Die Entstehung der synoptischen Problemdebatte
Er hat das synoptische Problem neu erfunden. Ob er Cäsus kannte, ist möglich, da er über eine große Bibliothek verfügte, aber wir wissen es nicht sicher.
Er veröffentlichte zu seinen Lebzeiten nicht die Ansicht, dass die Evangelisten rein menschliche Schriftsteller seien. Die Vorstellung, dass sie bloß menschliche Geschichtsschreiber waren, entstand erst viele Jahre nach seinem Tod.
Er behauptete, dass es am Anfang das Nazarener-Evangelium gegeben habe, also ein aramäisches Urevangelium. Dieses hätten dann Matthäus, Markus und Lukas so gut sie konnten übersetzt. Dabei mischte er ein wenig aus einem berühmten Papias-Zitat, das sich eigentlich auf das Matthäusevangelium bezieht. Darin heißt es, dass jeder es übersetzte, so gut er konnte. Darauf werden wir noch zurückkommen. Er bezog dieses Zitat jedoch auf das Nazarener-Evangelium.
Was dieser Dichter von sich gegeben hat, wird heute leider von Theologen als der Beginn der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Evangelien gewertet. Man stelle sich vor: Ein Dichter erfindet Geschichte, und alles, was vor seiner Erfindung lag, wird als naiv abgetan. Dann heißt es, dass mit ihm die wirkliche Erforschung begann – obwohl er nie wirklich forschte. Er stellte lediglich eine Hypothese auf.
Er wagte es nicht einmal, diese Hypothese zu seinen Lebzeiten zu veröffentlichen. Vielleicht hätte ihm das Schwierigkeiten bereitet. Möglicherweise hätte er seinen warmen Posten in der Bibliothek von Wolfenbüttel verloren. Zumindest muss er Ähnliches befürchtet haben.
Später griffen Theologen seine Ideen auf. Einige erwähnten seinen Namen, andere nicht einmal, sondern taten so, als sei die Hypothese aus ihrem eigenen schlauen Kopf entstanden. Wie das bei Theologen oft ist, übernahmen sie nicht einfach Lessings Hypothese. Jeder entwickelte seine eigene Theorie.
Ich lasse Ihnen nun einige dieser Hypothesen kurz vorbeiflattern, nicht damit Sie sie alle lernen, sondern damit Sie sehen, dass es ein Spiel mit wechselnden Hypothesen war, bevor man sich mehr oder weniger auf eine einigte. Über diese werden wir später noch sprechen.
Entwicklung der Hypothesen zur Evangelienforschung
War also zum Beispiel der Griesbach. Er war der erste Theologe, der diese Idee aufgriff. Er hielt noch Matthäus für das älteste Evangelium. Danach begann Storr mit der Markuspriorität.
Es ging weiter mit Eichhorn, der wieder zum Urevangelium, dem aramäischen, zurückkehrte. Aus diesem sollten zahllose Evangelien entstanden sein, sowohl die kanonischen als auch die apokryphen. Fantasie hatten sie alle sehr viel.
Dann kam Herder, ein Dichter, der eine ganz komplizierte Geschichte erfand, die ich Ihnen ersparen möchte. Auch er begann wieder mit dem aramäischen Urevangelium. Danach kam wieder ein Theologe, der Matthäus als das älteste Evangelium ansah, Gieseler, der ebenfalls das aramäische Urevangelium vertrat.
Dann haben wir Lessing und Schleiermacher. Schleiermacher erfand erstmals die Fragmententheorie, die noch heute in vielen Einleitungen steht. Er entwickelte die Logginquelle, worüber wir gleich im Zusammenhang mit Weisse sprechen werden.
1838 tauchten zwei Theologen auf, die beide die Markuspriorität wählten. Das heißt, sie sahen Markus als Quelle für Matthäus und Lukas. Durchgesetzt hat sich dann die Theorie von Weisse.
Zunächst ist aber zu sagen, dass die Geschichte damit noch nicht zu Ende war. Es war nicht so, dass die Zwei-Quellen-Theorie 1838 bereits festes Allgemeingut war. Danach kam Ferdinand Christian Bauer mit seinen Thesen. Er versuchte, das Problem in die Geschichte des Urchristentums einzubauen und sprach vom judaistischen Matthäus und vom paulinistischen Urlukas.
Dann gab es wieder unterschiedliche Positionen: Markuspriorität bei Helgenfeld, Matthäuspriorität kombiniert mit der These eines aramäischen Urevangeliums. Dabei sah er nicht das Nazaräer-, sondern das Hebräer-Evangelium als Ursprung.
Beweis versuchte, all diese verschiedenen Hypothesen in ein System zu bringen. Doch selbst sein eigener Sohn Jottweiss sagte seinen Studenten, dass das, was Beweis behauptet, noch lange kein Beweis sei.
Dann kam Holzmann zurück zur Zwei-Quellen-Theorie. Neu bei ihm war die Annahme, dass außer diesen beiden Quellen beide Evangelisten, Matthäus und Lukas, noch ihr Sondergut hatten.
Er meinte aufgrund der Unterschiede zwischen dem Markus-Evangelium und dem, was wir angeblich von Markus in Matthäus und Lukas finden, dass nur ein Ur-Markus ursprünglich gewesen sein müsse, auf den dann Matthäus und Lukas zurückgingen.
Das hat jedoch seine Probleme: Wo ist der Ur-Markus abgeblieben, wenn es ihn je gegeben hat? Und warum gibt es ihn heute nicht mehr?
Mittlerweile hat man die ganzen Gegenargumente gegen die Holzmannsche Ur-Markus-Hypothese vergessen und lässt den Ansatz fröhlich weiterleben im sogenannten Deuteromarcus.
Dabei müsste, wenn es einen Deuteromarcus gegeben hätte, dieser so weit verbreitet gewesen sein, dass unabhängig voneinander Matthäus und Lukas beide den Deuteromarcus hätten finden können. Außerdem hätte er dann plötzlich verschwinden müssen.
Das gehört doch ins Reich der Phantasie. Solche Vorstellungen sind keine geschichtlichen Tatsachen. Wir müssten wenigstens irgendeinen Papyrus oder ähnliches haben, der uns den Ur-Markus oder den sogenannten Deuteromarcus überliefert.
Die gleichen Schwierigkeiten bestanden für den Ur-Markus. Damals sagten die Theologen: Nein, das gibt es nicht. Es kann ihn nicht gegeben haben, denn wenn es ihn noch gäbe, müssten wir ihn heute noch haben.
Doch die Theologen von heute haben diese alte Argumentation längst vergessen. Jetzt setzen sie sich den gleichen Gegenargumenten aus, allerdings für den Ur-Deuteromarcus, den sie erfunden haben.
Die Zwei-Quellen-Theorie und ihre Grundlagen
Aber nun müssen wir noch einmal zurück zu Weisse. Auf ihn geht ja eigentlich unsere Zwei-Quellen-Theorie zurück. So ist sie, wie wir sie jetzt haben: Markus gilt als Quelle für Matthäus und Lukas, und daneben gibt es noch eine weitere Quelle, abgekürzt Q.
Das Sondergut, das hatten wir ja gesehen, ist ein Gedanke, den erst Holzmann eingebracht hat. Den gab es bei Weisse noch nicht. Seit Holzmann hat sich die Zwei-Quellen-Theorie durchgesetzt – erst in Deutschland, das Lachen natürlich daran: Holzmann war ein berühmter Professor, der auch vom entsprechenden preußischen König geschätzt wurde. Dieser richtete ihm eine bedeutende Professur in Straßburg ein.
Sie werden sich erinnern: Nach dem Krieg saßen praktisch auf sämtlichen nordtestamentlichen Lehrstühlen in der Bundesrepublik Schüler Bultmanns. Für Ausnahmen brauchte man nicht alle Finger einer einzigen Hand. So ähnlich war das damals auch bei Holzmann: Überall saßen seine Schüler, die wiederum ihre Studenten lehrten, dass die Zwei-Quellen-Theorie die einzige mögliche Lösung für das sogenannte synoptische Problem sei.
Aber wir müssen noch ein bisschen zu Weisse zurück. Woher hatte Weisse denn diese Quelle, die wir mit dem Buchstaben Q abkürzen? Weisse griff zurück auf Schleiermacher, auf Schleiermachers Logienquelle. Woher hatte Schleiermacher die Logienquelle?
