Freude und Hoffnung

Konrad Eißler

Johannes sagt: “Sehet, welch eine Liebe!” Hier wird nicht an die Liebe gedacht oder von ihr geträumt, hier wird sie gesehen. Für Gottes Liebe brauchen wir Augen im Kopf. Reißt die Augen auf! Der Text gibt drei Blickrichtungen an: den Rückblick, den Vorblick und den Anblick. - Predigt zum 163. Jahresfest der Korntaler Kinderheime


Man kann an die Liebe denken, so wie ein Schriftsteller. Mir ist Andersch eingefallen. In seinem Büchlein “Sansibar oder der letzte Grund” berichtet er von dem bruddligen Fischer Knudsen, der im Dritten Reich einem armen Teufel geholfen hat, aus den Fängen der Nazis nach Schweden zu fliehen. Als er dann gefragt wurde, warum er dieses für ihn todgefährliche Unternehmen durchgeführt habe, ant­wortete er seelenruhig: “Weil ich kein toter Fisch sein will. Weil es sonst im Leben stinklangweilig wird. Weil ich mir die Lust zur Liebe nicht nehmen lasse.” Gewiss ein seltenes Wort, weil heute die Lust zur Liebe von der Last der Liebe verdrängt wird. Knudsen und seine Tat: Denkt, welche eine Liebe!

Oder man kann von der Liebe träumen. Mir ist Friedmann eingefallen. Eigentlich hatte ihm dieser Jeans-Typ nicht sonderlich imponiert. Aber dann hing auf einmal der Himmel voller Bassgeigen und die Erde war rosarot eingepinselt. Wenn er an sie dachte, war die Logik weg. Wenn er mit ihr telefonierte, waren die Zeiteinheiten weg. Wenn er mit ihr ausging, war das Geld weg. Er war einfach ganz weg. Sein Liebe wurde zu einem einzigen Traum. Friedmann und seine Rita: Träumt, welch eine Liebe!

Oder man kam über die Liebe singen, so wie ein Liedermacher. Mir ist Schubert eingefallen, weil ich als nostalgischer Typ bei Krachmachern wie “BAP” schlicht umfalle. Am liebsten würde ich es ihnen vorsingen, aber ich kann nun einmal keine Tränen sehen. Hören Sie also im Geist Peter Schreier, wie er schreit: “Ich schnitt es gern in alle Rinden ein, ich grüb es gern in jeden Kieselstein, ich möcht es säen auf jedes frische Beet, mit Kressesamen, der es schnell verrät. Dein ist mein Herz und soll es ewig bleiben.” Schubert und sein Lied: Singt, welch eine Liebe!

Aber, liebe Freunde, hier wird nicht an die Liebe gedacht, hier wird nicht von der Liebe geträumt, hier wird nicht über die Liebe gesungen, hier wird die Liebe gesehen. Johannes sagt: “Sehet, welch eine Liebe!” Diese Liebe ist zum Ansehen. Schaut, welche eine Liebe! Diese Liebe ist zum Anschauen. Guckt, welche eine Liebe. Diese Liebe ist zum Angucken. Für Gottes Liebe brauchen wir Augen im Kopf. Sehet, blickt’s, reißt die Augen auf, welch eine Liebe des Vaters! Drei Blickrichtungen werden angegeben: der Rückblick, der Vorblick und der Anblick.

