Der zweite Brief an die Korinther ist eines der Bücher des Neuen Testaments. Er wurde vom Apostel Paulus verfasst, um die Gemeinde in Korinth zu ermutigen und zu stärken.
In diesem Brief geht Paulus ausführlich auf die Schwierigkeiten und Herausforderungen ein, die er selbst und die Gemeinde erlebt haben. Er spricht offen über seine eigenen Leiden und die Not, die er durchgemacht hat, um die Gläubigen zu trösten und ihnen Mut zu machen.
Paulus betont die Bedeutung von Versöhnung und Gemeinschaft. Er fordert die Korinther auf, einander zu vergeben und in Frieden miteinander zu leben. Besonders wichtig ist ihm die Aufrechterhaltung der Einheit innerhalb der Gemeinde.
Darüber hinaus erklärt Paulus die Rolle seines Apostelamtes und verteidigt seine Autorität gegenüber Kritikern. Er zeigt auf, wie er im Dienst für Christus handelt und wie wichtig es ist, im Glauben standhaft zu bleiben.
Der Brief enthält auch praktische Anweisungen zum Umgang mit Schwierigkeiten, zur Unterstützung von Bedürftigen und zur Förderung eines christlichen Lebenswandels.
Insgesamt ist der zweite Korintherbrief ein bewegendes Zeugnis von Glauben, Hoffnung und Liebe. Er ermutigt die Gläubigen, trotz Herausforderungen und Widerständen treu zu bleiben und die Gemeinschaft im Geist Christi zu leben.
Vom Wunsch nach Kindern bis zur geistlichen Vaterschaft
Fangen wir mal anders an. Viele junge Ehepaare – vielleicht nicht alle, aber viele – wünschen sich von Herzen irgendwann einmal Kinder. Ich weiß aus Erfahrung, dass die ersten Jahre oft ziemlich anstrengend sind. Man bekommt wenig Schlaf, hat viele Ängste. Das Kind hat Hochfieber, und glücklicherweise stellt sich dann heraus, dass es nur der erste Zahn ist.
Doch einfach dieses Baby im Arm zu halten, das kleine Kind zu beobachten, wie es lächelt, wie es zum ersten Mal „Papa“ sagt oder die ersten Schritte macht, das wiegt alles auf. Die Mühen und Ängste, die damit verbunden sind, werden dadurch ausgeglichen.
Ein Zeitensprung: Sechzehn Jahre später baut sich der Teenager vor seinen Eltern auf und sagt: „Ich hasse euch, ihr versteht gar nichts, alles wollt ihr mir verbieten.“ Noch einmal ein Zeitensprung – dreißig Jahre später. Die Eltern sind einsam, alt und irgendwie verbittert. Die Kinder sind weit weg, einer von ihnen hat den Kontakt ganz abgebrochen.
Die Kinder leben nach Prioritäten und für Ziele. Es tut den Eltern innerlich weh, wenn sie nur daran denken. War es eine gute Entscheidung, Kinder zu bekommen? Glücklicherweise endet nicht jede Familiengeschichte so, aber manche schon.
Der Kontrast zwischen den Familienbildern von vor vierzig Jahren und der Realität im Alter könnte nicht größer sein. Also keinen Schreck bekommen – das muss nicht so enden. Aber manchmal endet es eben so.
Das Thema, wie Erich es schon gesagt hat, an diesem Wochenende, ist das Verhältnis von Paulus zu einigen seiner geistlichen Kinder. Diese hat er mit Begeisterung – in Anführungszeichen – „gezeugt“. Damit sind keine leiblichen Kinder gemeint, denn Paulus war nicht verheiratet und hatte keine genetischen Nachkommen. Es sind Menschen, die er zum Herrn gebracht hat, die er geprägt hat, mit denen er die ersten geistlichen Schritte gegangen ist und mit denen er mitgezittert hat, ob sie die ersten Monate oder die ersten ein, zwei Jahre geistlich überleben würden – bei all dem Druck, der von außen ausgeübt wurde.
Er war ihr geistlicher Vater und sagt das mehrmals in diesem Brief, auch schon im ersten Korintherbrief: „Ihr seid meine Kinder.“ Wir werden einen Blick auf seine Emotionen als geistlicher Vater werfen, im Umgang mit Kindern, die oft nicht so lebten, wie er es sich gewünscht hatte. Die oft nicht die Prioritäten hatten, die er sich gewünscht hat, und zu denen das Verhältnis zu dieser Zeit belastet war.
Wir werden auch schauen, wie er versucht hat, sie zu gewinnen – sie persönlich zu gewinnen, aber auch sie auf einen guten Weg zu bringen. Dabei werden wir viel über Glaubwürdigkeit sprechen. Paulus versucht ihnen zu erklären, warum er glaubwürdig ist und warum viele derer, auf die sie gerade hören oder von denen sie sich beeinflussen lassen, nicht glaubwürdig sind.
Glaubwürdigkeit ist ein zentrales Thema dieses Briefes. Wir werden vor allem in den ersten Kapiteln viel darüber lesen – über unsere Glaubwürdigkeit als Eltern, als Freunde, als Menschen, die irgendwo Verantwortung übernehmen und jemanden positiv beeinflussen möchten. Wann sind wir glaubwürdig? Das ist das große Thema dieses Briefes.
Die besondere literarische Form und der Kontext der Briefe
Es ist erstaunlich, oder? Der Heilige Geist hat entschieden, das Wort Gottes auf eine ganz besondere Weise niederschreiben zu lassen. Die Bibel ist nicht einfach eine Sammlung tiefsinniger Sätze, die man darin finden kann, um sie auf ein schönes Foto zu schreiben und daraus einen Kalender zu machen.
Okay, auch wenn viele Christen die Bibel so verwenden – sie enthält tatsächlich schöne Sätze, die sich gut auf Monatskalendern machen. Aber der Heilige Geist hat beschlossen, die Bibel ganz anders zu geben und anders niederschreiben zu lassen. Es ist eine Form von fortlaufenden Gedanken, die zusammenhängen.
