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Der Grabstein ist erst einmal der Standplatz für Leute, die Ostern erleben wollen. Auf unsere Warum-Fragen antwortet Jesus aber mit der Gegenfrage: “Warum weinst Du?” Jesu Osterwort verwandelt den Grabstein zum Markstein, zum Grenzstein und zum Wegstein. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart


Maria stand vor dem Grabstein, liebe Gemeinde. Das also ist der Standplatz für solche, die Ostern erleben wollen. Maria stand vor dem Grabstein. Das ist der Standort für solche, die Ostern begreifen wollen. Maria stand vor dem Grabstein. Das ist der Standpunkt der Osterleute. Ich weiß, dass viele lieber vor ein­em Forsythienstrauch stehen, der seine gelben Blüten zeigt, lieber vor einer Krokuswiese, die ihre Pracht entfaltet, lieber vor einem flachen Hügelland, das sein erstes Grün präsentiert. Aber dort erleben sie nur das Aufwachen der Natur, nicht die Auferweckung des Herrn. Wer mehr will als ein paar Blümchen, die schon nach wenigen Tagen ihre Köpfe hängen lassen, der gehe mit Maria zu den Toren der Stadt hinaus. Sie stand vor dem Grabstein und weinte. Das war doch der Schlussstein eines Weges. Damals hatte er im Marktflecken Magdala begonnen, unweit von Tiberias am See Genezareth. Sie wurde von schwerster Gebunden­heit durch diesen Heiland frei. Es gab für sie gar keine andere Möglichkeit mehr als diesem Herrn zu folgen, aber jetzt brach dieser Weg ab. Das war doch der Schlussstein einer Aufgabe. Mit andern Frauen zusammen sorgte sie für diesen Wanderprediger. Täglich stand sie für seine Handreichungen bereit. “Mein Leben ist, dass ich darf”, das war schon ihr Gelübde, aber jetzt hörte diese Aufgabe auf. Das war doch der Schlussstein einer Hoffnung. Sie hatte alles auf eine Karte gesetzt. Mit diesem Herrn ging es einer großen Zukunft entgegen. Es konnte in solcher Gesell­schaft nur noch herrlicher werden, aber jetzt war alle Hoffnung dahin. Grabsteine als Schlusssteine, wer kennt sie nicht? Ein Weg ist abgebrochen, der damals gemeinsam begann, der über Höhen hinweg und Tiefen hindurch einander näher brachte und von der Freude des Miteinander bestimmt war. Eine Aufgabe hat auf­gehört, die Tage und Jahre ausfüllte, die dem Leben einen Sinn gab und die einem nie überdrüssig wurde. Eine Hoffnung ist dahin, die alles veränderte, die wie ein Motor nach vorne trieb und die dunkle Horizonte aufriss. Unsere Welt ist ein einziger Friedhof, besetzt mit Schlusssteinen enttäuschter Hoffnungen. Maria stand vor dem Grabstein. Weil sie sich selbst nicht fass­en konnte, weil die andern sie nicht trösten konnten, ja weil nicht einmal die Engel in solcher Lage helfen können, deshalb weinte sie. Und wenn Sie auch weinen, und wenn Sie auch untröstlich sind, und wenn Sie auch dort stehen, dann stehen Sie nicht vor dem grausamen Rätsel des Todes, sondern vor dem wunderbaren Geheimnis von Ostern. Der Auferstandene selbst meldet sich zu Wort. Er tut dies nicht auf der römischen Burg oder im hohepriesterlichen Palast. Er hätte dies auch nicht auf dem Bildschirm oder im Rundfunk getan. Sensationsmeldungen sind nicht seine Sache. Jesus Christus redet zu den Trauernden, Einsamen, Weinenden. Alles quälende Warumfragen - “Warum ist mein Weg abgebrochen? Warum ist meine Aufgabe zu Ende? Warum ist meine Hoffnung dahin? Warum Gott, warum?” - all dieses quälende Warumfragen wird in die Gegenfrage verkehrt: “Warum weinst du? Warum klagst du? Warum suchst du? Ich bin auferstanden. Ich bin lebendig. Ich bin bei dir.” Sein Osterwort hat tatsächlich verwandelnde Kraft. Es macht den Grabstein zum Markstein, zum Grenzstein und zum Wegstein. Davon ist in diesen Versen die Rede.

