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05.05.1990Apostelgeschichte 17,22-34
Über der glänzenden Stadt Athen hielt Paulus eine glänzende Rede, die bis heute von ihrem Glanz nichts verloren hat. Konrad Eißler unterstreicht drei Sätze, die den Gegensatz zwischen der griechischen Götter- und Kunstwelt damals und der neuen Welt Gottes beleuchten. - Predigt zum Sonntag Jubilate aus der Stiftskirche Stuttgart

Ich möchte Sie heute zu einer Reise nach Athen einladen. Mit dem City-Jet sind es nur knappe drei Stunden in die griechische Metropole, mit den Gedanken sogar nur Bruchteile von einer Sekunde. Athen ist eine Reise wert. So wie Jerusalem die heilige Stadt, oder so wie Rom die ewige Stadt, oder so wie Prag die goldene Stadt ist, so wird Athen die glänzende Stadt genannt. Sitzen Sie mit mir nicht unten auf den Agora und freuen sich an den weißen Rosen aus Athen vor dem Theseustempel. Steigen Sie mit mir nicht oben auf die Akropolis und vertiefen sich in die Geheimnisse des Erechtheion. Stehen Sie mit mir zuerst auf dem Areopag, halbwegs, auf halber Höhe zwischen Berg und Stadt. Viele Touristen aus aller Herren Länder stehen auch dort und schießen mit den Kameras. Leider übersehen fast alle dieses ungewöhnliche Denkmal der Kirchengeschichte, dessentwegen ich Sie hauptsächlich zu dieser Stadtreise eingeladen habe. Auf einer Tafel nämlich, die im Jahre 1951 dort angebracht wurde, ist folgender Text aus der Apostelgeschichte 17 in neutestamentlichem Griechisch in Bronze gegossen worden: Acta 17,22ff. So stehen wir also vor der Bronzetafel genau an dem Platz, an dem 1900 Jahre zuvor Paulus höchstpersönlich gestanden hat. Gewiss ist dieser Reiseprediger nicht gleich dort gestanden. Zuerst stand er auf der Straße, mutterseelenallein. Seine beiden Begleiter Timotheus und Silas waren zurückgeblieben. Überall wimmelte es von Statuen und Denkmälern und Tempeln. Die ganze Chaussee ein Flohmarkt von Heiligenbildern, ein Jahrmarkt von Gottesfiguren, ein Tiermarkt von Götzengestalten. Dann stand Paulus in der Synagoge, gewohnheitsmäßig. Juden zuerst, dann die Heiden. Dieser Grundsatz gehörte immer schon zu seinem Missionskonzept. Auch gallenbittere Erfahrungen mit der jüdischen Geistlichkeit konnte ihn nicht davon abbringen. Israel bleibt das auserwählte Volk, auch wenn sie bis heute Jesus als den Messias ablehnen. Dann stand Paulus auf dem Marktplatz, freimütig. Seine Botschaft durfte nicht watteverpackt hinter Kirchenmauern konserviert werden. Das Evangelium hat eine unbestreitbare Öffentlichkeits­tendenz. Deshalb platzierte er sich in die Menge wie in Speakers Corner im Londoner Hydepark. Dann aber stand Paulus auf dem Areopag, gezwungenermaßen. Sie hatten ihn nämlich alles geheißen. Was will dieser Schwätzer sagen? Seine Worte sind doch nur nach­ geschwätzt. Was will dieser arme Schlucker wissen? Seine Fündlein sind doch nur gestohlen. Was will dieser hergelaufene Schlawiner verkündigen? Seine Weisheiten sind aufgeschnappte Wahr­heitskörner. Ein Lotterbube ist es, der sich großmacht. Ein Körnerpicker ist es, der sich das Beste herauspickt. Ein Clochard ist es, der im Reich des Geistes Zigarettenstummel vom Trottoir sammelt. Solchen Typen muss man das Handwerk legen. Solchen Typen muss man den Meister zeigen. Solchen Typen muss man klaren Wein einschenken - oder klares Gift, so wie dem Sokrates, der auch auf dem Areopag den Schierlingsbecher austrinken musste, nur weil er nicht an die vielen Götter glaubte. Paulus wurde also vom Pöbel abgeführt, zu diesem Gerichtsplatz hinaufgeführt und den Ratsherren vorgeführt. Und dort hat ihm angesichts solchen Geistes nicht der Atem gestockt. Und dort hat ihm angesichts solcher Geistlichkeit nicht die Stimme versagt. Und dort ist ihm angesichts solcher Geistesfülle nicht die Sprache weggeblieben. Über der glänzenden Stadt Athen hielt Paulus eine glänzende Rede, die bis heute von ihrem Glanz nichts verloren hat. Erlauben Sie mir nur drei Sätze daraus zu unterstreichen.