Nun, Schleiermacher war ein sehr kluger und kreativer Theologe. Eines Tages begegnete ihm das Zitat von Papias, in dem es heißt, dass Matthäus die Logien in einem aramäischen, in einem hebräischen Dialekt schrieb – gemeint ist das Aramäische, wie es Jesus und die Jünger zu seiner Zeit gesprochen haben. Das war, was Papias geschrieben hatte.
Dieser kluge Theologe wusste natürlich sofort, was da steckt. Er sagte: Aha, also hat Matthäus gar nicht das Evangelium geschrieben, denn hier steht ja nicht das Evangelium, hier steht die Logien. Dann muss es wohl so gewesen sein, dass er nur die Worte Jesu aufschrieb, die Logien. Und offensichtlich war diese Schrift des Matthäus die Quelle für das Matthäusevangelium.
Man hat dann später dem Evangelium, das diese Logienquelle des Matthäus benutzt hat, den Namen Matthäusevangelium gegeben. Gerade berühmte Leute sind sehr in der Gefahr zu irren, weil sie so sehr auf ihren eigenen Verstand vertrauen. Der kluge Professor beging einen groben hermeneutischen Fehler.
Er hielt sich nämlich bei dem Wort „Logien“ nur an das, was er aus seinem Lexikon wusste: Das Wort bedeutet „Wort“ oder „Ausspruch“. Dabei hat er den Kontext nicht berücksichtigt. Das lernt man im ersten Semester; lässt einem der Professor das noch im Theologiestudium durchgehen, wird es spätestens im zweiten Semester als Fehler angerechnet. Dann heißt es: Man muss auch den Kontext berücksichtigen.
Hätte er das getan, wäre er auf den Satz gestoßen, den Papias über das Markusevangelium gesagt hat. In Bezug auf den Inhalt des Markusevangeliums brauchte Papias zwei verschiedene Begriffe. Einmal redet er von den Worten und Taten Jesu, und im nächsten Satz gebraucht er stattdessen den Begriff „Logia Kurio“, die Worte des Herrn. Gemeint ist damit der Teil für das Ganze, für das gesamte Evangelium, für den ganzen Inhalt des Markusevangeliums.
In Bezug auf das Markusevangelium wird „Logia Kurio“ nicht nur für die Worte gebraucht, sondern eindeutig für das ganze Evangelium. Im nächsten Satz bezüglich Matthäus ist das natürlich nicht anders zu verstehen. Dort meint es ebenfalls das ganze Evangelium und wird wieder als Ganzes gebraucht.
Das hat der kluge Professor Schleiermacher übersehen. So kam er auf diese Weise zu der Logienquelle.
Immerhin war Schleiermacher noch so bescheiden, dass er sagte, Q sei nur die Quelle für das Matthäusevangelium, weil es ja Beziehungen zum Papias-Zitat gibt, das über das Matthäusevangelium spricht. Schleiermacher hat also ausdrücklich gesagt, dass Q nicht die Quelle für Lukas war.
Schleiermacher starb 1834. 1838 sagte dann Weisse: Wenn Schleiermacher noch heute leben würde, dann würde er sicher zugeben, dass Q auch die Quelle für das Lukasevangelium war. So wurde auf diese Weise, durch diese Unverschämtheit von Weisse, der sich der Autorität von Schleiermacher bediente, dabei aber ganz etwas anderes unterschob, als Schleiermacher wirklich gesagt hatte, Q zur Quelle für Matthäus und Lukas gemacht.
Ja, also: Der eine Pfeiler der Zwei-Quellen-Theorie ist ein hermeneutischer Irrtum verbunden mit der Anmaßung von Weisse.
Die Markuspriorität und ihre umstrittene Begründung
Dann gibt es aber noch den zweiten Pfeiler, nämlich Markus als Quelle für Matthäus und Lukas oder die sogenannte Markus-Priorität. Vom Begriff her könnte Markus-Priorität auch nichts anderes bedeuten, als dass Markus eben das ältere Evangelium war, das zuerst geschrieben wurde, und danach die anderen Evangelien entstanden sind.
Meistens wird mit dem Begriff Markus-Priorität jedoch gemeint, dass Markus die Quelle für Matthäus und Lukas war. Hier beanspruchte Weisse eine andere Autorität, nämlich die des berühmten Altphilologen Karl Lachmann. Lachmann war ein wirklicher Gelehrter. Er schrieb seine Bücher sogar noch in Latein, was für ihn als Altphilologen eine Kleinigkeit war. Er konnte schließlich Latein schreiben und sprechen, so wie wir vielleicht Englisch schreiben und sprechen können.
Im Unterschied zu vielen anderen Theologen, deren Hypothesen wir hier haben, leistete er gründliche, gelehrte Arbeit. Er studierte die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Matthäus, Markus und Lukas sehr genau. Im Ergebnis kam er zu dem Schluss, dass, obwohl es bestimmte Phänomene gibt, es doch sicher ist, dass Matthäus und Lukas kein Exemplar des Markus gehabt haben, um es zu benutzen. So lautet die Formulierung bei Lachmann: Matthäus und Lukas hatten kein Exemplar des Markus, das sie verwendet hätten.
Dann kommt Weisse und behauptet, Lachmann habe den Beweis geliefert, dass Markus die Quelle für Matthäus und Lukas war. Das war eine glatte Lüge. Diese Lüge wird bis heute weiterverbreitet, selbst in den neuesten Einleitungsbüchern. Die Zwei-Quellen-Theorie hat also keine andere Grundlage als einen hermeneutischen Irrtum und eine Lüge. So wissenschaftlich sei die angeblich wissenschaftliche Theologie.
Das erfahren die Studenten natürlich nicht, wenn sie in der Vorlesung sind. Man sagt ihnen das nicht. Dort heißt es nur: „Ja, die Logienquelle, die hat ja Schleiermacher entdeckt.“ Meist erfährt man gar nicht, wie und auf welche Weise diese Lüge aufgedeckt wurde. Sowohl der hermeneutische Irrtum als auch die Lüge verdanken wir einem anderen Altphilologen, nämlich Stoltz, der das Buch Geschichte und Kritik der Markus-Hypothese geschrieben hat.
Für diesen Altphilologen war es natürlich kein Problem, Lachmann auf Latein zu lesen. Das war für Theologen nicht so einfach. Ich selbst habe einmal gedacht, ich sollte das Buch von Lachmann vielleicht lesen, und habe es mir aus der Bibliothek geholt. Es hatte zwar einen lateinischen Titel, aber ich dachte, das sei nur der Titel. Als ich das Buch dann zuhause hatte, stellte ich fest, dass es von der ersten bis zur letzten Seite auf Latein geschrieben war. Da fand ich es gar nicht mehr so notwendig, das Buch zu lesen, und es wanderte ungelesen zurück in die Bibliothek. Ich war also nicht besser als meine Kollegen.
Bis 1977 konnte man allenfalls noch aus Umständen eine Entschuldigung für sich in Anspruch nehmen, aber dann nicht mehr. Denn 1977 veröffentlichte Stoltz sein Buch. Darin zitiert er nicht nur Lachmann auf Latein, sondern übersetzt es auch gleich ins Deutsche. Stoltz’ Buch ist zudem ins Englische übersetzt und in Amerika erschienen. So kann sich heute niemand mehr auf das Recht des Irrtums berufen.
Heutzutage kann wirklich jeder Theologe wissen und sollte es wissen, dass die Behauptung, Lachmann hätte den Beweis geliefert, dass Markus die Quelle für Matthäus und Lukas ist, eine absolute Lüge ist. Ja, so ist das also.
Die Lehre an den Studenten und die Problematik der Beweisführung
Wie sieht es nun aber mit den Fakten aus? Vielleicht sollte man – nein, entschuldige, ich muss noch etwas anderes erledigen, bevor ich zu den Fakten komme. Zuerst muss ich noch einmal sagen: Wie wird das nun den Studenten beigebracht?
Nun, ich war ja selbst solch ein historisch-kritischer Professor. Im Proseminar sagte ich meinen Studenten: Schlagt eure Synopse auf. Das Buch „Synopse“ kommt von dem griechischen Wort mit der Bedeutung „zusammensehen“. Die Synopse ist ein Buch, in dem die parallelen Perikopen, also die parallelen Abschnitte der drei synoptischen Evangelien – das heißt der Evangelien, die zusammensehbar sind – nebeneinander gedruckt sind. So kann man die entsprechenden Abschnitte leicht vergleichen.
