jesus kann Menschen neu machen. Jesus kann uns einen Ekel geben vor dem, was vor Gott nicht recht ist. Jesus kann uns ein Sensorium, einen Sinn dafür geben, dass wir plötzlich wissen, was Gott wichtig ist.
Für Jesus ist kein einziger Mensch – auch heute Abend nicht – ein hoffnungsloser Fall, bei dem er sagen müsste: „Ich bin eben so.“ Jesus hat niemanden gefragt: „Wie alt bist du? Kann man dich noch verändern?“ Stattdessen hat Jesus Leben verändert.
Jesus kann die sündige Welt mit Gott versöhnen. Er kann Menschen losmachen von unserem Ich, von der Gebundenheit an unsere Verliebtheiten und an unsere Verbitterung. Ich bin da schon mal aufgegangen: Unser Leben wird stark bestimmt von dem, wo wir bitter sind, stocksauer, und von unseren geheimen Lieben, Vorlieben und Sehnsüchten.
Jesus kann uns freimachen, sodass plötzlich das wichtig wird, was vor Gott wichtig ist. Er kann unser umgetriebenes, ängstliches, gejagtes Herz festmachen. All das steht in der Bibel in wunderbaren Geschichten. Diese Geschichten stehen nicht nur dort, damit wir weitere Erzählungen haben. Das, was Jesus getan hat, das kann er erst recht heute tun – nachdem Gott ihm alle Kraft, alle Macht und alle Gewalt übertragen hat.
Jesus lebt, und viele haben es in den vergangenen Jahrhunderten auch hier in Bernhausen erfahren. Und jedes von uns kann es ebenfalls erfahren, was Jesus in seiner Zuwendung zu uns neu machen kann. Die Gnade dieses Einen – so sagt der Apostel Paulus im Römerbrief 6 – entscheidet darüber, was Leben ist oder wo unser Leben umsonst ist.
Die Herausforderung, Gottes Gnade im Alltag zu erkennen und zu leben
Können Sie überhaupt noch zuhören? Ich frage das, weil das, was ich jetzt sagen will, Sie unter keinen Umständen überhören dürfen.
Zwei Drittel der Bibel sind das Alte Testament. Und zwei Drittel davon bestehen aus Erzählungen, die ganz anschaulich zeigen, wie Gott ein Volk erwählt hat, es aus der Sklaverei befreite, durch die Wüste führte und ins gelobte Land brachte. Er gab ihm Propheten, Könige, den Versöhnungstag und Gottesdienst und überschüttete es mit Gutem.
In der Bibel steht ganz ehrlich geschrieben – wir werden morgen noch einmal darauf zurückkommen –, dass Gott in großem Schmerz sagt: „Sie kehren mir den Rücken zu und nicht das Angesicht. Sie verlassen mich, die lebendige Quelle des Lebens, und machen sich hier und dort löchrige Brunnen, die doch kein Wasser geben.“ Sie leben den Tag hinein, wie sie wollen, kommen aber trotzdem in den Tempel und sagen: „Hier ist der Herr im Tempel, und alles ist in Ordnung.“
Was sollte Gott an uns auszusetzen haben? Gott liebt und liebt und liebt. Es gibt offenbar Mächte, die selbst das von Gott geliebte und erwählte Volk daran gehindert haben, dass Gott das tun konnte, was er wollte: es zu seinem strahlenden Volk zu machen, sodass die Völker der Welt sagen würden: „Diesen Gott müssten wir auch haben.“
Stattdessen hat Israel immer wieder die Götter der anderen Völker akzeptiert. Vielleicht hilft der Baal doch, so wie wir heute sagen: Vielleicht hilft ein gutes Bankkonto, oder man sollte doch auf Aktien umsteigen. Das sind die Götter unserer Zeit. Ich traue dem lebendigen Gott nicht das Entscheidende meines Lebens zu.
Martin Luther hat von dieser Machtkoalition, von diesem Bündnis gesprochen, das es in unserer Welt gibt, in seiner Auslegung der dritten Vaterunser-Bitte. Leider wird diese oft nicht mehr gelernt. Vielleicht haben es manche von Ihnen gelernt: Dass der Teufel, die Welt und unser eigenes Ich sich verbünden, damit es nicht zu Gottes Reich kommt.
Der Teufel, die Welt, auch unsere Umwelt – was alles los ist –, mein voll gefüllter Terminkalender und das, was mich gerade reizt oder Spaß macht: Das ist eine Machtkoalition, die mich von Gott abzieht oder sagt: „Na ja, ist mir im Augenblick schnuppe. Wenn ich mal im Krankenhaus bin, dann brauche ich wieder Gottes Gnade. Die kann er für andere aufsparen, im Augenblick brauche ich sie nicht.“
Woher kommt das? Gott hat alles Gute für uns vorgesehen, dass unser Leben von Gotteskraft und Gottesherrlichkeit durchdrungen wird. Dass uns nicht tausend Stricke nach unten ziehen, sondern dass wir erhoben werden. Deshalb suchen so viele Menschen Meditation und Erhebung. So können wir viel Nähe zum lebendigen Gott haben.