Ich meine, die Bibel ist auch keine theologische Schrift im eigentlichen Sinn. Viele Theologen oder Reformatoren haben ihre Gedanken zusammengefasst. Luther zum Beispiel hat Thesen veröffentlicht – ob er sie wirklich an die Kirchentür genagelt hat, ist umstritten, aber er hat sie veröffentlicht. Das war eine theologische Schrift, in der er seine Prinzipien niedergelegt hat. Der Heilige Geist hat die Bibel zum großen Teil nicht so gegeben.
Wenn wir Deutschen die Bibel geschrieben hätten, wenn Gott Deutscher wäre, dann würde die Bibel ungefähr so aussehen: Erstens, wer ist Gott? Eins, eins: Gott ist der Schöpfer von allem. Eins, zwei: Eigenschaften, die nur Gott hat. Eins, drei: Eigenschaften, die Gott hat und die er auch vom Menschen haben möchte. Zweitens: Wer ist der Mensch? Und so weiter. So würden wir die Bibel veröffentlichen, hundertprozentig.
Paulus hat es ganz anders gemacht, und der Heilige Geist hat es auch ganz anders gestaltet, wenn man die ganze Bibel betrachtet. Er erzählt die Bibel oft in Geschichten und Begebenheiten – selbst im Neuen Testament. Dort beginnt sie mit vier Biografien, alle über dieselbe Person.
Was sind Biografien? Es kommen auch Reden vor, Gespräche, aber vor allem viele Begegnungen und Geschichten. Diese Gespräche sind eingebunden in Begegnungen. Die Reden sind eingebettet in die Geschichten drumherum.
Dann folgt ein Geschichtsbuch, das fast nur aus Geschichten besteht: die Apostelgeschichte. Und es endet mit einem prophetischen Buch. Dazwischen sind Briefe. Briefe können eine literarische Form sein. Es gibt Schriftsteller, die ihre Gedanken in Form von Briefen veröffentlichen.
Diese Briefe wurden aber nie tatsächlich von jemandem an jemanden geschickt. Die Empfänger sind fiktiv. Vielleicht ist der Schriftsteller selbst der Absender, aber der Empfänger hat den Brief nie erhalten. Es geht um ein Buch. Auch im christlichen Rahmen gibt es solche Werke. Vor ein paar Jahren ist ein Buch über Missionen erschienen, das lesenswert ist. Es heißt "Briefe, die nie geschrieben wurden".
Die Briefe im Neuen Testament sind jedoch keine literarische Form, sondern echte Briefe, die von Menschen an Menschen geschrieben wurden. Sie stammen von einem oder mehreren Autoren und sind an persönliche Empfänger oder Gemeinden adressiert.
In den meisten Fällen bestand eine Beziehung zwischen dem Autor und den Empfängern. Sie kannten sich. Diese Briefe erzählen nicht nur Geschichten, wie die Evangelien oder die Apostelgeschichte. Sie drücken Beziehungen aus. Geistliche Wahrheiten werden in diesem Rahmen vermittelt.
Um die Briefe des Neuen Testaments wirklich zu verstehen, müssen wir etwas über den Autor, die Empfänger und vor allem über die Beziehung zwischen ihnen wissen. Warum schreibt der Autor die Dinge so, wie er sie schreibt? Welche Situation steckt dahinter? In welcher Lage war er, und in welcher Situation befanden sich die Empfänger, als sie den Brief erhielten?
Ich glaube, oft können wir erst dann verstehen, was in den Briefen steckt, wenn wir diese Hintergründe kennen. Und dann können wir auch besser verstehen, was darin für uns heute enthalten ist.
Die Einzigartigkeit des zweiten Korintherbriefs
Und das ist der zweite Korintherbrief. Mein Römerbrief ist vielleicht ein bisschen anders. Paulus war nie in Rom, und der Römerbrief ist vielleicht wirklich eine theologische Schrift. Darin schreibt er die Grundsätze nieder, die er vermittelt, und schickt sie an die Christen in Rom, bevor er selbst dorthin kommt, um diesen Besuch vorzubereiten.
Fast alle anderen Briefe im Neuen Testament sind an Menschen geschrieben, zu denen bereits eine Beziehung bestand – direkt oder zumindest durch gute Freunde und Mitarbeiter. So hatte Paulus einen Einblick in die aktuelle Situation der Empfänger.
Ich möchte heute Abend und morgen früh mit euch zuerst anschauen, wie diese Beziehung aussah und wie die Situation entstanden ist, in die dieser Brief hineingeschrieben wurde.
Es gibt wahrscheinlich keinen anderen Brief, zumindest keinen Gemeindebrief im Neuen Testament, der so persönlich und so emotional ist wie der zweite Korintherbrief. Ja, auch der erste Thessalonicherbrief hat emotionale Momente, ebenso der Philipperbrief und der Galaterbrief. Doch im zweiten Korintherbrief zieht sich die Emotionalität wie ein roter Faden durch den gesamten Text.
Dieser Brief ist manchmal nicht leicht zu verstehen, weil er so emotional ist. Paulus wird manchmal in seiner Verzweiflung ironisch, und wir haben oft Schwierigkeiten, Ironie zu erkennen.
Ein Schriftsteller, der in Frankreich gelebt hat, sagte einmal: „Kein Wunder, dass er solche Sätze sagt. Wenn man einem Deutschen irgendetwas in Form von Ironie weitergeben will, dann muss man darüber schreiben: ‚Vorsicht, Ironie!‘, sonst verstehen die Deutschen das nicht.“
Manchmal zitiert Paulus in diesem Brief seine Gegner. Im ersten Moment denkt man, er meint es, was er gerade schreibt. Doch manchmal ist es ein Zitat, das er hinterher widerlegt.
Man hat den Eindruck, widerspricht er sich selbst? Nein, er widerspricht sich nicht selbst. Er führt eine Diskussion in dem, was er schreibt – manchmal nicht so einfach zu verfolgen.
Aber ich glaube, es lohnt sich sehr, sich mit diesem Brief zu beschäftigen.