Also ließ ich meine Studenten die Synopse aufschlagen. Natürlich suchte ich eine Perikope heraus, die gut geeignet war, um zu zeigen, dass Markus die Quelle für Matthäus und Lukas war. Dann ließ ich sie das lesen und fragte: „Ist das die gleiche Geschichte?“ „Ja“, sagten meine Studenten, ihnen blieb auch gar nichts anderes übrig.
Doch in Wirklichkeit besagt das überhaupt nichts über eine literarische Abhängigkeit zwischen den synoptischen Evangelien. Nur weil es die gleiche Geschichte ist, heißt das nicht, dass eine literarische Abhängigkeit besteht. Die gleiche Geschichte kann auf unterschiedliche Weise zustande kommen. Zum einen, weil wirklich literarische Abhängigkeit besteht, das heißt, weil die beiden Evangelisten von einem abgeschrieben haben. Zum anderen finden wir die gleiche Geschichte auch dann, wenn verschiedene Augenzeugen unabhängig voneinander berichten, was der Herr Jesus gesagt und getan hat. In diesem Fall ist das Ergebnis ebenfalls die gleiche Geschichte.
Der gleiche Inhalt wird also zu Unrecht als Beweis für die literarische Abhängigkeit der Evangelien herangezogen.
Nun ja, dann hat man sich nicht damit begnügt zu sagen, es sei die gleiche Geschichte. Man sagte auch, sie kommen in der gleichen Reihenfolge vor. „Schaut euch mal die Geschichte davor an und die Geschichte dahinter.“ Wenn man es genau gemacht hätte, dann hätte man gezeigt, wie es insgesamt in den Evangelien aussieht. Dann wäre das schon ein bisschen anders gewesen.
Hier sehen Sie den Vergleich: Markus – Matthäus und Markus – Lukas. Sie wissen also, worum es geht. Und jetzt machen wir es so – und da sehen Sie, dass bei Matthäus kaum etwas steht, was bei Markus ist, oder dass etwas anderes hineingefügt wurde. So simpel ist es also nicht, dass die gleiche Reihenfolge, wie einem das immer gesagt wird, tatsächlich vorliegt.
Aber selbst wenn wir hundertprozentig die gleiche Reihenfolge hätten – und zwar nicht nur hier in der Passionsgeschichte, sondern auch sonst –, dann würde das noch nichts beweisen. Denn die gleiche Reihenfolge kann auf unterschiedlichen Wegen zustande kommen. Es ist möglich, dass eine Quelle benutzt wurde. Dann werden natürlich die Quellenbenutzer die gleiche Reihenfolge haben, das wäre zumindest zu erwarten.
Aber die gleiche Reihenfolge entsteht auch dann, wenn Augenzeugen unabhängig voneinander die gleichen Ereignisse berichten. Wenn der Herr Jesus nun erst dieses, dann jenes und dann das nächste getan hat, dann wird das von den Augenzeugen in dieser Reihenfolge berichtet. Sie haben ja kein Interesse daran, das umzuschieben. Also weder der gleiche Inhalt noch die gleiche Reihenfolge besagen etwas für eine literarische Abhängigkeit.
Dann habe ich natürlich meinen Studenten auch bestimmte Verse hingewiesen: „Seht euch bitte den Vers in Matthäus und den entsprechenden in Markus und den in Lukas an.“ Und dann mussten sie feststellen, hier gibt es sogar die gleiche Formulierung – bis in Wortlaut und Satzbau ist das identisch.
Dass es in den gleichen Evangelienabschnitten auch noch ganz viele Sätze gab, bei denen nicht die gleiche Formulierung im Wortlaut oder Satzbau vorlag, darauf habe ich sie nicht hingewiesen. Das tut ja auch kaum jemand. Es gibt sehr wenige, die überhaupt die Unterschiede zur Kenntnis nehmen. Zimmermann ist einer von denen, aber er hat dann auch sogleich eine Erklärung dafür, warum das in diesem Falle bei Matthäus nicht so ist und in jedem Fall bei Lukas nicht so, wie es bei Markus steht.
Aber zunächst einmal zur Kenntnis zu nehmen, dass das gegen die Hypothese spricht, so weit kommt keiner von ihnen.
Nun ja, und das galt dann: Dass es auch Übereinstimmungen bis in Wortlaut und Satzbau hinein gab, galt dann als Beweis für die literarische Abhängigkeit. Und dann hatte man ja auch noch weitere Argumente. Für alle Abweichungen hatte man sofort eine Erklärung: Hier verbessern Matthäus und Lukas die primitive Sprache des Markus, oder an der Stelle stimmte Matthäus nicht mit der theologischen Anschauung des Markus überein, oder aber für Lukas sind dies Verbesserungen.
Ja, das sind doch alles Zirkelschlüsse. Solange nicht jemals der Beweis geliefert ist, dass Markus die Quelle für Matthäus und Lukas war, dann kann Matthäus nicht verbessert haben, und das kann Lukas nicht als Verbesserung angesehen haben.
Ganz abgesehen davon, wenn man sich die Details anschaut – da können Sie in dem grünen Buch noch einiges sehen –, bin ich noch einmal auf die Fragen eingegangen, was da so über die bessere Sprache des Markus gesagt wird. Seien wir mal ganz ehrlich: So wissenschaftlich ist die Sache auch nicht.
Aber selbst wenn das Faktum zutreffen würde, dass Markus die primitivere Sprache als Matthäus und Lukas hat, ist damit nicht bewiesen, dass Markus die Quelle für Matthäus und Lukas war. Dann ist es vielleicht etwas schwieriger, das Gegenteil anzunehmen, also dass Matthäus die Quelle für Markus war. Das wäre dann etwas schwieriger. Aber damit ist nicht bewiesen, dass Markus die Quelle für Matthäus war.
Denn es können ja Leute unabhängig voneinander schreiben, und jeder hat seinen eigenen Stil und seine eigene Sprachqualität.
So wird einem das also beigebracht. Wenn am Ende der Professor sagt: „Die Übereinstimmung reicht bis in Wortlaut und Satzbau hinein. Daran kann man sehen, dass es sich um eine literarische Abhängigkeit handelt“, dann hat der Student das geschluckt. Schließlich hat es der Professor gesagt. Der Professor ist Professor, und der Student ist schließlich nur Student.
Er hat auf alle Fälle dem, was der Professor da sagt, nichts Besseres entgegenzusetzen.
Heutzutage lernen die Schüler das ja spätestens in der siebten oder achten Klasse: das synoptische Problem und die Zwei-Quellen-Theorie. Es gibt sogar Tendenzen in der neueren Religionspädagogik, das bereits in die Grundschule aufzunehmen und den Schülern im dritten und vierten Schuljahr beizubringen.
Wenn man dann sieht, dass es am Ende doch nicht unerhebliche Unterschiede zwischen den Evangelien gibt, bekommen die Schüler ganz schnell den Eindruck: „Also, nichts Genaues weiß man nicht. Matthäus schreibt das so, Lukas so und so, und die haben das ja so verändert.“
Ja, selbst die Theologen ziehen daraus ihre Konsequenzen. Zum Beispiel Marx, der sagt, Matthäus und Lukas hätten den Markus kritisiert. So werden dann die Unterschiede gewertet.
Und dann geht man noch einen Schritt weiter und sagt: Wahrscheinlich hat auch Markus seine Tradition, von der man annimmt, dass sie ihm zugrunde lag, kritisiert.
Also am Ende weiß man nicht genau. Deshalb hat der moderne Theologe natürlich das Recht, wo sie sich ja doch schon untereinander kritisiert haben, nun auch noch den sogenannten Text zu kritisieren. Er ist ja da nur in der guten Tradition.
Man muss das dann alles für die gegenwärtigen Hörer und Leser zurechtmachen. Das haben ja schließlich schon die Schreiber der alten Evangelien getan – und wie viel mehr wir, die wir es doch nur mit dem modernen Menschen zu tun haben.
So sieht die Sache aus.
Analyse der Fakten zur Markuspriorität
Kommen wir nun zum dritten Punkt. Wie sieht es eigentlich mit den Fakten aus? Wir haben bereits einen ersten Eindruck davon bekommen, wie es um die sogenannte Akkoluthie bestellt ist – nämlich gar nicht so gut, wie man oft annimmt.