1. Sehet zurück, welch eine Liebe

Der Rückblick zeigt uns den Beweis dieser Liebe. Keiner hat uns etwas weisgemacht, sondern der Vater hat es erwiesen. Seit Bethlehem haben wir es schwarz auf weiß. So hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab, so und keinen Deut anders. Das johanneische Demonstrativpronomen will demonstrieren, Gottes Liebe wird allein so deutlich, dass sein einziger Sohn hingegeben wird. Es geht nämlich um die Abwehr eines groben Missverständnisses. Viele meinen näm­lich, Liebe müsse sich in der Erfüllung ihrer Wünsche erweisen. Kinder vor dem Geburtstag sind ein gutes Beispiel dafür. Sie wünschen sich das Blaue vom Himmel herab. Sie träumen vom Legoschiff und Playmobilzirkus und Fernlenkauto und einem ausgewachsenen, quicklebendigen, heufressenden Pony als Haustier. Ihre endlosen Wunschlisten entsprechen den Inventarlisten eines mittleren Spielwarenkonzerns. Und wenn dann auf dem Geburtstagstisch nur ein Matchboxauto und ein Steifftier liegt, dann gibt es Tränen und der Opa war nicht lieb. So schreiben wir doch unsere Wunschlisten für Gott: Das Kind muss wieder gesund werden, die Tochter darf nicht ausziehen, das Examen soll gut vorübergehen, die Mutter darf nicht sterben. Und wenn dies alles nicht in Erfüllung geht, wenn das Kind dahinsiecht, die Tochter die Koffer packt, das Examen nicht bestanden wird und die Mutter stirbt, dann, ja dann werden Fäuste gegen den Himmel geballt oder der Märchenliebegott verspottet.

Johannes sagt: So hat uns der Vater nicht geliebt, dass er zum Erfüller unserer Wünsche geword­en ist. Gott ist doch kein Opa. Wahre Liebe erweist sich über­haupt nicht in der Erfüllung von Wünschen, sondern nur am Grad ihrer Opferfähigkeit. Gott aber war hochgradig opferfähig. Er gab seinen Sohn. Luther erklärt: “Das heißt ja nicht einen Groschen geben, ein Auge, eine Kuh, ein Königreich, ja auch nicht den Himmel mit der Sonne und den Sternen, noch die ganze Kreatur. Er gab seinen Sohn.” Das heißt weiter, dass er nicht nur den Sohn auf die Erde gab. Das heißt gleichzeitig, dass er ihn für uns in den Tod gab. Gott hatte ein ganzes Ja zum Kind in der Krippe und zum Mann am Kreuz. So bereit war Gott. So viel ließ er sich seine Liebe kosten. So hat Gott die Welt geliebt. Die Frage nach der Liebe Gottes muss mit dem Hinweis auf das Kind beantwortet werden. “Sehet dies Wunder, wie tief sich der Höchste hier beuget, sehet die Liebe, die endlich als Liebe sich zeiget, sehet dies Kind.” Jesus ist unser Bruder geworden. Das heißt, wir können angenommen werden, obwohl in unserem Leben wahrlich nicht viel Annehmbares für Gott liegt. Das heißt, wir können aufgenommen werden, obwohl wir unsere Chancen total verspielt haben. Das heißt, wir können adoptiert werden, erbberechtigt und gleichberechtigt mit dem Sohn.

Manche unter uns heißen Müller, obwohl sie gar keine Müller sind und nur eine Kaffeemühle besitzen. Manche unter uns heißen Bauer, obwohl sie gar keine Bauern sind und nur ihre Balkonblumen gießen. Manche unter uns heißen Metzger, obwohl sie gar keine Metzger sind und nur Marzipanschweinchen schlachten. Die Kinder Gottes aber, die diesen Jesus als ihren Bruder anerkennen, die heißen nicht nur Gottes Kinder, sondern sind es auch. Da mögen wir an Mikos leiden, weil wir mit unserer Figur nichts hermachen, in Gottes Augen sind wir wer. Da mögen wir mit Kom­plexen kämpfen, weil wir nur eine ganz kleine Nummer sind, in Gottes Augen sind wir was. Da mögen wir zum Mülleimer und Spucknapf degradiert werden, Gott deklariert uns zu seinen Kindern. Und dann gilt trotzdem, was über mich hereinbrechen bzw. herein­strahlen könnte: “Hab ich das Haupt zum Freunde und bin geliebt bei Gott, was kann mir tun der Feinde und Widersacher Rott?” Wenn das nicht Anlass zur Freude und Hoffnung ist! Sehet zurück, welch eine Liebe.