Die Entstehung der Gemeinde in Korinth und Paulus' erste Eindrücke
Beginnen wir am Anfang: Wie ist diese Gemeinde überhaupt entstanden? Paulus, Silas und Timotheus waren auf der sogenannten zweiten Missionsreise. Ihr erster wirklich evangelistischer Einsatz fand in der Nordprovinz von Griechenland statt, die damals Mazedonien genannt wurde.
Die zweite römische Provinz, die uns gleich begegnen wird, ist der südliche Teil von Griechenland. Dazu gehören bekannte Städte wie Athen und Korinth. Zum nördlichen Teil Griechenlands gehören Städte wie Philippi, Thessaloniki und Beröa.
Die dritte Provinz, der wir kurz begegnen werden, ist die heutige Westtürkei. Im Neuen Testament wird sie Asia genannt. Manche deutschen Übersetzungen schreiben „Asien“, was für uns verwirrend ist, da Asien für uns ein Kontinent ist. Im Neuen Testament bezeichnet „Asia“ oder „Asien“ jedoch nicht den Kontinent, den wir kennen, sondern eine römische Provinz, die im Wesentlichen die Westküste der Türkei umfasst. Istanbul gehörte damals noch nicht dazu; im Norden gab es weitere Provinzen. Die westliche Küste der Türkei gehörte ursprünglich zu Griechen, dann aber zum Römischen Reich. Diese Provinz war die mit der zweithöchsten Bevölkerung im Römischen Reich. Die Hauptstadt war Ephesus.
Das sind die drei Provinzen, mehr müsst ihr euch nicht merken: Ganz im Westen liegt Rom, dann Nordgriechenland (damals Mazedonien), Südgriechenland (damals Achaia) und die Westtürkei (damals Asia).
Paulus hatte seine Missionstätigkeiten in Mazedonien, also Nordgriechenland, abgeschlossen. Er war überall gewesen und wurde aus der Stadt verwiesen, in der er zuletzt war. Dies geschah nicht ganz freiwillig. Zunächst kam er allein nach Südgriechenland, nach Athen. Seine Mitarbeiter ließ er in Mazedonien zurück, damit sie die neu entstandenen Gemeinden dort nicht ganz allein ließen.
Zunächst war er in Athen. Dort war es schwierig für ihn. Aus verschiedenen Gründen brach er schließlich allein nach Korinth auf. Korinth war damals die Hauptstadt von Achaia. Es war ein pulsierendes Wirtschaftszentrum und eines der wichtigsten Handelszentren der damaligen Zeit.
Ein Grund dafür war die geografische Lage der Stadt. Wer schon einmal eine Karte von Griechenland gesehen hat, weiß, dass Korinth an einer Landenge liegt. Das bedeutet, das Meer kommt von beiden Seiten ganz dicht zusammen – zwei Buchten, die weit ins Land hineinreichen. An dieser Stelle bleibt nur wenig Landweg übrig, um von einem Meer zum anderen zu gelangen.
Unterhalb dieser Landenge liegt die sogenannte Peloponnes, die mit ihren „Fingern“ in der Antike auch Sparta beherbergte. Die Lage war strategisch äußerst vorteilhaft, weil Korinth den gesamten Handel kontrollieren konnte – sowohl innerhalb des Landes, von der Peloponnes nach Norden, als auch von Norden in die Peloponnes. Niemand konnte an Korinth vorbeigehen, da die Stadt sogar eine Mauer über die gesamte Landenge gebaut hatte. So konnte man auch nicht einfach am Zoll vorbeikommen.
Noch wichtiger war jedoch, dass die Umrundung der Peloponnes für den damaligen Seehandel sehr schwierig war. Es waren 300 Extrakilometer mit unsicherem Wetter und schwierigen Küstenverhältnissen. Viele Schiffseigner und Kapitäne entschieden sich daher, diesen Weg normalerweise nicht zu nehmen. Stattdessen luden sie ihre Waren aus und ließen sie von korinthischen Transport- und Logistikunternehmen die etwa dreißig Kilometer über die Landenge transportieren. Auf der anderen Seite wurden die Waren auf neue Schiffe verladen.
Das bedeutete, dass alle Schiffe an Korinth vorbeikamen und auch durch den korinthischen Zoll mussten. Dadurch wurde Korinth reich. Viele Menschen wurden wohlhabend und kamen in die Stadt, weil sie sich nach einem festen Job, einem Einkommen und Sicherheit sehnten.
Es gab dort, wie in jeder großen Hafenstadt, Menschen aus vielen Ländern. Doch natürlich gab es auch die andere Seite der Einkommenspyramide: viele Sklaven, viel Prostitution und Kriminalität. Die Stadt war in verschiedene Viertel gegliedert, in denen Menschen lebten.
Als Paulus sich auf den Weg nach Korinth machte, gibt er im Rückblick im 1. Korinther 2,3 offen zu, dass er mit gemischten Gefühlen dorthin gekommen war. Er schreibt: „Und ich war bei euch in Schwachheit und mit Furcht und großem Zittern.“ Das sind keine bloßen Worte. Er fühlte sich tatsächlich schwach und gestand, dass ihm die Knie schlotterten. Er hatte ein Stück weit Panik vor dieser Stadt.
Die Erfahrungen in Athen hatten vielleicht dazu beigetragen, aber vor allem war Korinth für jeden Außenstehenden eine beängstigende Stadt. Die Moral war niedrig, besonders in sexueller Hinsicht. Die Stadt war berüchtigt – das Wort „korinthisieren“ stammt zwar aus einem späteren Jahrhundert, doch es bezeichnete das Leben nach sehr niedrigen moralischen Maßstäben.
In manchen Stadtteilen war der tägliche Überlebenskampf hart. Es gab hohe Kriminalitätsraten, und viele versuchten, irgendwie durchzukommen und ihre Familien zu ernähren.
Es ist charakteristisch, dass Paulus im 1. Korintherbrief schreibt: Wenn wir keinen Umgang mehr haben wollen mit Huren, Habsüchtigen, Räubern und Götzendienern, dann müssen wir aus der Welt herausgehen. Er schreibt das nicht ohne Grund.