Von einem historisch-kritischen Professor wird einem gesagt, dass das gesamte Markus-Evangelium in Matthäus und Lukas enthalten sei, abgesehen vom sogenannten Sondergut. Dieses Sondergut macht jedoch nur 4,8 Prozent des Markus-Evangeliums aus, was wirklich nicht viel ist.
Das beeindruckt natürlich die Studenten, wenn ihnen vom Professor gesagt wird, dass das ganze Evangelium enthalten sei. Sie glauben dann, dass das offensichtlich nur möglich ist, wenn Markus die Quelle für Matthäus und Lukas ist. Doch schauen wir uns die Fakten etwas genauer an und sehen wir uns den Umfang der Parallelität zwischen Matthäus, Markus und Lukas an.
Dazu sehen Sie links Matthäus, rechts Lukas und in der Mitte Markus. Hier ist das Sondergut dargestellt, das fehlt – und wie gesagt, es sind knapp fünf Prozent. Aber das sind nicht die einzigen Markus-Perikopen, die fehlen. Auch bei Matthäus fehlen einige Markus-Perikopen, wenn auch nicht so viele, da diese Abschnitte eher kurz sind. Deshalb sind es etwas mehr als fünf Prozent.
Bei Lukas fehlen jedoch deutlich mehr Markus-Perikopen. Wenn ich mich richtig erinnere, sind es 23 längere Abschnitte. Das bedeutet, im Lukas-Evangelium fehlen neben den 4,08 Prozent des Sonderguts noch weitere 22,33 Prozent. Insgesamt fehlen also knapp 27 Prozent oder gut ein Viertel des Markus-Evangeliums im Lukas-Evangelium.
Dass ein so großer Teil des Markus-Evangeliums im Lukas fehlt, wird in der Regel verschwiegen. Wer erzählt einem das im Detail? Dennoch behaupten viele, das gesamte Markus-Evangelium sei sowohl im Matthäus- als auch im Lukas-Evangelium enthalten. So habe ich es im Proseminar gehört und auch meinen Studenten beigebracht. Doch das stimmt so nicht.
Nicht nur fehlen Markus-Perikopen bei Matthäus und Lukas, sondern auch innerhalb der Perikopen, die alle drei gemeinsam haben, gibt es tiefgreifende Unterschiede. Darauf hat Stult, den ich bereits erwähnt habe, in seinem Buch „Die Geschichte und Tradition der Markus-Hypothese“ hingewiesen.
Hier gibt es 14,8 Prozent Unterschiede in den Perikopen, die alle drei Evangelien gemeinsam haben. Das sind die sogenannten Minor Editions oder auf Deutsch die kleinen Unterschiede. Das bedeutet, Matthäus und Lukas haben manchmal Sätze, die im Vergleich zu Markus fehlen, oder umgekehrt. Manchmal sind es nur ein oder zwei Worte, manchmal mehr.
Diese knapp 15 Prozent beziehen sich nur auf die Unterschiede, die Matthäus und Lukas gegenüber Markus in der Formulierung der gemeinsamen Perikopen aufweisen. Daher kann man nicht behaupten, das gesamte Markus-Evangelium sei in Matthäus und Lukas enthalten. Inhaltlich sind die Perikopen zwar ähnlich, aber von der Formulierung her unterscheiden sie sich deutlich.
Doch das ist nicht alles. Es gibt auch noch kleinere Unterschiede zwischen Markus und Matthäus in den gemeinsamen Perikopen, also solche, die Markus und Lukas teilen, aber Matthäus in der Formulierung anders gestaltet. Diese Unterschiede machen weitere 12,8 Prozent aus.
Hinzu kommen noch kleinere Unterschiede, in denen Lukas sich in der Formulierung von Markus und Matthäus unterscheidet. Außerdem gibt es Unterschiede, in denen Matthäus sich von Markus abhebt, indem er zum Beispiel einige Worte hinzufügt oder anders formuliert. Und schließlich gibt es noch kleinere Unterschiede, bei denen Lukas sich wiederum von Markus und Matthäus unterscheidet.
Meistens heißt es, Matthäus straffe den Markus-Text und füge wenig hinzu, um die Unterschiede zu erklären. Doch tatsächlich strafft Matthäus den Text nicht nur, sondern fügt auch viele kleinere Details hinzu.
Wenn wir uns also anschauen, ist es keineswegs so, dass das gesamte Markus-Evangelium in Matthäus und Lukas enthalten ist. Vergleicht man die drei synoptischen Evangelien miteinander, ist das so, als würde man einen Apfel, eine Birne und eine Quitte vergleichen. Es sind alles Kernfrüchte, also ähnlich gebaut, aber doch ganz unterschiedliche Früchte.
So verschieden sind also Matthäus, Markus und Lukas voneinander. Doch das erzählt einem kein historisch-kritischer Theologe in der Vorlesung, denn oft schaut man gar nicht so genau in den Text hinein. Man hat es meist mit Vorurteilen zu tun. Und wenn man dann doch hinsieht, sucht man Erklärungen für die Unterschiede: Warum hat Matthäus hier geändert? Warum hat Lukas dort etwas anders gemacht?
Man denkt aber selten darüber nach, dass gerade diese Unterschiede die Markus-Hypothese infrage stellen könnten. Dennoch gilt die Markus-Hypothese als das gesichertste Ergebnis. Marsden hat sogar gesagt, man sollte nicht mehr von einer Hypothese, also einer Unterstellung sprechen, sondern von einer Theorie.
Neuere Theologen meinen allerdings, der Begriff „Theorie“ sei eigentlich nicht einmal passend genug, um das zu beschreiben. Und gegenüber den Studenten wird das Ganze sowieso so dargestellt, als sei es eine Tatsache, dass Markus die Quelle für Matthäus und Lukas war.
Wie sieht es in Wirklichkeit aus? Was hier gemacht wird, sind Zirkelschlüsse. Es hat niemals einen wirklichen Beweis dafür gegeben. Man kann nur sagen: Es ist eine Hypothese – nichts weiter, wenn man es mal etwas flapsig ausdrücken will.
Quantitative Analyse der Textübereinstimmungen
Nun aber kommen wir zum Entscheidenden: Wie sieht es mit den Formulierungen aus?
Ich kann Ihnen ein Beispiel für die verschiedenen Evangelien zeigen. Wir müssen das jetzt so machen, sonst kriegen wir es nicht hin. Zuerst zeige ich Ihnen Matthäus und Markus, dann Markus und Lukas. Ich habe die Worte ausgezählt, denn ich sage mir, man muss das quantifizieren, sonst kommt man nie zu einer objektiven Einschätzung. Sonst orientiert sich jeder nur an seinem eigenen Geschmack.
Wir wollen doch wissen, wie weit die Gemeinsamkeit in der Formulierung der einzelnen Abschnitte, der einzelnen Perikopen bei Matthäus, Markus und Lukas überhaupt reicht. Ich habe also als kleinste Einheit das Wort genommen, so wie man beim Wiegen Gramm oder beim Messen Zentimeter verwendet. Um kein Wort zu übersehen, habe ich die Worte in meiner griechischen Synopse farbig unterstrichen.
Die wichtigste Farbe, Rot, habe ich den Worten gegeben, die in allen drei Evangelien gleich sind. Die gemeinsamen Worte bei Matthäus und Markus habe ich blau markiert, die bei Lukas und Markus grün. Das heißt, ich habe praktisch die drei Hauptfarben verwendet, die jeder in seinem Federkasten hat. Für die Gemeinsamkeiten zwischen Matthäus und Lukas, die es eigentlich gar nicht geben dürfte, habe ich Braun verwendet. So bunt sehen bei mir sämtliche Perikopen aus, die Matthäus, Markus und Lukas gemeinsam haben.
In der ersten Auflage meines Buches hatte ich nur 35 davon aufgenommen. In der dritten Auflage kamen dann noch 28 hinzu, und im grünen Buch „Bibelkritik auf dem Prüfstand“ habe ich die restlichen zehn Perikopen ergänzt. Jetzt kann ich es Ihnen wirklich bunt auf Weiß zeigen. Das ist also keine aus dem Kuchen gepickte Rosine. So sieht es wirklich aus bei allen Perikopen, die Matthäus, Markus und Lukas gemeinsam haben.