2. Sehet voraus, welch eine Liebe

Der Vorblick zeigt uns die Hoffnung dieser Liebe. In allen Kindern steckt doch eine tiefe Sehnsucht nach dem Vater. Sie wollen nicht nur wissen, dass sie seine Kinder genannt werden, sie wollen nicht nur hören, dass sie seine Kinder heißen, sie wollen’s nicht nur merken, dass seine Kinder sind, Kinder wollen den Vater sehen. Kinder wollen des Vaters Liebe schauen. Kinder wollen des Vaters Herrlichkeit er­leben, auch Gottes Kinder.

Da leidet man an Undankbarkeit der eigenen Verwandten, die kein Dankeschön über die Lippen bringen. Da leidet man an der Vergesslichkeit seiner Umgebung, die einfach so in den Tag hineinlebt. Da leidet man an der Gottlosigkeit dieser Welt, die das tut, was ihr in den Strumpf passt. “Herr, bei so viel Vergesslichkeit und Undankbarkeit und Gottlosigkeit, lass mich jetzt deine Herrlichkeit sehen. Tret aus deiner Unsicht­barkeit, komm in meine Wirklichkeit. Zeig mir deine Herrlichkeit.” So kühn diese Bitte ist, so verständlich ist sie auch. Wo Dunkel­heit ist, da ist Sehnsucht nach Licht. Wo Liebe ist, das ist Sehn­sucht nach Einswerden. Wo Glaube ist, da ist Sehnsucht nach Schauen. Wo Angst und Furcht und Unzulänglichkeit ist, da ist Sehnsucht nach Herrlichkeit.

Und Johannes sagt: Noch nicht. Das klingt schmerzlich. So hört es doch der Patient im Krankenhaus, wenn er endlich nach Hause will: Noch nicht. So hört es doch der Arbeitslose am Schalter, wenn er endlich eine Beschäftigung will: Noch nicht. Kinder können nie warten und wollen alles jetzt schon haben. Aber “wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen”, deshalb gilt dieses: Noch nicht, noch ist es nicht so weit, “es ist noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden”. Damit ist nichts auf die lange Bank geschoben, wo es ewig liegenbleibt. Das “Noch nicht” hat eine zeitliche Begrenzung. Es kommt der Tag, an dem der Glaube zum Schauen wird. Es kommt die Stunde, in der die Zeitlichkeit von der Eindeutigkeit abgelöst wird. Es kommt der Augenblick, in dem die Unsichtbarkeit von der Herrlichkeit Gottes durchbrochen wird. Werft den Blick auf diesen Augenblick!

Das ist kein Seitenblick auf eine Illusion, wie Max Frisch meint, als er schrieb: “Nichts auf Erden ist wirklicher als diese Illusion.” Das ist kein Fernblick auf den Sanktnimmerleinstag, wie Bert Brecht meinte, als er dichtete: “Es kommt kein Morgen mehr.” Das ist kein Angstblick auf den Tag X, der in immer schrecklicheren Horrorvisionen abgefilmt wird und nur noch den verwüsteten “day after” übrig lässt. Nein, das ist der Vorblick auf den Augenblick seines Kommens, den Philipp Nicolai so beschreibt: “Zion hört die Wächter singen, ihr Herz tut ihr vor Freude springen, sie wachet und steht eilend auf.” Wir werden ihn sehen, wie er ist. Wir werden vor ihm stehen, wie er einmal vor uns gestanden ist. Wir werden Jesus Christus ganz verstehen als den Heiland, der durch die Hütten der Ärmsten geht, als den Lehrer, der seine Leute mit dem Wort unterweist, als den Gastgeber, der die Hungrigen sattmacht, als den Gekreuzigten, der wegen unserer Schuld stirbt, als den Auferstandenen, den dem Tod den tödlichen Biss beibringt, als den Erhöhten, dem alle Macht gehört im Himmel und auf Erden. “Das wird allein Herrlichkeit sein, wenn frei von Weh ich sein Angesicht seh.” Wenn das nicht Anlass zur Freude und Hoffnung ist! Sehet voraus, welch eine Liebe!