Sexuelle Unmoral prägte die Stadt ebenso wie Materialismus in seinen schlimmsten Formen. Menschen betrogen einander, indem sie mit falschen Vorwürfen Gerichtsverfahren anstrengten. Andere raubten offen auf der Straße oder in den Badehäusern. Es gab kriminellen Materialismus und Polytheismus. Götzenbilder prägten die Stadt, nicht nur in Athen. Auf dem Marktplatz standen alle möglichen, auch freizügigen Götzenbilder.
Ich glaube, in Athen stand auf dem Marktplatz ein übergroßer Penisstand als Fruchtbarkeitssymbol – man ging also beim Einkaufen jeden Tag daran vorbei. So sah es auch in Korinth aus.
Paulus kam aus einer streng jüdischen Familie, für ihn war das einfach schockierend. Er fürchtete sich ein Stück weit vor dieser Stadt.
Wie er es meistens tat, suchte er zu Beginn einen vertrauten und geschützten Rahmen in der jüdischen Synagoge. Er ging dorthin und brachte das Evangelium zuerst den Juden, die sich dort versammelten. Interessierte Griechen und Römer, die in der Synagoge waren, hörten ebenfalls zu, weil sie die Botschaft interessant oder zumindest glaubwürdig fanden.
Zunächst war Paulus dort willkommen. Doch nur wenige Wochen später wurde ihm die Tür gewiesen. Er war in der Synagoge nicht mehr willkommen. Er musste sich endgültig der Stadt zuwenden, so wie sie war.
Lukas beschreibt das in Apostelgeschichte 18,6: „Als sie aber widerstrebten und lästerten, schüttelte er die Kleider aus und sprach zu ihnen: Euer Blut komme auf euren Kopf; ich bin rein. Von nun an werde ich zu den Nationen gehen.“
Dieser Schritt war für Paulus kein leichter. Es war ein Ausdruck des Gerichts, den er aussprach. Interessanterweise sprach Gott genau zu diesem Zeitpunkt ganz persönlich zu ihm. Der Herr sprach durch eine Vision in der Nacht zu Paulus, wie Lukas in Apostelgeschichte 18,9-10 berichtet: „Fürchte dich nicht, sondern rede und schweige nicht, denn ich bin mit dir, und niemand soll dich angreifen, um dir etwas Böses zu tun, denn ich habe ein großes Volk in dieser Stadt.“
Man sieht: Gott hätte das nicht gesagt, wenn es nicht nötig gewesen wäre. Wenn Gott sagt: „Fürchte dich nicht, schweige nicht, sondern rede“, dann hatte Paulus offensichtlich Angst. Er hätte am liebsten geschwiegen. Sonst hätte Gott es nicht sagen müssen.
Schon durch diesen Satz in der Apostelgeschichte bekommen wir einen Einblick, wie es Paulus ging.
Letztlich geschah etwas Erstaunliches: Paulus konnte achtzehn Monate in Korinth evangelisieren und Gemeinde aufbauen, ohne hinausgeworfen zu werden. Das war auf dieser Missionsreise bisher einmalig. In jeder anderen Stadt konnte er nur wenige Wochen oder Monate bleiben, bevor er offiziell ausgewiesen wurde.
In Korinth aber konnte er so lange bleiben, wie er wollte. Das zeigt, wie lange er an einem Ort blieb, wenn man ihn ließ: ungefähr anderthalb Jahre, wie hier, oder, wie wir gleich noch sehen werden, in Ephesus knapp drei Jahre.
Er wurde in Korinth tatsächlich nicht rausgeworfen, und niemand griff ihn an. Die Angst, die er offenbar hatte, wurde nicht Wirklichkeit. Gott hatte gesagt: „Niemand wird dich angreifen, ich habe ein großes Volk in dieser Stadt.“
Nach achtzehn Monaten verließ Paulus die Stadt wieder. Im Laufe der Zeit bekehrten sich immer mehr Menschen in Korinth – auch während dieser achtzehn Monate.
Anfangs nahmen die Menschen, die er aus der Synagoge mitgenommen hatte, die Grundlage der Gemeinde ein. Das waren wahrscheinlich Menschen aus dem Mittelstand, die in der Synagoge aktiv waren.
Im Laufe der Zeit bekehrten sich aber auch viele andere, die nichts mit der Synagoge oder dem Judentum zu tun hatten und nicht vom Alten Testament geprägt waren. Die Gemeinde näherte sich in ihrer Zusammensetzung immer mehr der Gesellschaft der Stadt an.
Die Oberschicht war offensichtlich kaum vertreten. Paulus schreibt in 1. Korinther 1,26: „Denn seht eure Berufung, Geschwister, dass nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viele Mächtige, nicht viele mit guter Abstammung sind.“
Vielleicht hätte er das nicht an jede Gemeinde geschrieben, aber an die in Korinth schon. Dort waren wenige aus der intellektuellen oder materiellen Oberschicht vertreten, wenige aus vornehmen Familien.
Ein großer Prozentsatz der Gemeinde hatte wahrscheinlich eine einschlägige Vergangenheit. Paulus erwähnt in 1. Korinther 6 Hurer, ehemalige Götzendiener, Ehebrecher, Männer, die ihre Homosexualität ausgelebt hatten, ehemalige Diebe, Habsüchtige, Trinker und Leute, die dazu neigten, verbal ausfällig zu werden, sowie Räuber.
Er sagt: „Solche sind etliche von euch gewesen“ (1. Korinther 6,11), „aber ihr seid abgewaschen, ihr seid geheiligt, ihr seid gerechtfertigt worden im Namen des Herrn Jesus und durch den Geist unseres Gottes.“
Man konnte sich also nicht nur vor der Stadt fürchten, sondern als Verantwortlicher auch vor der Gemeinde. Wenn dort ein relativ großer Prozentsatz Menschen mit solch einem Hintergrund war, konnte das durchaus zu einem rauen Umgangston führen.
Wenn jemand vor seiner Bekehrung ständig verbal ausfällig war und Leute beleidigte, ist es wahrscheinlich, dass er das nicht von einem Tag auf den anderen völlig ablegt. Das kann in der Gemeinde für Spannungen sorgen.
Man kann sich also auch vor so einer Gemeinde fürchten.