Nun stellen Sie sich mal vor, Matthäus hätte von Markus abgeschrieben. Dann hätte er hier das erste und das zweite Wort übernommen, das nächste nicht – das ist nämlich schwarz, da hat nur Markus es. Dann hätte er die vier Worte übernommen, die drei Worte weggeschmissen und den Rest dieser Zeile übernommen, aber nur das erste Wort. Jetzt kann ich nicht sehen, ja, das ist doch schwarz, die drei wieder nicht, und so weiter.
Sie können sich das ja selbst vorstellen: So hätte doch nur ein Verrückter gehandelt. Nicht wie ein Hühnchen, das ein Körnchen pickt und die anderen liegen lässt. So benimmt man sich doch nicht. Wenn man eine Quelle benutzt, ist einem doch die Vorlage wichtig, und man hat keine andere Information außer der Vorlage.
Es wird ja wirklich so gedacht, dass Matthäus auf Markus als Quelle angewiesen ist. So denken die historisch-kritischen Theologen: Matthäus war selbst kein Augenzeuge und seine einzige Kenntnis von dem, was Jesus gesagt und getan hat, beruht auf seinen Quellen. Das wird behauptet. Das sind die Realitäten.
Nun gibt es nicht nur Gemeinsamkeiten, sondern auch Unterschiede. Wir haben das für eine Perikope herausgesucht, die nicht ganz so lang ist. Das ist irgendwie rausgerutscht, Entschuldigung. Was gehört da rein? Ach, das ist hier offen. Das ist eine Tücke des Objekts, aber es kann sich nur noch um Sekunden handeln.
Hier habe ich die Unterschiede aufgeschrieben, das ist von einer Perikope. Sie würden sehen, wie das aussieht und einen Eindruck gewinnen. Bei dieser kleinen Perikope hat Markus 53 Worte. Zwölf davon haben alle drei Evangelien gemeinsam, 13 noch Matthäus und Markus gemeinsam.
Aber hier bei Matthäus gibt es für diese 53 Worte 82 Unterschiede. In diesem Fall hat Lukas ein bisschen weniger: In meinem Buch finden Sie ein Beispiel, bei dem Lukas auf die 53 Worte in Anführungsstrichen 43 Unterschiede hat. Auch das spricht nicht für eine literarische Abhängigkeit.
Umfang und Verteilung der Perikopen in den Evangelien
Zum Ergebnis:
Hört mal zu! Hier kann man sehen, dass das Markus-Evangelium 116 Perikopen enthält, das ist nach Nesteralan usw. gezählt. Aber nur 76 davon kommen in den drei synoptischen Evangelien vor. Wer erzählt einem das denn? Eine beträchtliche Zahl fehlt also. Ich meine, die Zahl der Perikopen, die nur in Markus sind, ist nicht sehr groß. Aber dann gibt es welche, die in Matthäus fehlen, und eine erhebliche Zahl von Perikopen, die in Lukas fehlen.
In der Synopse steht oft überall etwas drin. Aber manchmal werden für eine Parallele Verse aus verschiedenen Kapiteln zusammengestellt. Das ist keine echte Parallele. Zum Beispiel wird ein Vers aus Lukas Kapitel 1 mit einem aus Kapitel 11 und einem aus Kapitel 5 oder 17 kombiniert – theoretisch gesprochen. Manches wird als Parallele deklariert, aber meistens sieht man bei genauerem Hinsehen, dass die Synopse im Druck Unterschiede aufweist. Wer nur dort schaut und meint, da stünden überall Parallelen, irrt sich. Das ist nicht so.
Im Klartext: 76 von den 116 Perikopen kommen in den drei synoptischen Evangelien vor. Diese umfassen 7.625 Worte oder 67,72 Prozent des Markus-Evangeliums, also etwas mehr als zwei Drittel. Das heißt, ein Drittel der Markusevangelium-Perikopen fehlt.
Bei den Perikopen, die wirklich in allen drei Evangelien sind, machen die Parallelverse nur 20,19 Prozent aus. Es gibt außerdem Worte, die noch bei Matthäus und Markus vorkommen. Wenn man aber nur Matthäus und Markus vergleicht, kann man allenfalls eine literarische Abhängigkeit von Matthäus von Markus oder umgekehrt behaupten, aber nicht für alle drei synoptischen Evangelien. Selbst dann sind es etwas mehr als 40 Prozent, also noch nicht einmal 42 Prozent.
Bei so viel Gemeinsamkeit hat man auch noch keinen Beweis dafür, dass sie wirklich voneinander abgeschrieben haben. Denn die Unterschiede sind immer noch erheblich größer als die Gemeinsamkeiten. Die Gemeinsamkeiten von Matthäus und Lukas summieren sich auf fünf Prozent, aber die Unterschiede betragen 95,15 beziehungsweise 107,76 Prozent. Das heißt also, auf hundert Markus-Worte gibt es ungefähr hundert Unterschiede. Das spricht nicht für literarische Abhängigkeit.
Man muss aber auch Folgendes wissen: In diesen 1.539 identischen Worten sind auch die sprachlichen Basisworte enthalten. Das heißt „und“ sowie die Artikel „der“, „die“, „das“ – natürlich auf Griechisch – und Pronomina. Diese Basisworte machen mehr als ein Drittel aus. Manchmal sind in einem Parallelvers die einzigen identischen Worte zweimal „und“ und vielleicht noch ein Artikel. Und das war’s dann. Das spricht nicht gerade für literarische Abhängigkeit.
Das müsste man eigentlich noch abziehen: Wenn man diese 539 Basisworte abzieht, bleiben von den 1.539 Worten etwa 1.000 übrig. Das Markus-Evangelium hat 11.000 Worte, nicht? Unter diesem Rest, der dann für literarische Abhängigkeit herhalten müsste, sind noch die Worte, auf die man gar nicht verzichten kann, wenn man ein bestimmtes Ereignis erzählt.
Wenn erzählt werden soll, dass Jesus den Aussätzigen reinigt, müssen die Worte „Aussatz“, „Aussätziger“, „Reiniger“ und „Priester“ vorkommen. Auch „Jesus“ und „Jünger“ müssen da sein. Da bleibt wirklich nicht viel übrig. Das spricht nun wahrlich nicht für literarische Abhängigkeit der synoptischen Evangelien.
Bedeutung der Zwei-Quellen-Theorie für die historisch-kritische Theologie
Nun muss man aber noch eines wissen: Die Zwei-Quellen-Theorie hat eine enorme Bedeutung innerhalb der historisch-kritischen Theologie.
Wenn man in einer Einleitung zum Neuen Testament unter der Überschrift Literarkritik nachschaut, findet man in der Regel nichts anderes als das synoptische Problem. Dabei werden die sogenannten Vorentwürfe behandelt, wie die Fragmententheorie, verschiedene andere Theorien und eben die Zwei-Quellen-Theorie. Schluss, Feierabend – das ist dann alles, was man unter Literarkritik versteht.
Die Literarkritik ist die erste von drei Methoden, die diese Theologen verwenden. Man fragt sich vielleicht, warum sie sich als wissenschaftliche Theologie verstehen. Die Antwort lautet: Sie benutzen Methoden. Wenn es keine literarische Abhängigkeit zwischen den synoptischen Evangelien gibt, dann kann man die Zwei-Quellen-Theorie vergessen und die ganze Literarkritik fällt weg. Die Formgeschichte beruht jedoch auf der Zwei-Quellen-Theorie.
Wie sieht es mit der Geschichte der synoptischen Tradition aus? Man sagt, Markus sei das älteste Evangelium. Das weiß man aber überhaupt nicht sicher. Im Gegenteil: Nach der altkirchlichen Tradition war es nicht Markus, sondern Matthäus.
Doch in der Zwei-Quellen-Theorie gilt Markus als Quelle für Matthäus und Lukas. Eine Quelle muss aber älter sein als die Bücher, die daraus abgeschrieben sind. Deshalb geht man davon aus, dass die älteste Fassung einer Perikope ein Traditionsstück ist. Das heißt, die älteste Fassung eines Traditionsstücks findet man in der Regel im Markusevangelium. Die zweite Fassung findet sich dann entweder bei Matthäus oder bei Lukas.
Die Formgeschichte basiert also auf der Zwei-Quellen-Theorie. Ebenso die Redaktionsgeschichte.