3. Sehet an, welch eine Liebe

Der Anblick zeigt uns die Aufgabe der Liebe. Es ist nämlich nicht so, als ob wir uns mit diesem starken Hinweis auf die Hoffnung schon von der Erde abgehoben hätten und auf dem Raumschiff in den Himmel seien. Manche meinen das zwar und fühlen sich als fromme Marschflugkörper, die fern­ ab von allem Dreck durch den Raum segeln. Aber spätestens bei der nächsten Sünde geht ihnen auf, dass keiner die Erdanziehung der Sünde überwindet. Sünde ist nicht zu übersehen, Sünde ist nicht zu übergehen. Sünde haftet uns allen an. Nur, das ist der Punkt: “Ein jeder, der solche Hoffnung hat, der Liebe hat, der reinigt sich.” Die Zukunft bestimmt die Gegenwart. Die Hoffnung stellt die Aufgabe.

Ich möchte es an einem Bild deutlich machen. Als Kinder verbrachten wir unsere Ferien bei der Oma auf der Schwäbischen Alb. Dort hatte sie nicht nur ein großes Haus, sondern auch ein weites Herz. Bei dieser Großmutter war fast alles erlaubt, was wir auch weidlich ausnützten. Aber als wir einmal Kastanienblätter und Zeitungspapier besorgten, um daraus eigene Zigaretten zu fabrizieren, verzogen wir uns vorsichtshalber ganz hinauf auf das Dach. Dort, direkt unter den Dachziegeln, entstanden jene lungen- und umweltfeindlichen Glimmstengel, die jeden Kammerjäger ersetzten. Aber mitten im schönsten Tabakkollegium hörten wir langsame Schritte. Bevor wir unsre Markenerzeugnisse aus der Dachluke speditieren konnten, stand die Oma vor uns. Mit ihren liebenden Augen schaute sie sich um und schaute uns lange an. Noch heute schäme ich mich in den Boden hinein. So wollte ich ihr nicht begegnen. So wollte ich ihr doch nicht gegenübertreten. So wollte ich sie doch nicht sehen. Wären wir doch bei ihr geblieben, dann wäre dies alles nicht passiert.

Sicher drehen wir keine Kastanienblätter mehr, aber wir drehen ganz anderes Teufelszeug. Manchmal werden krumme Dinger gedreht. Manchmal drehen wir andern etwas an. Manchmal drehen wir uns immer nur um uns selber. Manchmal sind wir selber ganz verdreht. Auch die Gotteskindschaft erlöst uns nicht automatisch von dieser “incurvitas in se”, von dem eingekurvt sein in sich, wie es Luther formulierte. “So wir sagen, wir haben keine Sünde, so verführen wir uns selbst” und machen uns selbst was vor. Weil wir uns immer wieder von ihm entfernen, uns aufs Dach oder in den Keller schleichen, deshalb haben wir es mit dem Teufelswerk zu tun. Nicht umsonst haben die Reformatoren mit allem Nachdruck darauf hingewiesen, dass Sünde kein Qualitäts-, sondern ein Relationsbegriff ist, dass Sünde also nicht die Lebensminderung des Menschen, sondern den Beziehungszerfall zwischen Gott und Menschen darstellt. Würden wir doch bei ihm bleiben, denn “wer bei ihm bleibt, der sündigt nicht”! Stehlen wir uns nicht heimlich davon, hantieren wir nicht in irgendeiner Ecke, spielen wir nicht irgendwo mit dem Feuer. Unsere Aufgabe ist es, ganz dicht beim Vater zu bleiben, in Rufweite, hautnah bei seinem Wort und seiner Gemeinde. Und wenn sich jemand entfernt hat, wenn sich jemand verlaufen hat, und wenn sich jemand dort aufhält, wo Gott nicht hinsehen darf, der komme jetzt zurück, der hänge sich an die vergebenden und segnenden Hände des Vaters. Sehet an, welch eine Liebe!

Also, liebe Freunde, reißt die Augen auf. Sehet zurück, sehet voraus, sehet an, welch eine Liebe! Oder wollen wir weiterhin blinde Kuh spielen?

Amen