1. Ein Markstein regelte die Besitzverhältnisse. Er machte die Eigentumsrechte für jedermann klar. Die Markung stand damit fest. Wenn zum Beispiel der Abt von Königsbronn anzeigen wollte - ich wähle dieses Beispiel, weil Königsbronn meine erste Pfarr­stelle war - wenn also der Abt vom Kloster Königsbronn anzeigen wollte, dass die großen Wälder rund um den Brenztopf ihm gehören, dann ließ er zwischen Buchen und Birken große Steine setzen, auf denen ein Krummstab eingemeißelt war. Nun wusste jeder Reisende, der mit dem Felleisen auf dem Rücken diese Gegend passierte: “Das gehört nicht den Herren von Helfenstein. Das zählt nicht zu den Rittern von Katzenstein. Das ist Gemarkung Königsbronn.” So regelte Jesus am Ostermorgen die Besitzver­hältnisse. Er machte die Eigentumsrechte für jedermann klar. Die Markung stand damit fest. Wenn er plötzlich aus der unsichtbaren Wirklichkeit heraustrat und den Namen Maria aussprach, dann wollte er anzeigen, wem diese Person gehört. Sein Wort machte den Grabstein zum Markstein. Gegen allen Zweifel, der wie ungebetene Gäste bei ihr anklopfte, konnte sie wissen: “Ich gehöre nicht den Mächten des Todes. Ich zähle nicht zu den Ge­walten der Finsternis. Ich stehe auf der Gemarkung des Himmels. Jesus hat alles getan, um dies zu ermöglichen. Er kämpfte darum bis aufs Blut.” “Es war ein wunderlicher Krieg”, jubelt Martin Luther, “da Tod und Leben rangen. Das Leben behielt den Sieg. Es hat den Tod verschlungen.” Seither ist Gottes Stimme nicht verstummt. Keiner steht allein auf weiter Flur. Niemand muss mit seiner Hoffnungslosigkeit alleine leben. Wieder und immer wieder tritt dieser Herr mit seinem Wort aus der Unsichtbar­keit heraus und sagt: “Fürchte dich nicht. Ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein.” Jeder ist mit seinem Namen angesprochen, weil er ein gutes Namensge­dächtnis hat. Jeder ist bei seinem Namen gerufen, weil bei ihm Name nicht Schall und Rauch ist. Jeder ist sein. Wenn also jetzt Fragen kommen, wie denn das alles weitergehen kann, wenn jetzt Ängste kommen, wie das alles verkraftet werden kann, wenn jetzt Zweifel kommen, wie das alles aufgeschlüsselt werden kann, wenn jetzt Verzweiflungen kommen, können wir um dieses Wortes willen gegen Tod und Teufel wissen: “Ich bin dein, sprich du darauf dein Amen, liebster Jesu, du bist mein. Drücke deinen süßen Jesusnamen, brennend in mein Herz hinein. Mit dir alles tun und alle lassen, in dir leben und in dir verblassen, das sei bis zur letzten Stund, unser Wandel, unser Bund.” Wir leben, auch inmitten der Friedhöfe, auf der Gemarkung des Himmels.

2. Ein Grenzstein bestimmte den Grenzverlauf. Er machte klar, wo das eine Land aufhörte und das andere begann. Die Grenze stand fest damit. Wenn beispielsweise wieder der Abt von Königs­bronn anzeigen wollte, dass an jener Linie sein Gebiet zu Ende war und das Gebiet des Abtes von Kloster Neresheim begann, dann ließ er dort einen großen Stein eingraben und eine Schranke befestigen. Nun wusste selbst der ärmste Pilzsammler, den es immer wieder hinüberzog: “Das ist die Grenze. Zutritt ist nicht gestattet. Bis hierher und nicht weiter!” So bestimmte Jesus am Ostermorgen den Grenzverlauf. Er machte für jedermann klar, wo unser Land aufhört und das andere beginnt. Die Grenze stand damit fest. Als nämlich Maria, nachdem sie ihren Namen gehört hatte, vor lauter Freude auf diesen wiedergekommenen Herrn mit ausgebreiteten Armen zustürzte, um einen handfesten Beweis ihrer Freude zu haben, da wich Jesus zurück und wehrte ab: “Fass mich nicht an! Rühr mich nicht an! Bleib bitte stehen! Ich stehe nicht mehr vor dir wie in meinen Erdentagen. Ich gehöre nicht mehr in eure sichtbare Welt. Ich bin schon im Land des Vaters.” Sein Wort machte den Grabstein zum Grenzstein. Zwischen Maria und dem Auferstandenen lag jene geheimnisvolle Trennungslinie, die Diesseits und Jenseits, Zeit und Ewigkeit, Gott und Mensch voneinander scheidet, und die bis heute noch zwischen uns und ihm liegt. Wie gerne hätten auch wir einen handfesten Beweis dafür, dass dieser Christus wirklich aus dem Grab auferstanden ist und unter uns lebt. Die Argumente eines Leichenraubes sind kaum zu entkräften. Wie gerne würden auch wir die Linie über­blicken, ob es denn dahinter wirklich eine andere Wirklichkeit gibt. Die Behauptung, dass mit dem Tod alles aus ist, hat viel für sich. Wie gerne sähen auch wir wenigstens ein Stückchen hinüber, wohin unsere Lieben vorausgegangen sind und wir ihnen folgen müssen. Die Rede von der billigen Vertröstung ist stark. Wie gerne wüssten wir das alles, wie gerne! Und Jesus sagt: “Noli me tangere! Fasst mich nicht an, auch wem es für euch unfasslich ist. Rührt mich nicht an, auch wenn es euch stark berührt. Bleibt bitte weg!” Es gibt eine Linie, die Welten trennt. Es gibt eine Grenze, die Wirklichkeiten scheidet. Es gibt eine Wand, die für unseren Blick undurchdringlich ist. Sicher, ein­mal wird sie aufgehoben, wenn der Herr in Herrlichkeit wieder­ kommen wird und wir ihn sehen können von Angesicht zu Ange­sicht, aber bis dahin haben wir sie zu respektieren. Bis hierher und nicht weiter. Wir leben diesseits des Grenzsteins.