Paulus’ weitere Missionsarbeit und die Beziehung zu Korinth
Nachdem Paulus Korinth verlassen hatte, unternahm er schließlich eine Reise. Diese war vielleicht gar nicht so kurz, sondern dauerte einige Monate. Damals dauerten Reisen einfach viel länger als heute.
Sein nächstes wirkliches Missionszentrum war die Provinz Asia. Dort wollte er schon früher hin, bevor er nach Griechenland gekommen war. Damals hatte ihm der Heilige Geist das nicht gestattet, jetzt durfte er es. Paulus ging nach Ephesus, der Hauptstadt dieser Provinz, und blieb dort ungefähr drei Jahre. Im Rückblick sagt er, dass er davon etwa zwei Jahre eine Art Missionsschule betrieb, die Schule des Tyrannus. Dort erklärte er Menschen das Evangelium. Wahrscheinlich schulte er auch junge Gläubige und bildete Mitarbeiter aus. Er arbeitete also fast drei Jahre sehr intensiv in Ephesus.
Die Beziehung zu den Gemeinden in Mazedonien, wo ebenfalls Gemeinden entstanden waren, und zu denen in Achaia, vor allem in Korinth, riss in dieser Zeit nicht ab. Die Entfernung war nicht so groß. Man konnte in Mazedonien gut reisen und den Seeweg zumindest im Sommer nutzen. Im Winter wurde damals nicht mit Schiffen gereist, weil man sich an Sternen orientieren musste, die man im Winter nicht sehen konnte. Zusätzlich war das Wetter oft schlecht. Es gab also eine Saison, in der Seefahrt betrieben wurde, und eine lange Zeit im Jahr, in der keine Schiffe fuhren.
Gerade in den Sommermonaten gab es in diesen drei Jahren mit Sicherheit einen regen Austausch mit den Gemeinden in Griechenland, auch mit Korinth. Paulus schreibt im ersten Korintherbrief, dass er mehrmals Besuch bekommen hat. Auch andere Geschwister in seinem Umfeld hatten Geschäftsbeziehungen oder persönliche Bekanntschaften von Asia, von Ephesus nach Korinth oder umgekehrt. Er erhielt immer wieder Informationen von der Gemeinde dort. Sicherlich wurden auch Briefe geschrieben, die wir heute nicht kennen.
Im Neuen Testament lesen wir vom ersten Korintherbrief, der mit Sicherheit nicht der erste Brief war, den Paulus nach Korinth schrieb. Ebenso lesen wir vom zweiten Korintherbrief, der ebenfalls nicht der zweite Brief war, sondern nur einer von zwei Briefen, die wir bis heute besitzen. Paulus schreibt im ersten Korintherbrief, Kapitel 5 bis 9: „Ich habe euch geschrieben, nicht mit Unzüchtigen Umgang zu haben.“ Das bezieht sich offensichtlich auf einen früheren Brief.
Im ersten Korintherbrief, den wir an diesem Wochenende nicht ausführlich betrachten, spricht Paulus verschiedene Probleme an, die diese Gemeinde hatte. Ich fürchte, keiner von uns wäre gerne in dieser Gemeinde gewesen. Aus ganz verschiedenen Gründen und auf unterschiedlichen Ebenen gab es Gruppenbildungen und Cliquen, die zumindest in manchen Bereichen gegeneinander arbeiteten und in starker Konkurrenz standen.
Das war schon eine ziemlich unangenehme Gemeindesituation. Wenn man zu keiner Clique gehörte, gehörte man vielleicht zur falschen. Moralisch herrschten in dieser Gemeinde für eine christliche Gemeinde teilweise wirklich unhaltbare Zustände.
Vor allem aber war Paulus schockiert darüber, dass sich in der Gemeinde eine erschreckende Toleranz gegenüber diesen Zuständen ausgebreitet hatte. Man akzeptierte Dinge, die aus Sicht des moralischen Maßstabs Gottes absolut inakzeptabel waren. Das hat ihn, glaube ich, wirklich schockiert. Wir werden auf dieses Thema noch zurückkommen.
Das tiefgreifendste Problem in dieser Gemeinde war wahrscheinlich, dass viele Geschwister großen Wert darauf legten, dass die Gemeinde und die Christen in der Gesellschaft ein hohes Ansehen hatten. Dafür waren sie bereit, viele Wahrheiten zu opfern und Prioritäten zu verschieben, nur um angesehen zu sein. Als Christen und als Gemeinde in der Gesellschaft.
Vielleicht ist das für uns Christen im 21. Jahrhundert kein ganz fremdes Problem: Gemeinden und Christen wollen gerne gesellschaftliche Anerkennung haben. Sie wollen nicht Außenseiter sein oder als dumm gelten, weil sie an ihren Glauben festhalten.
Das war damals besonders in Korinth ein großes Problem. Es war ein Grund, warum sie sich von falschen Leuten beeinflussen ließen, nämlich von denen, die gesellschaftlich anerkannt waren. Gleichzeitig wandten sie sich von guten Leuten ab, wie Paulus, der gesellschaftlich nicht anerkannt war. Auch in der Gemeinde selbst sortierten sie Menschen in solche, die man vorzeigen konnte, und solche, die man lieber nicht zeigte.
Paulus empfand diese Entwicklung als sehr schwierig, weil sie zu vielen faulen Kompromissen und falschen Prioritäten führte. Eng damit verbunden war ein großer Hang zum Materialismus. Man wollte als Christ irgendwie ein gutes Leben führen.
Ja, Jesus nachzufolgen und an ihn zu glauben, um ein ewiges Leben zu haben – das ist großartig. Aber das bedeutete für viele nicht, dass sie bereit waren, ihr angenehmes bürgerliches Leben auf dieser Erde dafür aufs Spiel zu setzen oder gar aufzugeben.
Paulus war frustriert, dass das den Geschwistern so wichtig war. Vielleicht war es für ihn nicht einmal ein Problem, dass es ihnen gut ging. In manchen Gesellschaften geht es Christen gut. Was sollen sie tun? Sie sind fleißig und gründlich. In manchen Gesellschaften, wo Christen einfach toleriert werden, ist dadurch schon der gesellschaftliche Aufstieg vorprogrammiert, weil es gar nicht so viele fleißige und gründliche Menschen gibt, die man gern als Handwerker ins Haus holt. Plötzlich hat man viele Aufträge.
