An Christus kommt keiner vorbei. So schrieben die Augsburger Galeristen und baten zeitgenössische Künstler um ihr Christusbild. Das Ergebnis war in einer Aufstellung im Hohen Dom der Bischofsstadt zu besichtigen. Hermann Goppelt aus Stuttgart zeigte auf einem Votivbild "Christus und die Krücke". Wie weggeworfen, unbenutzt, einfach übrig liegt dieser Metallstock auf der Straße. Wo der Heiland seine segnenden Hände erhebt, werden Gliedmaße wieder heil und stark. Oder Hans-Oiseau Kalkmann aus Bodenburg zeigte an seinem Blechkreuz "Christus und die Saat". Der mit Erde aufgefüllte Kruzifix ließ die eingesäten Samenkörner aufgehen. Wo der Geist des Herrn ist, wo er weht und treibt, da blüht der Weizen. Oder Gerd Tagwerker aus Leinfelden-Echterdingen zeigte mit einem Bronzemodell "Christus und der Mensch". Gleichsam als Querbalken hat er einen Kaputten geschultert. Wo der Gekreuzigte zum Menschen kommt, trägt er ihn als Kreuz. Oder Emil Scheibe in München zeigte "Christus und die Stadt". Oder Ursula Stock aus Güglingen zeigte "Christus und die Dorne". Oder Hans Schreiner von hier zeigte "Christus und die Rose".
Was hätten wir gezeigt? Zwar sind wir um keinen Beitrag gefragt worden, weil vielleicht unsere künstlerische Begabung allenfalls Mittelmaß ist. Aber angenommen, wir wären über den Leistungskurs Kunst am Gymnasium und einem Studium an der Kunsthochschule bis zum Kreis der Angefragten vorgestoßen, was hätten wir gezeigt? Vielleicht "Christus und die Taube"? Wo der Wehrlose zwischen die Fronten tritt, kehrt Friede ein. Oder "Christus und die Waage"? Wo der Weltenrichter die Lasten auf die Schale legt, wird endlich Gerechtigkeit herrschen. Oder "Christus und das Herz"? Wo der Meister die Sünderin nicht verdammt, hat die Liebe gesiegt.
Liebe Freunde, auf das, was dieser Johannes aber zeigt, wären wir sicher nicht gekommen. Auf das, was dieser Jünger beiträgt, wären wir gar nie gestoßen. Dieses Bild des Evangelisten ist anders als alle andern Bilder. "Jesus und die Geißel" heißt sein Thema. Auch wenn wir wir lieber die Taube in seiner Hand sähen, er sieht die Geißel. Auch wenn wir lieber die Waage an seinen Fingern kennten, er kennt die Geißel. Auch wenn wir lieber die Kinder auf seinem Arm malten, er malt die Geißel. Mit seinem Beitrag "Jesus und die Geißel" hat Johannes das Thema nicht verfehlt.
Immer wieder führt Gott die Geißel gegen den Menschen. Sie muss nicht immer aus Stricken gedreht sein. In Ägypten bestand sie aus zehn Plagen. In der Wüste wurde sie aus Schlangen gebildet. In Kanaan hatte sie die Form von blutigen Kriegen. Ob sie heute bei uns wie Aids oder Krebs aussieht, weiß ich nicht. Aber das weiß ich, dass Gott mit der Geißel nie peinigen, sondern immer reinigen will. Und wenn Sie das auch wissen, dass der Schlag, der Sie getroffen hat, der Schmerz, der Ihnen zugefügt wurde, die Last, die Sie zu Boden drückt, dass jede Geißel in seiner Hand nur ein Instrument der Reinigung und nicht der Peinigung ist, dann fängt dieser Sonntag gut an.
Aber nun schauen wir uns diesen johanneischen Beitrag "Jesus und die Geißel" näher an.
1. Jesus vor der Geißel
"Und Jesus zog hinauf nach Jerusalem." Schon mit 12 Jahren ist er dort hinaufgezogen. Deshalb wusste er auch, wie dieser Zug aussieht. Zuerst steht man vor den Mauern der Stadt. Die Wallfahrer stimmen den l22. Psalm an: "Lasset uns ziehen zum Hause des Herrn. Nun stehen unsere Füße in deinen Toren, Jerusalem." Dann steht man vor dem Vorhof der Heiden. Dieser Tempelbezirk ist auch für solche geöffnet, die nicht zum auserwählten Volk gehören. Dann steht man vor dem Vorhof der Juden. Nur Nachkommen der zwölf Stämme Israels dürfen sich hier versammeln. Und dann steht man vor dem Heiligen. Dieser rechteckige Bau birgt den Schaubrottisch, den siebenarmigen Leuchter, den Rauchopferaltar und das Allerheiligste mit der Bundeslade.
