1975 hatten wir den ersten großen Gemeindetag im damaligen Neckarstadion. Es war ein Tag voller Wunder. Am liebsten würde ich jetzt eine Stunde lang davon erzählen.
Die Polizei hatte gesagt, wir müssten das Treffen absagen, wegen des Beginns des Baader-Meinhof-Prozesses. Es bestehe die Gefahr, dass eine Bombe explodiert. Wir sagten jedoch, dass wir das Treffen nicht mehr absagen könnten.
Daraufhin schickten sie uns 500 Bundesgrenzschutzbeamte in Zivil. Ich denke, es war ein Segen für sie.
Der Wetterdienst hatte vor einem Unwetter gewarnt und gesagt, dass das Treffen nicht stattfinden könne. Damals war das Stadion noch nicht überdacht. Doch der erste Tropfen fiel erst, als der letzte Besucher das Stadion verlassen hatte.
Ein echtes Wunder!
Ein unerwarteter Segen und der Abschlusssegen
Als wir den Schlusschoral gesungen hatten, dankbar, stieß mich Pfarrer Fritz Grünzweig an und sagte: „Rolf, sag du den Segen!“
Nun hatte ich nicht so viel Zeit wie unsere verehrten Brüder, die sich überlegen, mit welchem Segenswort sie uns am Sonntag entlassen. Da fiel mir ein, dass der Präsident unserer amerikanischen Universität oft das Segenswort gesprochen hat: „Now may the Lord of Peace, who brought again from the dead our Lord Jesus Christ as the great shepherd of the sheep.“ Wunderbar im Englischen.
Ich freue mich, dass die jungen Leute Englisch singen wollen. Deutsch ist manchmal auch ganz gut, damit man es versteht. Deshalb sage ich es jetzt auf Deutsch, so wie ich es im Mekka-Stadion gesungen habe:
Der Gott des Friedens steht auch auf unserem Gottesdienstprogramm. Der Gott des Friedens, der von den Toten heraufgeführt hat unseren Herrn Jesus Christus als den großen Hirten der Schafe. Durch das Blut des ewigen Bundes mache er euch tüchtig, zu allem Guten zu tun seinen Willen und schaffe in uns, was ihm gefällt, durch Jesus Christus, welchem sei Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Nach dem Schluss des Gemeindetags kam eine junge Dame zu mir und sagte: „Das war so ein schöner Wunsch, mit dem Sie das Treffen abgeschlossen haben. Ist das ein irischer Segenswunsch oder stammt er von Bonhoeffer?“
Ich antwortete: „Das steht sogar in der Bibel, das war ja ganz neu. Und es ist gar kein Wunsch. Wünsche habe ich für mich selber. Wenn ich für andere Leute einen Wunsch formulieren soll, zum Beispiel bei jedem Geburtstag, dann sträubt sich die Feder, damit ich nicht bloß Banalitäten schreibe wie ‚alles Gute und Gesundheit‘.“
Gott speist uns nicht mit Wünschen ab, sondern erinnert uns an Tatbestände, durch die unser Leben eigentlich schon jetzt reich ist. Da muss gar nicht mehr viel passieren.
Die tiefere Bedeutung des Segenswortes
Vielleicht ist der Begriff „tatbeständig“ etwas zu behördendeutsch und zu spröde. Dabei besitzt dieses Segenswort bereits im Griechischen, aber auch in der Übersetzung von Martin Luther, eine dichterische und erhebende Schönheit: „der Gott des Friedens, der die großen Hirten der Schafe durch das Blut des ewigen Bundes heraufgeführt hat“. Eine wahre Schönheit!
Vor allem aber ist dieses Wort durchdrungen von biblischen Bezügen. Liebe Brüder und Schwestern, wir müssen vielmehr in die Bibel eintauchen, um überhaupt zu verstehen, was zwischen den Zeilen gesagt wird. Andernfalls bleiben wir blind!