Das allein hätte Paulus wahrscheinlich nicht frustriert. Was ihn frustrierte, war, dass den Korinthern ihr angenehmes Leben so wichtig war, dass sie dafür geistliche und wichtige Dinge zurückstellten. Paulus hatte sie zum Glauben geführt und ihnen alles beigebracht, was die geistlichen Erkenntnisse betraf. Er lebte ganz anders.
Der emotionalste Abschnitt im ersten Korintherbrief ist genau an dieser Stelle, wo Paulus seine Frustration über die Gemeinde offenbart. Er wird hier viel emotionaler, als wenn er über Fälle von Hurerei oder Spaltung spricht.
Warum ist euch das so wichtig? Warum lebt ihr so, als würdet ihr im Schlaraffenland leben? Er schreibt davon in 1. Korinther 4,8: „Schon seid ihr satt geworden, schon seid ihr reich.“ Mit anderen Worten: Ihr seid selbstzufrieden und lebt ein Stück weit wie Adlige.
Paulus fragt: Wie leben wir, eure geistlichen Väter, und wie lebt ihr? Wie passt das zusammen? Weiter in 1. Korinther 4,8 heißt es: „Ihr seid ohne uns zur Herrschaft gekommen.“ Das ist fast schon sarkastisch gemeint. Würdet ihr doch wirklich herrschen, damit auch wir mit euch herrschen könnten!
Mit anderen Worten fragt Paulus, ob die Apostel etwas verpasst haben. Ist Jesus schon wiedergekommen? Herrschen die Christen schon mit ihm? Wenn man euch beobachtet, sieht es so aus, als würdet ihr schon mit Christus herrschen. Wir Missionare und Apostel haben das nicht bemerkt. Unser Leben sieht immer noch anders aus. Haben wir etwas verpasst?
Dieses Wort drückt seine Frustration aus. In Vers 9 schreibt Paulus: „Denn ich denke, dass Gott uns Apostel als die Letzten dargestellt hat, als zum Tod Verurteilte. Denn wir sind in der Welt ein Schauspiel geworden, sowohl für Engel als auch für Menschen.“
Er sagt damit: Unser Leben spiegelt keinen Wohlstand wider. Schaut uns an! Unser Leben ist eher wie das eines Menschen in der Arena, der zum Tod verurteilt ist, mit wilden Tieren kämpft, aber eigentlich schon tot ist, weil jeder weiß, dass er nicht lebend aus dieser Arena herauskommt. So sieht unser Leben aus, und euer Leben sieht aus wie das Leben von Adligen. Wie passt das zusammen?
Das hat ihn zutiefst frustriert. Zur damaligen Zeit in Korinth waren die Apostel zum Tod verurteilt, aber noch nicht umgebracht. Diese Gedanken finden wir auch im zweiten Korintherbrief wieder, wenn auch weniger im Vergleich mit anderen, sondern mehr in Bezug auf sein eigenes Leben.
Wenn wir in 1. Korinther 4 weiterlesen, merken wir, dass Paulus sagt: Er sagt das nicht, um ihnen ein schlechtes Gewissen zu machen. Es geht nicht darum, dass sie den Brief lesen und danach möglichst lange mit einem schlechten Gewissen herumlaufen.
Er macht sich wirklich Sorgen um sie. Er ist nicht neidisch, sondern besorgt um ihre geistige Entwicklung. Es tut ihm weh, weil er den Eindruck hat, dass sie ihr Verhältnis zu ihrem Herrn, ihrer Zukunft und der Herrlichkeit ruinieren – sowohl als Gemeinde als auch als einzelne Christen auf dieser Erde.
Er möchte sie wie ein Vater ermahnen, der sich wirklich Sorgen um seine Kinder macht. Er will sie zum Nachdenken bringen: Wie leben wir? Ist es wirklich gut so?
In 1. Korinther 4,14 schreibt Paulus: „Euch ermahne ich als meine geliebten Kinder, denn wenn ihr zehntausend Erzieher hättet, so doch nicht viele Väter; denn in Christus Jesus habe ich euch gezeugt durch das Evangelium.“
Er hatte ihnen das Evangelium beigebracht, sie waren gläubig geworden. Er war nicht nur wie ein Vater, das war nicht nur ein Bild. Geistlich war er Vater. Er hatte die Emotionen, die Sorgen, die ein Vater um seine Kinder hat. Manchmal kam das sehr emotional zum Ausdruck.
Diese Menschen waren ihm nicht egal, sie bedeuteten ihm viel.
Die Situation nach dem ersten Korintherbrief und die Eskalation
Wie gesagt, Paulus war insgesamt knapp drei Jahre in Ephesus. Sechs bis sieben Monate, bevor er Ephesus verlassen hat, schrieb er den ersten Korintherbrief, aus dem ich gerade zitiert habe. Es war wahrscheinlich Spätsommer oder Herbst des Jahres. Eine genaue Zeitangabe ist schwierig, denn in der Apostelgeschichte gibt es keine verlässliche Zeitrechnung.
Alle Zeitrechnungen und Tabellen, die ihr lesen werdet, unterscheiden sich um ungefähr zwei Jahre. Man kann also nicht einfach eine Jahreszahl nennen. Es war jedoch sein letzter Herbst in Ephesus. In diesem Zeitraum verfasste er den ersten Korintherbrief. Am Ende dieses Briefes erwähnt er, dass Timotheus bald nach Korinth kommen wird und dass die Gemeindemitglieder ihm auf seiner Rückreise nach Ephesus helfen sollen, um Paulus zu unterstützen.
Was danach geschah, lesen wir nicht in der Apostelgeschichte. Alles, was danach passiert ist, können wir nur aus dem zweiten Korintherbrief rekonstruieren. Offenbar waren die Nachrichten, die Timotheus im Herbst aus Korinth mitbrachte, alles andere als gut. Paulus hatte den ersten Korintherbrief bereits geschrieben und Probleme angesprochen. Doch die Nachrichten von Timotheus bestätigten, dass die Schwierigkeiten nicht beseitigt waren. Wahrscheinlich löste dies die nachfolgenden Entwicklungen aus.
