Die letzte Posaune

Konrad Eißler

Am Bild der Skulptur des Posaunenengels in der Stuttgarter Stiftskirche zeigt Konrad Eißler in der Predigt zum Ostermontag, was wir am Sieg Jesu haben: Die letzte Posaune wird zum Sieg geblasen, zur Verwandlung, laut und plötzlich. Zur Zeit der letzten Posaune ist Auferstehungstag.


Zur Zeit der ersten Posaune war Bundestag. Am Sinai lagerte sich das Volk Israel. Nicht Rückblick auf die Fleischtöpfe Ägyptens oder Vorblick auf die heiße Wüstenwanderung war angesagt, sondern Aufblick zu dem Gott, der ausgerechnet mit ihnen einen Bund schließen wollte. Am dritten Tag bebte die Erde, rauchte der Berg, brannte der Himmel. Ein immer lauter werdender Posaunenton kündigte den herabfahrenden Bundesgott an. Das war zur Zeit der ersten Posaune. Und zur Zeit der zweiten Posaune war Städtetag. Vor Jericho formierte sich ein Bläserbataillon. Nicht mit Pulver und Blei, sondern mit Ton und Blech gelang der Sturm auf diese Bastille. Nur Schallwellen ließen die Buckelquader übereinanderfallen. Die verdutzten Posaunisten konnten es selbst kaum fassen: “Mit meinem Gott kann ich über die Mauer springen.” Das war zur Zeit der zweiten Posaune. Und zur Zeit der dritten Posaune war Festtag. In Jerusalem schwoll der Jubel orkanartig an. Nicht Kanonendonner, sondern Trompeten­schall kündigte das Großereignis an. 30000 junge Leute brachten die Bundeslade mit den steinernen Gesetzestafeln in die Stadt, allen voran der singende und tanzende König David. Das war zur Zeit der dritten Posaune. Und zur Zeit der vierten Posaune war Neumonds­tag, und zur Zeit der fünften Posaune war Versöhnungstag und zur Zeit der sechsten Posaune war Thronbesteigungstag. An vielen Tagen wurde die Posaune geblasen. Aber was ist das für ein Tag, wenn die letzte Posaune geholt wird? Was ist das für ein Tag, wenn die letzte Posaune emporgehoben wird? Was ist das für ein Tag, wenn die letzte Posaune erklingt?

Paulus sagt: Zur Zeit der letzten Posaune ist Auferstehungstag. Dann werden Sterbeurkunden und Sterberegister abgeschlossen sein, zur Zeit der letzten Posaune. Dann werden Friedhofskapellen und Krematorien unbenützt bleiben, zur Zeit der letzten Posaune. Dann werden Gräber und Kirchhöfe aufgelassen werden, zur Zeit der letzten Posaune. Dann wird Gott abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein, denn das Erste ist vergangen, zur Zeit der letzten Posaune. Und weil jeder Sonn- und Feiertag daran erinnern soll, deshalb ist der Bildhauer Fritz von Grävenitz im Jahre 1957 auf ein Gerüst über dieser Kanzel gestiegen. Mit letzter Kraft, die ihm verblieben ist, in zunehmender Schwäche und Gebrechlichkeit, hat er den Posaunenengel aus dieser kraftvollen Kanzelsäule herausgeschlagen. Jetzt hat es jeder Kirchenbesucher vor sich und jeder Prediger über sich: Es wird nicht immer Sterbetage geben. Es wird nicht immer Todes- und Gedenktage geben. Zur Zeit der letzten Posaune ist Auferstehungstag. Deshalb lassen sie uns heute diese Posaune anschauen und vier Fragen stellen: Wie, warum und wozu wird sie geblasen? Paulus gibt mit diesem Textabschnitt Antwort.