Was ist Redaktionsgeschichte? Sie entstand, als man feststellte, dass man die Unterschiede zwischen den Evangelien nicht einfach durch sprachliche Verbesserungen erklären kann. Die Unterschiede sind dafür viel zu groß.
Nachdem man diese Hypothese hatte und begann, die Evangelien damit zu studieren, traten Schwierigkeiten auf. Die Unterschiede ließen sich nicht alle durch sprachliche Verbesserungen erklären.
Dann stellte man die größeren Unterschiede der Evangelien von Matthäus und Lukas auf einem „Tablett“ zusammen und analysierte sie. Dabei kam man auf die Idee: „Aha, das ist die Theologie des Matthäus!“ Die Theologie des Matthäus sei der Grund, warum er an bestimmten Stellen so und an anderen so ändert.
Nur: Wenn man nicht beweisen kann, dass Matthäus jemals Markus benutzt hat, dann hat Matthäus auch nicht Markus verändert. Markus ist zwar unterschiedlich vom Matthäus, aber die Unterschiede sind nicht durch bewusste Veränderung zustande gekommen.
Auch kann eine Theologie nicht das Motiv für eine bewusste Veränderung sein.
Also: War Markus nicht die Quelle für Matthäus und Lukas, dann kann Matthäus ihn nicht aufgrund seiner Theologie verändert haben. Das funktioniert nicht.
Gibt es keine literarische Abhängigkeit zwischen den drei Evangelien, dann können wir die Zwei-Quellen-Theorie vergessen. Und dann können wir auch Literarkritik, Formgeschichte und Redaktionsgeschichte vergessen.
Wo bleiben denn die großen Methoden, deren sich die historisch-kritische Theologie rühmt und aus denen sie das Recht ableitet, im Unterschied zu allen anderen die wissenschaftliche Theologie zu sein?
Die historisch-kritische Theologie erhebt den Alleinvertretungsanspruch, die wissenschaftliche Theologie zu sein. Mit anderen Worten: Wer nicht historisch-kritisch arbeitet, ist nach Ansicht dieser Theologen kein Wissenschaftler. Deshalb hat er auch keine Chance, eine Professur an der Universität zu bekommen.
Ich denke da an unseren Bruder Gerhard Meyer. Das Zeug dazu hätte er gehabt, aber er ist nun nicht historisch-kritisch. Deshalb wurde seine Habilitationsschrift nicht angenommen, weil sie in deren Augen nicht wissenschaftlich ist.
Sie sind überzeugt, dass sie nicht wissenschaftlich ist, dabei ist sie nur nicht historisch-kritisch. Und was nicht historisch-kritisch ist, gilt bei ihnen nicht als wissenschaftlich.
Aber nun sehen wir, wie wissenschaftlich sie selbst sind: Die ganzen Methoden können wir da echt vergessen. Und aufgrund dieser Methoden behaupten sie doch, dass sie wissenschaftlich sind.
Die Quelle Q und ihre Problematik
Zur Zwei-Quellen-Theorie gehört nicht nur das Evangelium nach Markus, sondern auch der sogenannte Q-Quellenstoff. Kommen wir daher zu Punkt vier: den Fakten bezüglich Q.
Q ist in der Geschichte unbekannt. Bevor Schleiermacher im Jahr 1834 Q entdeckte, existierte diese Quelle nicht. Keiner der Kirchenväter kannte Q, es ist nur durch ein produktives Missverständnis überhaupt in die Welt gekommen. Es gibt kein Manuskript von Q, keinen Papyrus, der Q enthält, keine Majuskel- und keine Minuskelhandschrift, die Q enthält. Es existiert kein einziger handschriftlicher Beleg, und Q wird in den Manuskripten nicht genannt.
Heutzutage spielt Q besonders in Amerika eine große Rolle, denn die historisch-kritischen Theologen wollen anerkannt werden. Sie möchten ihre Positionen an theologischen Seminaren und in den Kirchen nicht verlieren. Es hat sich herumgesprochen, dass man eine biblische Grundlage benötigt. Diese sehen sie nun in Q als das älteste Evangelium. Dieses ursprüngliche Evangelium kannte keine Apostelgeschichte und keine Passionsgeschichte, also keine Leidensgeschichte Jesu. Folglich gab es auch keine Auferstehung Jesu. Jesus als Gottes Sohn kommt überhaupt nicht vor, ebenso wenig als Messias.
Die älteste Schicht von Q hatte auch keine Eschatologie. Von der Wiederkunft Jesu war keine Rede. In Q wird Jesus lediglich als eine Art Weisheitslehrer dargestellt. Daraus folgt die Annahme, dass Q das älteste Evangelium sei. Die Evangelien, die wir heute haben, gelten dann als spätere Mythisierungen.
Diese kritischen Theologen vertreten also die Auffassung, dass sie das eigentliche Evangelium besitzen, während alle Frommen nur die späteren Mythen hätten. So hat sich diese Sichtweise etabliert. Das Problem ist jedoch, dass diese großen Behauptungen nicht in die historischen Zusammenhänge passen.
Denn wenn es wirklich dieses ursprüngliche Evangelium gegeben hätte und die späteren Evangelien nur spätere Mythisierungen wären, dann hätte Paulus völlig quergelegen. Bei Paulus finden wir nämlich dasselbe, was auch in den Evangelien steht: Jesus Christus ist Gottes Sohn, er ist gestorben für unsere Sünden und am dritten Tag auferstanden.
Wenn Paulus nach Jerusalem gekommen wäre, dann hätte es dort ja dieses angeblich älteste Evangelium geben müssen. Dort hätte es nicht nur Diskussionen darüber gegeben, wie das mit dem Gesetz sei und ob sich die Heiden beschneiden lassen müssen. Vielmehr wäre als erstes der Vorwurf laut geworden: „Oh, du böser Paulus, du hast die ganze christliche Botschaft mythisiert!“ So etwas ist jedoch nie vorgekommen. Ein ähnlicher Konflikt ist in der gesamten alten Kirche nicht belegt.
Die großen Behauptungen, die diese Bibelkritiker aufstellen, passen also überhaupt nicht in die historischen Zusammenhänge. Man kann vieles erfinden, aber es muss auch in die vorhandenen Zusammenhänge passen.
Unterrichtspraxis und die Wirkung auf Studenten
Aber die Menschen, die das vorgesetzt bekommen, oder die Theologiestudenten, die sowieso glauben müssen, was der Professor sagt, sind oft gar nicht in der Lage, Widerstand zu leisten.
Entschuldigung, ich habe gerade vergessen, dass ich das Exemplar auch in Deutsch habe. Aber ich habe es hier noch einmal auf Englisch dabei. Sie sehen also: Wenn die Perikope ganz kurz ist, gibt es eine, die bei Matthäus 28 Worte hat und bei Lukas 29. Dort ist die Übereinstimmung 28 Worte zwischen beiden.
Bei den langen Perikopen, die einige hundert Worte umfassen, sieht es mit der wörtlichen Übereinstimmung jedoch ganz anders aus. Das heißt, wenn man dieselbe Analyse mit den Stücken macht, die man Q zuschreibt, dann sieht man auch keinen Beweis für literarische Abhängigkeit. Die Indizien sprechen also dagegen.
Wann wollen wir uns überlegen, worum es nun eigentlich bei dieser ganzen Bibelkritik geht? Zunächst einmal in Bezug auf Markus: Die Zeugen werden reduziert. Wenn man in einer geschichtlichen Überlegung etwas anführt, das bei Markus steht, heißt es oft, was bei Matthäus steht, sei nicht das älteste Evangelium. Zum Beispiel die Jungfrauengeburt: Da heißt es, das sei spät, denn Markus kennt noch keine Jungfrauengeburt; diese kommt erst bei Matthäus und Lukas vor.
Dann wird gesagt, Paulus habe das auch nicht erwähnt. Das stimmt zwar nicht ganz, denn er erwähnt zwar nicht wörtlich die Jungfrauengeburt, aber er spricht von Jesus als dem zweiten, letzten oder anderen Adam. Und das könnte er niemals sein, wenn Jesus bloß ein gewöhnlicher Nachkomme des ersten Adam wäre.