Woher kommt es, dass ich in meiner Bibel lese, wir morgens die Losung lesen, und wenn uns jemand fünf Minuten später fragt, was wir gelesen haben, wir nur wissen, dass irgendwas von Gott vorkam? Wenn uns jemand fragt, welche Schlagzeile in der Zeitung stand, wüssten wir das. Wie der VfB gespielt hat, wüssten wir, wenn er zufällig mal gewonnen hat. Warum ziehen uns Mächte von Gott weg?
Die Frage wird gar nicht beantwortet, es wird nur gesagt: Jesus hat diesen Kampf aufgenommen. Er war ein kleiner Kerl in der Stuttgarter Furtbachstraße. Unsere Mutter hat uns Kindern nichts erzählt, sondern immer nur in der engsten Familie gesagt: „Einer von euch fünf Brüdern darf mich in der Stunde begleiten.“ Das war ein Ehrendienst.
So sind wir ab und zu als junge Leute in die Stunde gegangen. Sonst wären wir sicher auch nicht hingegangen. Sagen Sie es auch Ihren Angehörigen: „Heute darfst du mich begleiten.“ Das wäre mir eine Hilfe.
Und da hat mich dieser Vers getroffen: „Herr, habe Acht auf mich und lass mich ritterlich den Kampf bestehen.“ Damals war ich sechzehn. Der Vers hat mir geholfen: „Wenn Satan, Sünd und Welt mich stürmend überfällt, nicht übergehen, nicht aufgeben, Herr, habe Acht auf mich.“ Versehen Sie, das ist Gnade.
Der Herr Jesus hat diesen Kampf aufgenommen. Das ganze Neue Testament berichtet uns, dass Jesus, der Sohn Gottes, Jesus von Nazaret, von seinem ersten Wirken an vom Teufel versucht wurde. Es war ein Kampf mit Dämonengeistern bis hin zur Kreuzigung.
Jesus sagt seinen Jüngern: „Jetzt kommt der Fürst dieser Welt, aber er hat keine Macht über mich.“ Das ist das Besondere an Jesus Christus, an der Gnade unseres Herrn Jesus Christus. Das ganz Besondere ist, dass er kämpft gegen den Teufel und stärker bleibt als alle Mächte der Finsternis.
Deshalb kann er auch sagen: „Petrus, selbst wenn der Teufel dich herumkriegen will und es versucht, ich habe für dich gebetet, dass dein Glaube nicht aufhöre.“ Das ist die Gnade Jesu Christi. Er ist der Stärkere als alle Versuchung.
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus sei mit euch. Sie können nichts Wichtigeres am Morgen beten als: „Herr Jesus, deine Gnade sei mit mir! Bewahre mich vor meinen eigenen dummen Gedanken, bewahre mich vor meinem Mundwerk, das viel zu schnell losschießt, bewahre mich vor meinem Hass, bewahre mich vor meiner Ungeduld, vor allem, was an Dämonischem in mir ist. Herr Jesus, bewahre du mich!“
Die Gnade unseres Herrn Jesus ist eine kämpfende Gnade.
Die Einladung zum Herrschaftswechsel im Leben
Diesen Herrschaftswechsel können wir nicht selbst vollziehen. Doch der Herr Jesus steht vor der Tür und möchte gern die Herrschaft über unser Leben übernehmen. Wir können es wollen, dass er über uns herrscht.
Deshalb bin ich beim Letzten: Ich will das, was du, Jesus, kannst. Herr Jesus drängt sich uns nicht auf. Deshalb gibt es quer durch die Bibel eine große Sorge: „Ich ermahne euch, liebe Schwestern und Brüder, dass ihr die Gnade Gottes nicht vergeblich empfangt.“ Bleibt in der Gnade Jesu! Hindert doch Jesu Gnade nicht!
Jesus steht nicht bloß in Laodicea (Offenbarung 3) vor der Tür und klopft an. Dort ist eine Gemeinde, die meint, bei uns läuft es wie in Neufen, Oeschingen, Gommeringen und auch Bernhausen. Da ist was los, andere Leute können sich was abschneiden. Und Jesus sagt: „Halt, du sagst, ich bin reich und ich brauche nichts, wir kommen allein durch, ich bin tolle Opfer.“ Aber ich stehe vor der Tür. Bisher habe ich bei euch noch nicht viel wirken dürfen.
Wie steht es mit der Gnade des Jesus Christus? Behandeln wir ihn wie einen Asylanten, den wir am liebsten schnell wieder abschieben würden? Kommen wir schon allein durch? Oder lassen wir uns anstecken von dem, was Johannes im ersten Johannesbrief schreibt? Von seiner Fülle haben wir genommen: Gnade um Gnade (Johannes 1,16).