Diesmal aber stand Jesus vor etwas ganz anderem. Er sah nicht die Stühle der Wachen, die Bänke der Pilger, die Altäre der Priester, sondern nur die Tische der Wechsler, die Käfige der Krämer, die Stände der Händler. Er hörte nicht das Beten der Männer, das Singen der Frauen, das Loben der Kinder, sondern nur das Brüllen der Ochsen, das Blöken der Schafe, das Gurren der Tauben. Er roch nicht den Duft der Kerzen, den Rauch der Opfer, das Blut der Tiere, sondern nur den Mist der Rinder, den Mief der Leiber, den Gestank eines Viehmarkts. Jesus stand vor einem bösen Kuhhandel, mit dem sie dieses Bethaus geißelten. Jeder wollte ein gutes Geschäft machen: "Ich gebe, er gibt dafür". Jeder wollte den großen Reibach machen: "Ich biete, er bietet dafür". Jeder wollte auf seine Rechnung kommen: "Ich zahle, du zahlst dafür". "Do ut des", ich gebe, damit du mir geben kannst. Nach diesem altrömischen Satz ging es jetzt. Das Gotteshaus war zum Warenhaus geworden.
Gewiss ist der Jerusalemer Tempel am 10. August 70, und dieses Datums gedenken wir alljährlich am heutigen 10. Sonntag nach Dreieinigkeit, von römischen Legionären in Schutt und Asche gelegt worden, aber unsere Kirchen und Kapellen sind auch Stätten, in denen seine Ehre wohnen will. Immer, wenn an diesen Orten gehandelt wird, ist höchste Gefahr im Verzug. Jede Geschäftemacherei ist eine böse Geißel, die diese Plätze entehrt. Der fromme Kuhhandel ist eine schreckliche Verkehrung. Wir geben unsere Pfennige der Anständigkeit und er gibt dafür seine ganze Gerechtigkeit. Wir bieten unsere Groschen der Freundlichkeit und er bietet dafür seine ganze Herrlichkeit. Wir zahlen unsere Kreuzer der Ehrlichkeit und er zahlt dafür seine ganze Ewigkeit. Mit unseren schäbigen Währungen, die bei Lichte besehen, keinen Pfifferling wert sind, wollen wir uns den Himmel und seine ganze Seligkeit einhandeln. Oder ist einer hier, der nichts von seiner armseligen Krämerseele wüsste?
Jesus vor der Geißel.
2. Jesus mit der Geißel
"Und er machte eine Geißel aus Stricken und trieb sie alle zum Tempel hinaus." Hölzerne Tische werden umgestoßen. Knarrende Käfige fallen übereinander. Erschreckte Makler raffen ihr Geld zusammen. Geldhungrige Menschen verlassen mit ihrem Tingeltangel den Tempelplatz. Das Hauptportal vom Großmünster in Zürich zeigt einen Händler, der über die Tempelstufen hinab seinem verscheuchten Huhn nachjagt: "Hilfe, mein Hühnchen!" Während die Geißel über seinen Kopf hinwegfegt, hat er nichts anderes im Kopf als sein armes Federvieh. Die Sorge um unseren Kleinkram ist anscheinend viel größer als die Angst vor Gottes Gericht.
Auf dem Viehmarkt zieht wieder die Ruhe ein. In den Vorhöfen kehrt wieder die Stille zurück. Ein wohltuender Friede macht sich im Tempel breit. Das Warenhaus ist wieder zum Vaterhaus geworden. Es wird nicht mehr gegeben, sondern genommen. Es wird nicht mehr geboten, sondern angeboten. Es wird nicht mehr bezahlt, sondern nur noch geschenkt.
Im Vaterhaus wird nie bezahlt. Im Vaterhaus wird nur geschenkt. Das erleben doch viele Studenten. Bei ihrer Wirtin bezahlen sie 200 Miete für ihre Bude, kalt natürlich, für Licht und Wärme wird extra kassiert. In der Mensa bezahlen sie 4 Mark für ihren Bon, vergleichsweise billig, aber für einen Studiker ein nettes Sümmchen. Auf dem Bahnhof bezahlen sie 12 Mark für die Heimfahrt, 50 % ermäßigt, aber doppelt so teuer wie zu Vaters Zeiten. Und am Wochenende und in den Semesterferien ist alles umsonst. Kost und Logis gratis. Heizung und Beleuchtung zum Nulltarif. Wagen und Benzin ohne Kilometergeld. Alles ist frei, alles ist umsonst und alles ist mit Liebe gegeben. Das eben ist das Vaterhaus.