3. Ein Wegstein zeigte die Straße. Er machte die Richtung klar. Der Weg stand damit fest. Wem noch einmal unser Abt von Königsbronn anzeigen wollte, wohin seine Leute gehen müssen, um nach der Brenzsiedlung am Hellenstein zu kommen, dann ließ er am Klosterweg einen Stein mit einem Pfeil setzen. Nun wusste auch der Laienbruder, der zu Besorgungen weggeschickt wurde: Das ist der Weg. So stimmt die Richtung. Dorthin muss ich gehen. So zeigte Jesus am Ostermorgen die Straße. Er machte die Richtung klar. Der Weg stand damit fest. Maria hörte deutlich den Befehl ihres Herrn: “Geh hin zu meinen Brüdern!” Sein Wort machte den Grabstein zum Wegstein. Vielleicht wäre sie gerne sitzen­ geblieben, um mit ihrer Freude allein zu sein. Vielleicht wäre sie gerne stehengeblieben, um diesen Augenblick auszukosten: “Verweile doch, du bist so schön.” Jesus aber machte ihr Füße. “Da macht Christus aus Maria Magdalena eine Predigerin”, schreibt Martin Luther, “dass sie muss eine Meisterin und Lehrerin der lieben Apostel sein und befiehlt ihr solche Botschaft: Geh hin zu meinen Brüdern.” Maria ging. So wurde sie zur Anführerin eines langen Zuges, der durch die Geschichte geht. So wurde sie zur Spitze einer großen Kolonne, die für Ostern demonstriert. So wurde sie zur ersten Ostermarschiererin überhaupt. Aber sie posaunte nicht: “Ich habe den Krieg gesehen. Ich habe das Morden gesehen. Ich habe den Tod gesehen.” Sie verkündigt: “Ich habe den Herrn gesehen. Ich habe das Leben gesehen. Ich habe die Hoffnung gesehen.” Das ist die Botschaft, nach der die Welt hungert, weil sie unter so viel ehrgeizigen und giftigen Herren zu leiden hat. “Ich habe den Herrn gesehen.” Das ist die Botschaft, nach der die Welt lechzt, weil sie über den grassierenden Tod nicht mehr Herr wird. “Ich habe das Leben gesehen.” Das ist die Botschaft, nach der die Welt verlangt, weil sie eine Hoffnung nach der andern begräbt. “Ich habe die Hoffnung gesehen.” Der auferstandene Jesus Christus ist Herr, Leben und Hoffnung. Wir können nicht an unseren Gräbern sitzenbleiben. Wir dürfen nicht auf unseren Friedhöfen stehenbleiben. Wir müssen uns auf die Füße machen. Gott braucht Ostermarschierer eigener Sorte. Er braucht Protestleute gegen den Tod. Er braucht Demonstrierer für das Leben mit Jesus. Dazu muss man nicht unbedingt auf die Straße gehen. Es geschieht dort, wo man einen Einsamen anruft und ihm sagt: “Du, einer ist immer bei dir.” Es geschieht dort, wo man einem Un­tröstlichen schreibt: “Du, Trost ist kein Fremdwort mehr.” Es geschieht dort, wo man einem Sterbenden die Hand hält: “Du, der Tod ist der Eingang zum Leben.”

Liebe Freunde, wer im Licht dieser Botschaft Grabsteine nicht mehr als Schlusssteine sieht, sondern als Marksteine, Grenzsteine und Wegsteine, der stimmt in den Osterchoral fröhlich ein: “Lebt Christus, was bin ich betrübt? Ich weiß, dass er mich herzlich liebt.”

Amen