Wie gesagt, es sind nur Andeutungen, die wir zu einer Geschichte zusammensetzen. Diese Rekonstruktion ist möglicherweise nicht hundertprozentig genau, aber sie entspricht ungefähr dem Ablauf der Ereignisse.
Im Wesentlichen ging es weiterhin um Sünden auf moralischem Gebiet. Einen besonders krassen Fall hatte Paulus im ersten Korintherbrief bereits besprochen und sehr konkrete Anweisungen dazu gegeben. Es war jedoch offensichtlich nicht der einzige Fall. Paulus schreibt, dass viele Geschwister, die in der Gemeinde als Gemeindeglieder galten, weiterhin Probleme in diesem Bereich hatten.
Diese Schwierigkeiten waren auch zur Zeit des zweiten Korintherbriefs noch nicht ausgeräumt. Im Vers nahe dem Ende des zweiten Korintherbriefs, Kapitel 12 bis 21, schreibt Paulus, dass er noch immer über viele trauern muss, die in der Vergangenheit gesündigt und keine Buße getan haben. Konkret geht es um Unreinheit, Hurerei und Ausschweifung, die sie betrieben haben.
Wahrscheinlich war dies auch zu der Zeit vor dem zweiten Korintherbrief das Hauptproblem: Viele oder zumindest einige in der Gemeinde lebten moralisch nicht so, wie Christen leben sollten.
Damals war es völlig üblich, homosexuelle Beziehungen zu haben. Es kann gut sein, dass dies in der Gemeinde keine Rolle spielte. Aber auch Beziehungen neben der Ehe oder außerhalb der Ehe waren in der damaligen Gesellschaft, zumindest für Männer, absolut normal.
Wir tun heute oft so, als lebten wir in einer moralisch extrem verwerflichen Zeit, vor allem im Vergleich zu vor hundert Jahren. Doch im Neuen Testament waren die Zustände außerhalb des Judentums keineswegs anders. Es herrschten exakt die gleichen moralischen Verhältnisse, über die wir uns heute als Christen in unserem Land aufregen.
Wir regen uns auf über das, was wir in der Zeitung lesen und über Gesetzesänderungen, die vieles legalisieren, was früher verboten war. Wir sind heute also wieder bei neutestamentlichen Zuständen angekommen. Wollen wir nicht eine neutestamentliche Gemeinde sein, die sich wirklich von ihrer Umgebung unterscheidet? Daran haben wir uns immer noch gesehnt.
Aber warum regen wir uns auf? Warum beklagen wir, dass die Welt weltlich ist? Das Problem war damals, dass die Welt in die Gemeinde eingedrungen ist. Das ist wirklich ein Problem. Nicht das, was draußen in der Welt geschieht, sondern das, was in der Gemeinde passiert, ist unser Problem.
Paulus’ geänderte Reisepläne und der emotionale Brief
Paulus hat offensichtlich beschlossen, seine Reisepläne zu ändern. Am Ende des ersten Korintherbriefs schrieb er, dass er im nächsten Frühjahr aufbrechen werde. Gegen Pfingsten wollte er seine Zelte in Ephesus abbrechen und eine weitere Reise unternehmen – zuerst durch Mazedonien, und dann wollte er zu den Korinthern kommen und wahrscheinlich den nächsten Winter bei ihnen verbringen.
Als die Nachrichten von Timotheus kamen, hatte dieser offenbar einen Kurzbesuch in Korinth gemacht, um Probleme anzusprechen und Gespräche zu führen. Wann immer er das getan hat, war es wahrscheinlich bei den ersten Reisemöglichkeiten im Frühjahr, noch vor Pfingsten. Paulus schreibt mehrfach, dass er am Ende des zweiten Korintherbriefs bereitsteht, zum dritten Mal zu kommen. In 2. Korinther 13,2 heißt es: „Ich habe vorhergesagt und sage vorher, wie das zweite Mal anwesend, sage ich es auch jetzt abwesend, denen, die in der Vergangenheit gesündigt haben und allen übrigen, dass ich, wenn ich wiederkomme, nicht schonen werde.“
Offensichtlich ist Paulus nach Korinth gegangen und hat dort sehr klar die moralischen Maßstäbe klargestellt. Er gab ihnen Zeit, die Dinge in Ordnung zu bringen, und sagte, dass er beim nächsten Mal als Apostel durchgreifen werde. In 2. Korinther 2,1 schreibt er, nachdem er doch nicht ein weiteres Mal hingefahren ist: „Ich habe aber für mich beschlossen, nicht auch ein weiteres Mal in Traurigkeit zu euch zu kommen.“
Dieser Kurzbesuch nach dem ersten Korintherbrief und vor dem zweiten Korintherbrief war offensichtlich von Traurigkeit geprägt. Paulus war frustriert über die Korinther und ihre spontanen Reaktionen auf seine Maßstäbe und Kritik. Die Korinther wiederum waren frustriert über seine Kritik. Man kam nicht zusammen, die Gespräche waren frustrierend und von Traurigkeit geprägt.
Kurz nach seiner Abreise muss die Situation eskaliert sein. Wir wissen nicht genau, was passiert ist, aber offensichtlich hat jemand in der Gemeinde, entweder als Paulus noch da war, kurz vor seiner Abreise oder kurz danach, Paulus massiv verbal angegriffen. Das war zwar zu erwarten, da Paulus Dinge direkt angesprochen hatte. Schockierend war jedoch, dass niemand Paulus spontan verteidigte. Niemand wies die Angreifer zurecht oder setzte ihnen Grenzen.
Es sah so aus, als würde die ganze Gemeinde sich schweigend hinter die Angreifer stellen und sich gegen Paulus wenden. Mit diesem Gefühl kam Paulus zurück nach Ephesus. Die Gemeinde, die er gegründet hatte, in der viele durch ihn gläubig geworden waren und die alle durch ihn geprägt worden waren, distanzierte sich von ihm. Sie akzeptierte und nahm seine Worte nicht mehr an und setzte sie nicht mehr um.