Warum kommen wir mit unseren Pfennigen der guten Werke? Im Vaterhaus wird nicht bezahlt. Warum kommen wir mit unseren Groschen der lieben Gedanken? Im Vaterhaus wird nicht bezahlt. Warum kommen wir mit unseren Kreuzern der Gaben für mildtätige Zwecke? Im Vaterhaus wird nie bezahlt. Im Vaterhaus wird nur geschenkt. Stille zum Beispiel für solche, die dem Stress der Woche für eine Stunde entfliehen wollen, weil die Nerven nicht mehr mitspielen. "Herr, ich hab lieb die Stätte, in der deine Ehre wohnt." Und "der Herr ist in seinem heiligen Tempel, es sei stille vor ihm alle Welt." Im Vaterhaus wird nur geschenkt. Vergebung zum Beispiel, für solche, die von Schuld zerfressen sind, weil eine Lebensbeziehung in die Brüche gegangen ist. "Und wenn deine Schuld blutrot wäre, so soll sie doch schneeweiß werden." Im Vaterhaus wird nur geschenkt. Zuversicht zum Beispiel für solche, die in tiefer Ratlosigkeit stecken, weil sie den nächsten Schritt nicht mehr wissen. "Sorget nicht, sondern in allen Dingen lasset eure Bitten im Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kundwerden." Es gibt nichts, was nicht zum Mitnehmen bereitläge. Liebe, Freude, Friede, Geduld. Seine Lager sind randvoll. Freundlichkeit, Güte, Sanftmut, Keuschheit. Keiner muss mit leeren Händen hinausgehen. Nein, keine Sonderpreise, keine Schleuderpreise, keine Schnupperpreise. Im Vaterhaus wird nur geschenkt.
Das will Jesus mit der Geißel.
Aber damit keiner dem Irrtum verfällt, diese Geschenk- und Liebesaktion Gottes verursache keinerlei Kosten, ist dies Dritte hinzugefügt worden, nämlich
3. Jesus unter der Geißel
Noch lassen sie diesen Tempelreiniger seine Geißel schwingen. Kein wütender Händler fällt ihm in die Arme. Noch lassen sie diesen Saubermann seines Dienstes walten. Kein Makler stoppt seinen Alleingang. Noch lassen sie diesem Nazarener seinen Willen. Nicht einmal der Tempelkommandant greift ein und stoppt dieses kreditschädigende Tun. Aber bald wird sich das Blatt wenden. Ein ganz anderes Passahfest wirft seine dunklen Schatten voraus. Die Passionsgeschichte fängt an. Ein Judas verrät ihn. Ein Kaiphas verhört ihn. Ein Petrus verleugnet ihn. Ein Pilatus verurteilt ihn. Und dann flechten römische Milizionäre eine Geißel: Brecht das Genick ab! Brecht die Knochen ab! Brecht das Kreuz ab! Jesus selber hat es prophetisch vorausgesagt: "Brecht diesen Tempel ab!" Und auf Golgatha ist er endgültig zusammengebrochen.
Jesus unter der Geißel. Das sind die Kosten, die Gott aufbringt. Das ist die Bezahlung, die Gott bezahlt. Das ist sein hoher Preis. Billiger geht es nicht.
Wer also heute Vergebung und Zuversicht mitnimmt, Friede und Freude, Liebe und Geduld, der muss wissen: So teuer für ihn! Für mich ist's umsonst, sogar die Hoffnung über den Tod hinaus. "Brecht diesen Tempel ab und in drei Tagen will ich ihn aufrichten." Die Juden haben das nicht verstanden und dachten an ihren Tempel, der in 46 Jahren nicht ganz fertig geworden ist. Die Heiden haben das nicht verstanden und dachten an ihre Denkmäler, die in Jahrzehnten mühsam hochgezogen worden sind. Die meisten Menschen haben das nicht verstehen können und dachten an ihre Kräfte, die das nicht bewerkstelligen können. Aber den Osterzeugen, Maria und Maria Magdalena, Petrus und Johannes, Thomas und Jakobus und weiteren 500 Leuten ging ein Licht auf, dass Jesus nach drei Tagen dem Tod die Macht genommen hat. Er ist aufgefahren zu seinem Vater und hat ein Herrenhaus geschaffen, in dem der Vorhof die Fülle der Völker fassen wird, in dem der Krämergeist der Gegenwart des Heiligen Geistes weichen muss, in den der Würger Tod schlussendlich keinen Zugang mehr hat. Alle Tische, an denen wir nur handeln und verhandeln, klagen und verklagen, alle Tische sind umgestoßen und verschwunden bis auf den Abendmahlstisch, an dem er seine große Gemeinde versammeln will und von der es dann heißt: "Sie werden nicht mehr hungern und dürsten; es wird auch nicht auf ihnen lasten die Sonne oder irgendeine Hitze, und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen" (Off.7,16).
Bis dahin, liebe Freunde, schauen wir auf diesen Jesus, der vor der Geißel steht, der mit der Geißel schlägt und der unter der Geißel leidet, betend, lobend, dankend.
Amen
[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]