Der Gott des Friedens wurde einst von Gideon entdeckt, einem kleinen Landwirt auf den Höhen des ephraimitischen Gebirges, mitten in der Kriegsnot. Eigentlich hat er vor sich hin gebruddelt, mit Gott geschimpft und gehadert. Er sagte sozusagen schwäbisch: „Lieber Gott, wenn es dich überhaupt gibt, ich weiß gar nicht, ob du wirklich existierst. Aber wenn ja, kennst du uns überhaupt? Legst du Wert auf uns? Warum kümmerst du dich nicht um uns?“
Doch plötzlich ändert sich alles. Gideon merkt, dass der heilige Gott ganz nah bei ihm ist. Nun ist nicht mehr er der Fragende, sondern wenn Gott ihn fragt, kann er auf tausend Fragen keine Antwort geben. „Gott hätte das Recht, mich nicht nur auf die Seite zu stellen, sondern alle Beziehungen abzubrechen.“
Wir wissen, dass Gideon dann nur noch ein Bußgebet stöhnte: „Ach Herr, Herr, ach Herr, so steht die Lage.“ Da ließ Gott durch seinen Engel ausrichten: „Fürchte dich nicht, Friede sei mit dir! Ich will mit dir sein.“ Gott hatte einen Plan mit ihm. „Ich will etwas mit dir tun, habe etwas mit dir vor, durch dich etwas ausrichten. Friede sei mit dir!“
Daraufhin baute Gideon dem Herrn einen Altar und nannte ihn „Der Herr ist Friede“.
Die Bedeutung des Friedensgottes im Hebräerbrief
Das ist dem Apostel des Hebräerbriefs eingefallen: eine anschauliche Geschichte, damit unser Wissen von Gott nicht nur oberflächlich und flach bleibt, sondern eine tiefere Dimension erhält.
Denn eigentlich hat auch Gott das Recht, die Verbindung zu uns abzubrechen. Wir sagen so leicht: Gott liebt uns und Gott kennt mich. Doch in unseren Bekanntschaften haben wir manche Ehe erlebt, die wir am Hochzeitstag mit Freude und guten Wünschen begleitet haben. Nach einigen Jahren wurden die Missverständnisse so groß, dass wir spürten, dass die beiden sich verändert hatten. Dann sagt man oft: fliehende Pferde soll man nicht aufhalten, besser ist es, wenn man so wenig gemeinsam hat, auseinanderzugehen.
Liebe Freunde, Gott hätte das doch längst sagen können: Ich will mich dir nicht aufdrängen. Wenn du mich nicht willst, dann lassen wir es.
Aber das Staunenswerte bei Gideon und beim Apostel des Hebräerbriefs ist: Der Herr ist Friede. Er möchte mit mir Verbindung halten. Es ist ein Stolz, so wie wenn Eheleute sagen: Ich habe dich. So freut sich Gott an Ihnen, an mir, dass er sagt: Ich habe dich. Und wir können zu uns selbst und zu Gott sagen: Ich habe dich.
Der erste Grundsatz lautet also: Gott will auch mit Ihnen, mit mir im Frieden leben, damit wir einander haben.
Jesus Christus als der große Hirte der Schafe
Aber jetzt geht es im Hebräerbrief weiter. Eigentlich müsste man warten, bis der Autor einen Segenswunsch ausspricht, etwa: „Gott möge dich segnen, bewahren, führen, leiten.“
Nein, nein, zuerst muss festgestellt werden, was Gott bereits getan hat. Der Gott des Friedens hat unseren Herrn Jesus, den großen Hirten, von den Toten heraufgeführt.
Beim uns namentlich unbekannten Apostel des Hebräerbriefs hat es im Hinterkopf geklingelt. Es steht am Ende des Jesajabuchs: „Du, Gott, hast Mose aus den Fluten heraufgeführt und ihn zum Hirten gemacht, damit dein Volk einen Hirten, einen Erlöser, hätte.“ Das war damals der Beginn einer Sternstunde für das Volk Gottes.
Äußerlich sah es gar nicht danach aus. Das kleine Kästchen mit dem Säugling Mose dümpelte im Brackwasser des Nils vor sich hin und hatte eigentlich keine Lebenschance. Doch Gott sorgte dafür. Er ließ ihn aus dem Wasser ziehen, weil er mit ihm etwas vorhatte: dass Mose der Hirte, der Erlöser und Befreier seines Volkes sein sollte.
Das nimmt der Hebräerbrief bis in die Vokabeln hinein auf. Das war noch eine ganz andere Sternstunde, als Gott unseren Herrn Jesus von den Toten heraufgeführt hat.
Da waren zwar nur ein paar Frauen dabei, die noch gar nicht begriffen hatten, was passiert war, und die Wächter am Grab waren wie betäubt. Aber es war eine Sternstunde, dass Gott uns – Ihnen, mir – einen Hirten zugedacht hat.
Die Konfirmanden haben früher gesungen, das, was wir eben miteinander auch gesungen haben: „Ich will mich nicht mehr selber führen, du sollst als Hirte mich regieren, ach geh denn mit mir aus und ein.“ Das singt sich leicht.