1. Ihr seht die glänzenden Taten, aber nicht den Glanz seiner Tat

Paulus zeigt auf die Denkmäler. Ihr seht dort den großen Achill, den tapferen Helden vor Troja. Seine Mutter wollte ihn unbesiegbar machen, salbte ihn deshalb mit Ambrosia und steckte ihn in eine von Hephaistos geschmiedete Rüstung. Er trieb die Trojer zurück und besiegte sogar Hector. Ihr seht den großen Herkules, den starken Helden aus Theben. Schon in der Wiege zeigte der Neugeborene unmenschliche Kräfte und erwürgte eine Riesenschlange. Später kämpfte er gegen den Nemeischen Löwen und zwang ihn in die Knie. Ihr seht den großen Leonidas, den königlichen Helden von Sparta. Seine Leute erzog er zur spartan­ischen Lebensführung mit knochenhartem Drill. Gegen eine wahnsinnige Übermacht verteidigte er die Thermopylen.

Ihr seht sie alle, so wie wir sie auch sehen, obwohl sie ihr kriegerisches Outfit abgelegt haben. Wir sehen das große As auf dem Hartplatz, wie er seine Bälle über das Netz schmettert und den andern in die Knie zwingt. Wir sehen den großen Star auf der Bühne, wie er ins Mikrofon brüllt und die Fans in Ekstase versetzt. Wir sehen den großen Könner Mensch, wie er sein Himmelsteleskop im Weltraum platziert und bis an die Ränder des Universums schaut. Auch wenn wir keine Denkmäler mehr bauen, Poster, Fotos, Bilder haben wir allemal, vor denen wir knien.

Ihr seht die glänzenden Taten, aber nicht den Glanz seiner Tat. Achill wurde getötet, als Paris einen Pfeil abfeuerte und haargenau traf. Herkules wurde getötet, als Öta einen Scheiterhaufen entzündete und ihn mitsamt seinem wertvollen Gewand verbrannte. Leonidas wurde getötet, als die Perser ihn ausmachten und in einer Sackgasse stellten. Alle wurden getötet, auch Jesus Christus, als ein römisches Hinrichtungskommando ihn vor Jerusalem ans Schandholz schlug. Aber der ist nicht im Tod geblieben. Jesus hat den Tod niedergerungen. Jesus hat die Hölle aufgebrochen. Jesus hat das Leben wieder gesehen. Die Auferstehung Jesu Christi von den Toten ist die Glanztat unseres Gottes. Und weil dies kein unbekannter Gott ist, dem wir wie am Grabmahl des unbekannten Soldaten einen Totenkranz niederlegen müssten, und weil es kein ungenannter Gott ist, dem wir mit dem Dichter, der sagte "ich habe keinen Namen dafür“, einen Ehrenkranz flechten müssten, und weil es kein unerkannter Gott ist, der unter den vielen Lichtern am Götterhimmel noch gar nicht entdeckt worden ist, sondern weil es ein bekannter und genannter und erkannter Gott ist, der an Weihnachten jedem ganz nahe auf die Haut gerückt ist und seit Pfingsten in uns leben und weben will, deshalb können wir mit seinen Auferstehungskräften rechnen, die uns nicht einfach dem Verfall aller Dinge preisgeben. Selbst wenn die Kräfte ab­nehmen, die Gebrechen zunehmen, die Todesschatten das Licht wegnehmen, so behält doch Rudolf Hagelstange recht: "Uns ist eine Welt anheimgegeben, in der der Tod sein Büttelrecht verwirkt."" Ihr Männer von Athen, überseht nicht den Glanz seiner Tat.

2. Ihr hört die glänzenden Worte, aber nicht den Glanz seines Wortes

Paulus zeigt auf die Altäre. Ihr hört den klugen Plato, der den Weg zu den ewigen Ideen beschrieben hat. Vier Kardinaltu­genden seien auf diesem Weg unabdingbar: Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit. Nur so erreiche man die Unsterb­lichkeit der Seele. Ihr hört dort den klugen Sophokles, der den Weg zur inneren Vollendung in seinen Tragödien dargestellt hat. Es gäbe nichts anderes, als ungebrochen sein herbes Schicksal zu übernehmen. Die überragende Macht der Götter sei furchtbar. Ihr hört dort den klugen Aristoteles, der den Weg zum letzten Ziel in einer eigenen Schule gelehrt hat. Nur die eigene Vernunft, der logos, könne den richtigen Weg weisen. Das höchste Gut sei dann die Glückseligkeit.

Ihr hört sie alle, so wie wir sie auch hören, obwohl inzwischen ganz andere Altäre gebaut wurden. Ich denke etwa an den Altar des Fortschritts. Und dort hören wir, dass es auf dem Weg mit den Errungenschaften immer so weitergehe und dass es immer mehr Lohn für immer weniger Arbeit geben werde. Oder ich denke an den Altar der Religion und dort hören wir, dass wir ja alle, Juden, Christ und Hottentot an einen Gott glauben und uns deshalb auf dem Weg zum religiösen Eintopf nicht so zieren sollten. Ich denke an den Hochaltar des großen Ichs und dort hören wir, dass es zum letzten Glück nur über den Weg der Selbstannahme, der Selbstentfaltung und der Selbstverwirklichung gehe.