Hier wird praktisch nur noch Markus einigermaßen als Geschichtszeuge akzeptiert. Doch auch er wird nicht als Augenzeuge anerkannt. Er war kein direkter Augenzeuge und jedenfalls kein Jünger Jesu. Wenn man ihn als Übersetzer des Petrus sieht – das ist ja altkirchliche Tradition –, wird das von der Bibelkritik nicht anerkannt.
Wenn man also geschichtlich fragt, darf man sich nur an das kurze Markusevangelium halten. Alles andere, was bei Matthäus und Lukas steht, darf man allenfalls noch als sogenannten Kuhstoff aus der Logienquelle betrachten.
Anstelle einer sauberen historischen Überlieferung durch Augenzeugen hat man dann Kritik. Wie ich schon sagte: Das heißt, Matthäus und Lukas haben das Markusevangelium kritisiert. Wenn man dann das Gleiche für Markus gegenüber seiner Tradition unterstellt, weiß man am Ende nichts Genaues mehr.
Man hat nur noch Geschichten statt Geschichte und Literatur statt Offenbarung. Am Ende kommt man dann zur Redaktionsgeschichte, wo alles nur noch Theologie ist.
Aber dann gibt es drei verschiedene Theologen: den Theologen Markus, den Theologen Matthäus und den Theologen Lukas. Diese Theologen haben die historisch-kritischen Theologen unserer Tage nach ihrem eigenen Bild geschaffen. Sie erfinden etwas, um ihrer Gemeinde etwas zu sagen.
Die theologische Bedeutung von Q
Nun zu Punkt sechs: Worum geht es eigentlich in Bezug auf Q? Es wird behauptet, dass Jesus nicht Gottes Sohn sei, die Erlösung am Kreuz nicht stattgefunden habe und Jesus nicht auferweckt worden sei. Anders ausgedrückt, wird Q als die biblische Grundlage für die Kirche des Unglaubens dargestellt. Matthäus, Markus, Lukas und Johannes gelten demnach als Ergebnis frühchristlicher Mythenproduktion.
Kommen wir nun zu Punkt sieben: Das Ende zeigt, worum es von Anfang an ging. Wir müssen uns entscheiden, was wir wollen: Gottes Wort oder kluge Fabeln. Es geht darum, ob wir eine Theologie in der Nachfolge Jesu auf dem Fundament der Apostel und Propheten wählen oder eine Theologie in der Nachfolge von Dichtern und Denkern auf der hypothetischen Grundlage der sogenannten Wissenschaft.
Falls noch Zeit bleibt, ist jetzt Raum für Fragen. Und vielleicht hat jemand ein Glas Wasser für mich.
Datierung der Evangelien und historische Zeugnisse
Wenn man die historisch-kritischen Theologen betrachtet, sagen diese aufgrund von Markus 13, dass die Eroberung Jerusalems bereits im Blick sein muss. Andernfalls wäre etwas vorhergesagt worden, was sie nicht als echte Weissagung akzeptieren können. Hier handelt es sich nur um „Vaticinia ex eventu“, also Weissagungen, die nach den Ereignissen verfasst wurden. Deshalb wird Markus gewöhnlich um das Jahr 70 datiert.
Im Frühjahr steckte man die Evangelien oft noch ins zweite Jahrhundert. Doch dann stellte man fest, dass es relativ frühe Manuskripte des Johannesevangeliums gab und dass dieses Evangelium auch in den Ignatiusbriefen bezeugt ist, etwa um das Jahr 107. Ignatius war bereits Märtyrer, und seine Briefe wurden in den Jahren davor, etwa zwischen 100 und 107, geschrieben. Daher konnte das Johannesevangelium unmöglich ins zweite Jahrhundert datiert werden. Man musste die Entstehung ans Ende des ersten Jahrhunderts verlegen.
Man setzte das Johannesevangelium dann ungefähr zwischen 50 und 90 an. Zwischen dem Markusevangelium und den Evangelien von Matthäus und Lukas muss ebenfalls eine Zeitdifferenz liegen. Die historisch-kritischen Theologen argumentieren, dass für eine literarische Abhängigkeit mindestens zehn Jahre zu berücksichtigen sind. Damals wurden Bücher nicht durch Druck veröffentlicht, sodass nicht sofort tausende Exemplare verbreitet werden konnten. Manuskripte mussten durch Abschreiben vervielfältigt werden, erst von einem auf zwei, dann auf drei und so weiter. Das dauerte, bis Menschen in verschiedenen Teilen des großen römischen Reiches ein Manuskript besaßen.
Deshalb sagt man gewöhnlich: Markus entstand um das Jahr 70, Matthäus und Lukas gewöhnlich um 85, manche setzen sie auch auf 80 oder 90. Es gibt also zwei oder zweieinhalb Meinungen, und da es sich um erschlossene Daten handelt, bleibt es dabei. Die Datierung erfolgt aufgrund der Zwei-Quellen-Theorie. Die obere Grenze wird durch die zeitliche Ansetzung des Johannesevangeliums festgelegt. Da bekannt ist, dass das Johannesevangelium bereits Anfang des zweiten Jahrhunderts bezeugt ist, muss es im ersten Jahrhundert geschrieben worden sein. Das ist nach allem später als die synoptischen Evangelien. Deshalb muss man bei diesen noch ein wenig weiter zurückgehen.
Der späteste Ansatz liegt bei 90, manche differenzieren noch zwischen Matthäus und Lukas. Bei Lukas muss man auch die Apostelgeschichte berücksichtigen. Insgesamt kann man sagen: Markus um 70, Matthäus und Lukas um 85. Zu meiner Zeit war die Mehrheit der Forscher bei diesen Daten.
Anders sieht die Sache aus, wenn wir die Realitäten betrachten. Hier haben wir durchaus eine Bezeugung. Irenäus berichtet, dass Matthäus sein Evangelium zunächst auf Aramäisch verfasst hat, zu der Zeit, als Petrus und Paulus gemeinsam die Gemeinde in Rom stärkten. Dafür kommt nur ein einziges Jahr in Frage: das Jahr 63. Paulus war zwar schon ab 61 in Rom, wurde aber Anfang 64 ins Praetorium überliefert. Nach zwei Jahren musste der Prozess stattfinden, da gab es bestimmte römische Gesetze. Danach konnte er die Gemeinde in Rom nicht mehr stärken, da Besuche nicht mehr möglich waren.
Solange Paulus noch in der Privatwohnung war, wenn auch unter Bewachung, konnte man ihn besuchen. Deshalb war er in dieser Zeit in der Lage, die Gemeinde in Rom zu stärken. Gleiches gilt für Petrus, der ebenfalls in Rom war. Es wird gesagt, dass es nur ein Jahr vor seinem Tod war. Sein Tod lag im Sommer 64, also müsste er im Sommer 63 nach Rom gekommen sein. Praktisch kommt daher nur das Jahr 63 in Frage, in dem sowohl Petrus als auch Paulus die Gemeinde in Rom stärkten.
Man kann also fast mit Zahlen sagen, dass das Matthäusevangelium, allerdings noch auf Aramäisch, im Jahr 63 geschrieben wurde. Für das Markus- und das Lukasevangelium gibt Irenäus an, dass sie nach dem Exodus von Petrus und Paulus entstanden sind. Das heißt, nach ihrem Tod und ihrem Übergang zum Himmel. Lukas, der Schüler des Paulus war, schrieb sein Evangelium, ebenso Markus. Der Ausgangspunkt für diese Evangelien ist der Sommer 64, als Nero die beiden zu Märtyrern machte.
Einige sagen, Paulus sei schon im März 63 hingerichtet worden, aber das ist unsicher. Bei Petrus ist es klar: Sommer 64. Es könnten also beide im Sommer 64 gestorben sein oder Paulus einige Monate früher. Das ist denkbar, aber nicht sicher.
Damit haben wir die Real-Daten. Kann man nun davon ausgehen, dass das erste Evangelium, das geschrieben wurde, das Matthäusevangelium war? Ganz genau. Papias berichtet erstmals über das Matthäusevangelium. Die erste Aussage, die Schleiermacher produktiv missverstanden hat, ist, dass es in einem hebräischen Dialekt geschrieben wurde. Tatsächlich handelt es sich um Aramäisch.