Praktisch meinen wir doch immer: Ich muss den Weg finden, auch aus der Misere. Ich muss mich zusammenreißen, ich muss meine Kräfte mobilisieren. Ich musste sehr alt werden, bevor ich begriff, dass dies die Chance meines Lebens ist: Ich muss mich gar nicht mehr selber führen. Ich muss mich nicht durchsetzen.
Gott hat mir Jesus als Hirten gegeben. Tatbestand Nummer zwei: Auch mir ist durch Jesus als guten Hirten zugedacht, der uns von den Toten herausgeführt hat – als den großen Hirten der Schafe, unseren Herrn Jesus.
Die Bedeutung der alttestamentlichen Bezüge
Aber jetzt geht es im Hebräerbrief weiter. Man könnte fragen, warum er immer wieder auf alttestamentliche Geschichten zurückkommt. Schließlich haben wir doch keine Bibelkunde. Doch wir müssen die Bibel kennen, wenn wir sie verstehen wollen. Die Bibel ist voller Bezüge und zeigt dadurch ihre Verlässlichkeit. Sie ist ein durchgehender Strom, nicht nur eine Ansammlung von einzelnen, momentanen Entscheidungen Gottes.
Bei Mose war es großartig, dass er als Hirte berufen wurde. Doch, so sagt der Schreiber des Hebräerbriefs, gab es noch einen größeren Augenblick. In 2. Mose 34 wird berichtet, wie Mose in der heiligen Gegenwart Gottes am Sinai, dem Gottesberg, ist. Danach sprengt er das Blut des Bundes über das Volk. Für uns ist das oft nicht verständlich, unser Verstand ist zu klein für solche Dinge. Aber es soll ein Rechtstatbestand geschaffen werden: Ihr seid Gottes Eigentum, ihr gehört ihm.
Deshalb sagt der Schreiber des Hebräerbriefs, dass Gott den Hirten, der den Gottesfrieden gebracht hat, von den Toten herausgeführt hat. Jesus ist dieser große Hirte, der mit dem Blut des ewigen Bundes handelt. Bei jeder Abendmahlsfeier werden wir daran erinnert, dass der Herr Jesus gesagt hat: Nehmt das Blut des neuen Bundes für euch!
Die persönliche Beziehung zu Gott als Eigentum
Liebe Brüder und Schwestern,
Jesus hat mehr als nur ein bisschen Sympathie und Verständnis für uns. Bengel hat in seinem großen Lied staunend gedichtet: „Sein bin ich ganz eigen, das muss sich wohl zeigen.“
Das dürfen Sie sagen und sich vorsagen, gerade in dem Augenblick, in dem Sie nicht mehr weiterwissen: „Sein bin ich ganz eigen. Das muss ich zeigen.“
Ich warte darauf und bin gespannt, was er machen wird. Denn er hat festgelegt – rechtmäßig, rechtskräftig, rechtsgültig –, dass ich diesem Gottes Frieden gehören soll.
Tatbestand Nummer drei.
Gottes Wirken in unserem Leben
Jetzt warten Sie nicht darauf, dass ich viele Worte mache zu diesem Wunderbaren, der „schaffe ihn euch, woran er selbst Freude hat“. Das spricht für sich selbst!
Wir mussten als Pfarrleute, wie viele andere Berufe auch, oft umziehen. Ich erinnere mich noch, als ich dem Spediteur Hüfner aus Schwäbisch Hall anbot: „Was können wir euren Mitarbeitern helfen? Was können wir hinuntertragen?“ Daraufhin sagte Herr Hüfner: „Die beste Hilfe ist, wenn Sie aus dem Weg gehen und meine Leute schaffen lassen.“
Ich denke an all die Planungen für eine wachsende Kirche und all die möglichen Rezepte, was man tun und anpacken sollte. Doch der Gott des Friedens sagt: „Jetzt lasst doch mal endlich mich schaffen!“
Sie wissen, dass ich es als Vorrecht ansehe, immer wieder über den alten Friedhof gehen zu können. Dabei ist es mir so oft, als ob die Frauen und Männer dort eine stille Predigt halten wollten. In unserem Leben gab es viel Torso, Fragment, Bruch und eine Schaufel voll Scherben.
Es ist unglaublich, was Gott noch aus diesem Torso schaffen kann. Liebe Brüder und Schwestern, der Gott des Friedens hat Jesus von den Toten herausgeführt. Er hat Vieles in unserem Leben geschaffen, oft ohne dass wir es bewusst wahrnehmen.
Aber jetzt geht es darum, dass wir ihm zutrauen: „Der schaffe ihn euch, woran er selbst Freude hat“, und das zu seiner Ehre. Amen.