Ihr hört die glänzenden Worte, aber nicht den Glanz seines Wortes. Denn alle menschlichen Worte haben es wie die Geldstücke. Neu funkeln und blitzen sie, aber dann gehen sie von Hand zu Hand und verlieren ihren Glanz. Schließlich sind sie abgegriffen und werden durch andere Stücke ersetzt. Alte Münzen, für die ich nichts kaufen kann. Platos Worte, alte Münzen. Sophokles Wahrheiten, alte Münzen. Aristoteles Weisheiten, alte Münzen. Neue, neuere, neuste Erkenntnisse, alte Münzen, die keinen Wert haben. Allein Jesu Wort hat seinen Wert und seinen Glanz behalten. Und der sagt: "Ich bin der Weg." Alles andere sind Sackgassen, die als Holzwege enden. Ich bin die Wahrheit. Alles andere sind Lügen, die ihre kurzen Beine haben. Ich bin das Leben. Alles andere bringt den Tod, der eine reiche Ernte hält. Gottes Wort wird nicht eines Tages abgewertet, weil es dem gefallenen Markt­ wert angeglichen werden muss. Gottes Wort wird eines Tages nicht aufgewertet, weil es inflationäre Tendenzen zeigt. Gottes Wort wird nicht eines Tages wertlos gemacht, weil es keine Deckung mehr hat. Gottes Wort wird aber eines Tages umgetauscht, nicht von einer Währung in die andere im Verhältnis 1:1 oder 2:1, sondern von der Verheißung in die Erfüllung im Verhältnis 1:unendlich. Dann ist der Weg sichtbar, dann ist die Wahrheit greifbar, dann ist das Leben, das ewige Leben da. Dagegen sind alle andern Worte nur Spielgeld. Ihr Männer von Athen, überhört nicht den Glanz seines Wortes.

3. Ihr bestaunt die glänzenden Künste, aber nicht den Glanz seiner Kunst

Paulus zeigt auf die Tempel. Ihr bestaunt dort die Pinakothek mit wertvollen Gemälden. Ihr bestaunt dort den Panthenon mit den unzähligen Skulpturen. Ihr bestaunt dort die Propyläen mit den ionischen Säulen.

Ihr bestaunt sie alle, so wie wir sie auch bestaunen, weil seither unzählige Gemäldegalerien und Kunsthallen und Musentempel gebaut worden sind. Im Louvre in Paris, in der Carnegie-Hall in New York, in der Eremitage in Leningrad, in der Pinakothek in München stehen sie, staunen sie und beten sie an.

Ihr bestaunt die glänzenden Künste, aber nicht den Glanz seiner Kunst. Zugegeben, auf vielen Darstellungen, Nachbildungen, Plastiken ist es künstlerischer gelungen, doch in seiner Ursprünglichkeit war es weder kunstvoll noch wertvoll. "Er hatte keine Gestalt noch Schöne. Da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachteste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man die Augen vor ihm verbarg." Auf dem Kreuz von Golgatha liegt aber der Glanz seiner Kunst. Sicher wäre es für Gott keine Kunst gewesen, seinen einzigen Sohn aus den Händen der Henker zu retten. Aber mit diesem Kunstgriff sondersgleichen packte er die Sünde beim Schopf und nagelte sie am Verbrecherholz fest. Das Kreuz Jesu Christi ist das Kunstwerk Gottes, an dem keiner vorbei­kommt und vor dem jeder zu einer Entscheidung gezwungen wird. Entweder wir bleiben stehen und spotten, so wie viele Kluge in Athen. Gott wollte auch Akademiker, Gelehrte, Schriftsteller, Dichter und Künstler dabeihaben, aber viele schüttelten den Kopf. "Wir stolzen Menschenkinder, sind eitel arme Sünder und wissen gar nicht viel. Wir spinnen Luftgespinste und suchen viele Künste, und kommen weiter von dem Ziel." Entweder wir bleiben stehen und spotten, oder wir bleiben sitzen und diskutieren, so wie viele Neunmalkluge in Athen. "Wir wollen ein andermal weiterhören", sagen sie. Wir wollen ein andermal weiter diskutieren. Wir wollen ein andermal diese wunderliche Hypothese ausdisku­tieren bis zum "geht nicht mehr". Aber Gott diskutiert nicht, sondern schickt sein Wort. Entweder wir bleiben sitzen und disku­tieren, oder - und dazu sind wir eingeladen - wir knien nieder und beten an, so wie Damaris und Dionysius, eine kleine Hausfrau und ein großer Ratsherr, ein unbeschriebenes Blatt und ein bedeut­endes Haus. Beide haben den weltfernen Gott als den hautnahen Heiland erlebt, beide haben auf ihrem Weg angehalten und den Kreuzweg eingeschlagen, beide haben den angebotenen Glauben angenommen und damit neu gelebt. Ihr Männer von Athen, und ihr Frauen von Athen und ihr Kinder von Athen und ihr alle von allen andern Städten auch, bestaunt den Glanz seiner Kunst, den Glanz seines Wortes, den Glanz seiner Tat. Er ist nicht fern. Er ist nah. Er ist da. Es könnte uns glänzend gehen.

Amen

[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]