Paulus spricht davon, dass jemand Unrecht getan, Trauer verursacht und ihn betrübt hat. Damit hat diese Person letzten Endes alle betrübt. Es war eine sehr schwierige emotionale Situation. Paulus war so aufgewühlt, dass er seine Reisepläne änderte. Ursprünglich wollte er erst durch Mazedonien reisen und dann zu den Korinthern kommen. Nach dem Kurzbesuch entschied er sich, erst nach Ephesus zurückzukehren, alles aufzuräumen und abzuschließen. Danach wollte er seine Reise umkehren, direkt erneut zu den Korinthern kommen und dann weiter nach Mazedonien reisen, weil er sie gern noch einmal sehen wollte – mehr als ursprünglich geplant.
Nach dieser Eskalation entschied er jedoch, dass es nicht sinnvoll sei, in dieser angespannten Beziehungssituation noch einmal zu besuchen. Er hatte Angst, dass die Situation erneut eskalieren und die Beziehung unwiederbringlich zerbrechen könnte. Paulus wollte, dass die Korinther nachdenken können. Er meinte, sie könnten nicht nachdenken, solange er vor ihnen stünde, denn dann müssten sie spontan reagieren. Er wünschte, dass sie die Dinge verarbeiten könnten.
Deshalb schrieb er ihnen noch einmal einen Brief – einen Brief, den wir nicht besitzen, der aber zwischen dem ersten und dem zweiten Korintherbrief verfasst wurde. Es war ein sehr emotionaler Brief, wie in dieser Situation nicht anders zu erwarten. In 2. Korinther 2,4 schreibt Paulus: „Denn aus vieler Bedrängnis und Beklemmung des Herzens schrieb ich euch mit vielen Tränen.“ Dieser Brief war mit inneren Ängsten verbunden. Paulus fürchtete, dass die Korinther ihm endgültig die Tür verschließen und die Beziehung zu der von ihm gegründeten Gemeinde abbrechen würden.
Diese Angst bereitete ihm schlaflose Nächte und führte dazu, dass er einen emotionalen Brief schrieb, in dem er weinte, wenn er an die Situation dachte. Er war gefangen in persönlichen Enttäuschungen, Trauer und Angst. Seine väterlichen Gefühle brachten ihn zu diesen Reaktionen. Paulus schrieb diesen Brief, damit die Korinther sich in seine Gefühle hineinversetzen und verstehen konnten, wie es ihm ging. Es ging ihm nicht nur um Wahrheit oder Moral, sondern vor allem um sie.
In 2. Korinther 2,4 schreibt er weiter: „Nicht um euch traurig zu machen, habe ich diesen Brief geschrieben, sondern damit ihr die Liebe erkennt, die ich besonders zu euch habe.“ Er sagt, dass die Korinther einen besonderen Platz in seinem Herzen haben. Er schrieb den Brief nicht, um sie zu frustrieren oder traurig zu machen, sondern um ihnen Einblick in seine Gedanken, seine Emotionen und sein Herz zu geben – damit sie verstehen, wie sehr er sie liebt.
Natürlich erwartete Paulus auch eine Positionierung von ihnen. In 2. Korinther 2,9 heißt es: „Denn dazu habe ich euch geschrieben, damit ich eure Bewährung erkennen kann, dass ihr in allem gehorsam seid.“ Er wollte, dass sie den Brief lesen und zur Ruhe kommen, ohne dass er da ist, um mit ihnen darüber zu sprechen. Er wünschte, dass sie sich zum Gehorsam wenden – ihm als ihrem geistlichen Vater und Gott gegenüber.
Danach änderte Paulus seine Reisepläne erneut. Wie bereits erwähnt, kehrte er nicht zurück nach Korinth, sondern nahm seinen ursprünglichen Plan wieder auf. Er reiste nach Troas und dann nach Mazedonien, um von dort vielleicht eine offene Tür nach Korinth zu haben. Den Brief, den wir nicht besitzen und dessen Details wir nicht kennen – nur das, was Paulus im zweiten Korintherbrief darüber sagt –, überbrachte Titus.
In der folgenden Zeit wartete Paulus auf Titus. Er kam nach Troas, eigentlich mit dem Ziel, überall zu evangelisieren. Paulus berichtet, dass er in Troas angekommen sei und mit dem Evangelisieren begann – einfach aus Gewohnheit. Er hatte mit Titus vereinbart, dass dieser den umgekehrten Weg nimmt: von Südgriechenland nach Mazedonien und dann nach Troas, um Paulus unterwegs zu treffen.
Paulus sagt, er war in Troas, doch Titus kam nicht. Er konnte sich nicht auf das Evangelisieren konzentrieren, obwohl sich eine offene Tür zeigte. Die Menschen waren offen und wollten das Evangelium hören. Trotzdem hatte Paulus keine Ruhe, weil er Angst hatte vor der Nachricht, die Titus bringen würde. Er hatte Panik.
Überlegt man, dass Paulus ein Vollblut-Evangelist war, dem es darum ging, Menschen für den Herrn zu gewinnen, ist es bemerkenswert, dass er trotz einer offenen Tür keine Ruhe fand. Schließlich sagte er, er könne nicht evangelisieren und nicht weiter warten. Daraufhin brach er von Troas auf und reiste nach Mazedonien.
Paulus gibt uns damit einen tiefen Einblick in seine Gedanken und Gefühle. Als er in Mazedonien ankam, schreibt er, dass er dort zunächst Titus erwartete. Wo Titus sich genau aufhielt, wissen wir nicht. Wahrscheinlich war er zuerst wieder in Philippi oder vielleicht schon in Thessalonich. Doch Titus kam nicht.
Paulus berichtet von äußeren Bedrängnissen – er war bereits aus beiden Städten vertrieben worden, es war also weiterhin schwierig. Vor allem aber spricht er von inneren Ängsten. Endlich kam Titus mit Nachrichten aus Korinth. Diese Nachrichten werden wir uns morgen früh anschauen.