Es gibt ein schönes Pfingstlied, das heißt: „Denn der Geist der Gnaden hat sich eingeladen, ich möchte gern bäumig sein. Der Geist der Gnaden hat sich eingeladen, macht ihm die Bahn.“
Nicht weit von hier in Denkendorf lebte Johann Albrecht Bengel. Er hat lange mit Gott gehadert, weil er beinahe drei Jahrzehnte seines Lebens, er, der begabte Theologe, nicht nach Tübingen berufen wurde und sich stattdessen mit elf- und zwölfjährigen Buben abgeben musste. Dann hat er entdeckt: Der lebendige Herr Jesus, wenn er da ist, kann wirken, dass selbst aus diesen elf- und zwölfjährigen Buben ein Segen für das Herzogtum wird. Danach waren es Magnus Friedrich Roos und Philipp Friedrich Hiller.
Jeder Jungscharhelfer und jeder Kindergottesdienstmitarbeiter muss wissen: Wenn Gottes Gnade da ist und er etwas macht, dann wird auch bei Elf- und Zwölfjährigen Entscheidendes daraus. Dann wird unser Land anders.
Dieser Johann Albrecht Bengel, der die Bibel kannte – ein Standardwerk, das heute von uns Theologen immer noch benutzt wird – sagte, die schönste Verheißung, die schönste Zusage in der Bibel sei, dass der Hausherr sich aufmachen wird, seinen armen Knechten und Mägden dienen wird und ihnen auftragen wird.
Es ist die Ehre des gnädigen Gottes, dass er uns viel mehr gibt, als wir bisher Gott danken. Viel mehr ist die Ehre Gottes.
Vom englischen Flickschuster William Carey, dem großen Missionspionier, ist das Wort überliefert, dass er nach sieben Jahren erfolgloser Tätigkeit in Serampur sagte: „Lasst uns endlich Großes von Jesus erwarten!“ Vorher hat er sich für Jesus eingesetzt, er hat für die Sache Jesu geschafft, er hat Opfer gebracht. „Lasst uns doch endlich damit rechnen, dass es die Gnade unseres Herrn Jesus Christus gibt, dass er etwas tut und nicht bloß ein bisschen Wohlwollen darüber gießt, Tropfen Öl.“
Und genau so lasst uns endlich etwas Großes von Jesus erwarten. Das hätte auch Charlotte Reilens sagen können, die Chemnitzer Pfarrerstochter, die das evangelische Stuttgart geprägt hat – mit dem Wohltätigkeitsverein, mit der Gründung des Diakonissenhauses, dem ersten Stuttgarter Missionsfest. Oder eine Kaufmannsfrau oder die Mutter Kanz, die in Großheppach die Kinderschwestern eingerichtet hat, die Schwesternschaft. Was haben diese einsamen Frauen für Württemberg getan! Lasst uns endlich von Jesus etwas erwarten!
Als ich etwa 14 oder 15 Jahre alt war, nach dem Zusammenbruch, kam das Lied „Unser Land für Jesus“ auf, das mir zum Gebet geworden ist. Dieser Schlussvers: „Auch mein Herz für Jesus, König, ziehe ein, meinen Willen beuge, herrsche du allein!“
An diesem Geschäft ist der Herr Jesus bis heute noch bei mir, und ich habe es nötig, dass ich ihn täglich bitte: „Meinen Willen beuge, herrsche du allein!“ Gnade soll sich mächtiger erweisen als alles, was mich von Jesus abziehen will.
Die göttliche Kraft, so heißt es in meinem Gesangbuch, macht uns sieghaft durch Jesus Christus.
Amen. Jetzt bin ich beinahe am Ende.
Praktische Schritte zum Festhalten an der Gnade
Wie macht man es praktisch? Karl Gutbrot durfte lange in ihrer Gemeinde leben und war dankbar dafür. Er hat uns im Pfarrseminar und Diakonie-Seminar immer wieder als Seelsorger sagen können, dass man auch festmachen muss, dass man es will – die Gnade unseres Herrn Jesus Christus.
Er hat empfohlen, hinten in die Bibel ein Datum einzutragen und das Kreuzzeichen des Jesus-Kreuzes zu machen. Man muss kein großer Zeichner sein, es geht schnell. Dort, wo sonst am Kreuz das Jesus Nazarenus Rex Judaeorum steht, also INRI, schreibt er die eigenen Initialen hinein, zum Beispiel Rsch. Das ist kein Talisman, aber es soll festmachen: Herr Jesus, ich warte auf deine Gnade, ich warte auf dich persönlich. Ich bin gespannt, was du aus meinem Leben machen kannst.
Ich darf mit Ihnen beten: Herr Jesus Christus, wir bitten dich, dass du auch bei uns noch einmal neu handeln willst, heilen willst und befreien willst aus allem, was uns von dir abzieht. Zerstöre die Werke des Teufels, damit wir wirklich dir gehören.
Du weißt, wo es heute Abend echt ist, und du weißt, wie schnell manche wieder zu Hause sein können. Was uns wichtiger sein soll als die Telefonanrufe und die unbezahlten Rechnungen. Herr Jesus, erweise dich als die Stärke, damit wir dabei bleiben.
Herr Jesus, ich will deine Gnade haben. Herrsche du allein. Deine Gnade, Herr Jesus, sei mit uns allen. Amen.