Obwohl Aramäisch nicht unbedingt ein hebräischer Dialekt ist, ist Papias nicht inspiriert. Das darf man nicht vergessen, und deshalb kann auch ein kleiner Irrtum vorkommen. Papias schreibt, dass jeder das Evangelium so gut wie er konnte übersetzte. Wir haben hier eine typische Missionsfeldsituation: Das Evangelium kam nach Kleinasien, wo Papias lebte.
Es war zunächst auf Aramäisch geschrieben, also in Jerusalem und generell im jüdischen Land. Es kam dann nach Kleinasien, wo es nur einige Leute lesen und verstehen konnten, weil nicht jeder Aramäisch beherrschte. Diejenigen, die es verstanden, mussten es übersetzen. Das geschah zunächst mündlich.
Manche waren darin gut, andere weniger. Das ist vergleichbar mit der Situation, wenn jemand heute nach Osttimor kommt. Ich weiß nicht genau, ob die Bibel mittlerweile in die dortige Sprache Tettum übersetzt ist. Vielleicht ist das Neue Testament in Tettum übersetzt, ich habe aber Zweifel, dass die ganze Bibel bereits in Tettum vorliegt.
Wenn jemand mit seiner indonesischen Bibel dort ankommt, muss er die Sprache lernen, um predigen zu können. Dann liest er aus seiner indonesischen Bibel vor und übersetzt das Gesagte mündlich ins Tettum. Manche machen das gut, andere weniger. Diese Situation beschreibt Papias.
Die Übersetzung des aramäischen Matthäusevangeliums ins Griechische
Nun, wie kommt es also, dass wir den Matthäus, obwohl er ursprünglich aramäisch war, heute nur auf Griechisch haben? Denken Sie an das Jahr siebzig. Das heißt, die Urgemeinde war bereits um sechzig, also bevor Jerusalem belagert wurde, aus der Anweisung des Herrn heraus aus Jerusalem ausgezogen und ist nach Pella gegangen.
Nachdem die Römer das ganze Land eingenommen hatten, hat man nichts mehr von der Urgemeinde gehört. Damit bestand natürlich auch kein Bedarf mehr für den aramäischen Matthäus. Er wurde dann, wie es oft geschieht, von denen gebraucht, die Griechisch sprachen. Offensichtlich wurde das Evangelium bald nach der Zeit, aus der das Zitat von Papias stammt, ins Griechische übersetzt. Diese Übersetzung war offenbar so gut, auch unter der Leitung des Heiligen Geistes, dass man kein Interesse mehr hatte, die aramäische Handschrift aufzubewahren.
Zunächst einmal halten Handschriften technisch gesehen nicht ewig. Wenn es Papyrus war, ist es zerbrechlich. Außerdem interessierte es niemanden mehr, wie der Text auf Aramäisch lautete, wenn man ihn nun so schön auf Griechisch hatte. Man brauchte ja ohnehin das Alte Testament auf Griechisch, die Septuaginta, und so ging die aramäische Version verloren.
Dies begann in der frühen Hypothesenbildung zu den synoptischen Evangelien. Da hatte ja Griesbach seine Hypothese, Sie erinnern sich. Den haben wir ja hier ganz am Anfang erwähnt. Nun, er war derjenige, der sagte, Matthäus sei das älteste Evangelium. Von Matthäus hätten dann Markus und Lukas übernommen.
In sein Konzept passte natürlich das Papias-Zitat, soweit es Matthäus betraf, aber die These, dass Markus von Matthäus abgeschrieben habe, sagt die altkirchliche Tradition nicht. Ebenso sagt sie nicht, dass Lukas von Matthäus abgeschrieben habe. Das war hinderlich für Griesbach. Deshalb wischte er das alles vom Tisch und sagte: „Ach, das sind ja nur Märchen, diese altkirchliche Tradition, kann man doch vergessen.“
Seit Griesbachs Zeiten wird das so gehandhabt von den historisch-kritischen Theologen. Ich erinnere mich, wie ich einmal an die synoptischen Evangelien herangeführt wurde. Damals hatten wir noch die griechische Synopse, es war noch nicht Arland, der Name fällt mir gerade nicht ein, sondern Huck Greven, ich komme im Moment nicht auf den Namen.
In dieser Synopse waren auch die altkirchlichen Traditionen über die Evangelien abgedruckt. In der ersten Sitzung des Brosseminars sollten wir diese lesen. Nachdem wir etwas gelesen hatten, wurde uns gesagt, wir könnten das auch vergessen, denn das stimme sowieso nicht. So lernt man das als Theologiestudent.
Antwort auf eine Frage zur Sprachtradition Jesu
Ich bin sehr dankbar für Ihre Ausführungen und stimme dem voll zu. Ich sehe auch überwiegend Unterschiede zwischen den synoptischen Evangelien. Dennoch gibt es einige Übereinstimmungen oder Ähnlichkeiten im Wortlaut. Besonders bei der Wiedergabe wörtlicher Rede Jesu lassen sich oft Übereinstimmungen feststellen.
Nun zu meiner Frage: Wie kann man erklären, dass gerade im Griechischen teilweise einige Wörter gleich sind? Hat Jesus auch Griechisch gesprochen? Oder hat man griechische Notizen gemacht? Oder gab es eine Tradition, die man im Griechischen weitergegeben hat, vielleicht aus der säkularen Überlieferung? Wie kann man auf dieses Argument eingehen?
Auf diese Frage bin ich auch in meinem Buch eingegangen. Zunächst muss man sehen, dass die Grundlage für alle drei Evangelien das Aramäische ist. Jesus hat Aramäisch gesprochen, und die Augenzeugen haben seine Worte ursprünglich alle auf Aramäisch gehört. Matthäus hat die Worte Jesu sogar direkt auf Aramäisch niedergeschrieben.
Markus hat, nach Papias, das aufgeschrieben, was er von Petrus gehört hat. Markus war kein Jünger Jesu, sondern noch ein junger Mann oder Knabe, als Jesus mit seinen Jüngern durchs Land zog. Das heißt, er war selbst kein Jünger und somit kein direkter Zeuge dessen, was Jesus gesagt und getan hatte. Der Zeuge dafür war Petrus. Nach Papias hat Markus das, was Petrus sagte, übersetzt.
Manche fragen, warum das nötig war, denn Petrus konnte doch Koine-Griechisch. Er hat ja auch Briefe geschrieben, oder etwa nicht? Wenn er Koine-Griechisch konnte, dann half ihm das in Rom jedoch wenig. Mit diesem Griechisch erreichte er zwar die Gebildeten, aber wenn er zum einfachen Volk sprechen wollte, brauchte er in Rom eine andere Sprache – Latein. Es sieht so aus, dass Petrus, der ja schon älter war und erst gegen Ende seines Lebens nach Rom kam, Lateinisch noch erlernen musste.
Das macht es glaubwürdig, dass er in Rom Übersetzer brauchte. Petrus hörte also alles und übersetzte es. Das prägt sich sehr ein, wenn man übersetzt. Ich habe meinen eigenen Übersetzer gefragt, weil ich das im Hinterkopf hatte: Wie ist das eigentlich? Das erste, was ich hörte, war von einem Übersetzer, der mal einen Bibelschüler begleitete. Dieser Bibelschüler war gerade mit der Bibelschule fertig und zog mit einem amerikanischen Bibellehrer vier Wochen durch Deutschland. Danach kam er zurück zur Bibelschule und sagte, er könnte jetzt die ganzen Botschaften geben, ohne sie selbst zu sprechen. Das blieb mir im Gedächtnis.
Als ich dann an die Evangelien heranging, fiel mir das wieder ein. Ja, tatsächlich scheint sich das sehr einzuprägen, wenn man übersetzt. Danach habe ich meinen norwegischen Übersetzer gefragt, ob mein Zeugnis auch prägen könnte, ohne dass ich selbst sprechen würde. Die Antwort war: Kein Problem. Gerade beim Übersetzen muss man sich sehr konzentrieren. Deshalb ist es umso glaubwürdiger, dass sich das so einprägt.
Selbst wenn Petrus Koine-Griechisch sprach – und es ist sogar wahrscheinlich, dass er auf Griechisch sprach und nicht auf Aramäisch – ist seine Muttersprache Aramäisch. Das gibt seiner Sprache eine besondere Färbung.
Lukas hatte natürlich keine aramäische Muttersprache. Aber woher hatte Lukas seine Weisheit? Wie er selbst sagt, hat er die Augenzeugen befragt, darunter besonders die Diener des Wortes.