1. Wann wird die letzte Posaune geblasen?

Der Engel über mir schaut nicht geradeaus. Er hat seinen Kopf zur Seite geneigt, Richtung Kreuz. Erst wenn dieser Herr wiederkommt, wird er ins Horn stoßen. Und von diesem Herrn heißt es, dass er wie ein Dieb in der Nacht zurückkomme. Der Langfinger klebt keinen Zettel ans Gartentor: Komme morgen. Der Einbrecher kündigt seinen Hausbesuch nicht telefonisch an: Bin am Wochenende in ihrer Gegend. Der Räuber schreibt erst recht keinen Anmeldebrief: In 14 Tagen ist ihr Haus an der Reihe. Jesus kommt unerwartet. Alle Spekulationen sind falsch. Jesus kommt unberechenbar. Alle Prognosen sind aus den Fingern gesogen. Jesus kommt unvorhersehbar. Alle apokalyptischen Terminkalender sind Makulatur. Jesus kommt nicht als ein Dieb, der es auf meinen Krimskrams abgesehen hätte, aber wie ein Dieb, der plötzlich vor uns steht. Deshalb gehört zu diesem Alarmsignal der letzten Posaune das Moment der Überraschung wesensmäßig dazu. Plötzlich wird es geschehen, in einem Augenblick wird es hereinbrechen, in einem Nu. So ähnlich wie drüben in der Geißstraße. Plötzlich tönte das Martinshorn mitten in der Nacht. In einem Augenblick schlugen die Flammen aus den Fenstern und dem Dach. In einem Nu waren die Leute auf den Beinen, um noch zu retten, was zu retten war. Wer rechnete schon mit solchem Signal, als sie sich schlafen legten? Wer rechnete schon mit solchem Ton, als sie in den Betten lagen? Wer rechnete schon mit solcher Tagwacht mitten in der Nacht? Und wer rechnet denn schon bei uns mit der letzten Posaune? Sagen Sie bitte nicht, sie sei bisher nicht zu hören gewesen, deshalb werde sie auch nie zu hören sein. Das ist schlimmer Irrtum, denn die Länge der Zeit ist keine Widerlegung der Wahrheit. Wie, wenn es in dieser Nacht geschähe? Wie, wenn es in diesem Jahr einträte? Wie, wenn der Engel sein Instrument an den Mund nähme? Lieber will ich mich zu Tode hoffen, als die schreckliche Bestürzung derer teilen, die den Auferstehungstag in weiter Ferne sehen und dann plötzlich erfahren, wie die letzte Posaune vom Himmel erklingt. Sie wird plötzlich geblasen.

2. Wie wird die letzte Posaune geblasen?

Der Engel über mir hat keine Piccolo-Flöte in der Hand, mit der er wohl helle, aber keine besonders lauten Töne blasen kann. Er hält auch keine Block­flöte, die für ein Alarmsignal völlig ungeeignet wäre. Der Engel wird in ein großes Instrument stoßen, in eine lange Posaune, die einen tiefen und durchdringenden Ton erzeugt. Keiner wird diesen Ton überhören. Niemand wird dieses Signal verpassen. Die letzte Posaune wird so laut durch die Lüfte gellen, so laut über die Erde schallen, so laut in die Tiefen des Meeres dringen, dass es allen zu Ohren kommt. Ich erinnere mich an den Abschied von einem lieben Menschen. Seine Krankheitszeit war lang und hart. Jetzt ging es mit ihm zu Ende. Deshalb fuhr ich noch einmal hin und betrat das Sterbezimmer, in dem die verhängten Fenster nur mattes Licht verbreitete. Schmerzlich war es, wie schwer sein Atem unter der Sauerstoffmaske ging. Noch schmerzlicher war es, wie kalt seine Hände auf der Decke wurden. Aber am schmerzlichsten war es zu merken, wie kein Sterbenswörtlein mehr in sein Ohr drang. Kein Dankeschön für viel Liebe, kein Lebewohl nach dem schönen Mitein­ander, kein allerletztes Bibelwort. Er hörte nichts mehr. Die letzte Verbindung war abgerissen. Grässliche Stille über den Toten, aber nur solange, bis der Auferstandene sich meldet. Der, der das Ohr gepflanzt hat, der wird sich auch den Toten vernehmbar machen. Ähnlich wie damals, als am wolkenumhüllten Sinai der Posaunenton durch Mark und Bein ging, nur noch tausendmal gewaltiger und durchdringender, wird dieses Wecksignal das letzte Kapitel der Geschichte Gottes mit seinem Volk ankündigen. Denn, und so schreibt es Paulus, “wird die Posaune erschallen und die Toten werden auferstehen”. Und Philipp Nicolai singt: “Kein Aug hat je gespürt, kein Ohr hat je gehört, solche Freude. Des singen wir und jauchzen dir das Halleluja für und für.” Das ist der Aufersteh­ungstag. Die letzte Posaune wird laut geblasen.

3. Warum wird die letzte Posaune geblasen?

Der Engel über mir ist kein Instrumentalist neben vielen andern, die eine Abschiedssymphonie spielen, wenn Charon, der Fährmann der Unterwelt, die Abgeschiedenen auf sein Boot lädt und in den Hades steuert. So dachten die Griechen. Paulus weiß: Dieser Gottesbote bläst eine obligate Posaune, die gleichsam das Startsignal zu einem großen Geheimnis gibt. Wir werden alle verwandelt werden. Bei der Verwand­lung von Wasserkraft in Elektroenergie wird Strom nicht aus dem Nichts erzeugt, sondern eben aus der Wasserkraft. Und bei der Verwandlung der Raupe in einen Schmetterling wird neues Leben nicht aus dem Nichts hervorgerufen, sondern eben aus dem Raupentier. Verwandlung ist Veränderung am gleichbleibenden Subjekt. So wird bei der Verwandlung des alten in einen neuen Menschen nicht wieder eine creatio ex nihilo, eine Schöpfung aus dem Nichts wie bei der Weltentstehung stattfinden, sondern eine gründliche Veränderung des sterblichen Leibes. Augen, die sich mit Tränen füllen, wird es nicht mehr geben. Ohren, die das Leid und Geschrei hören müssen, wird es nicht mehr geben. Einen Mund, der voll ist von Jammer, wird es nicht mehr geben. Ein Herz, das vor Herzeleid zerbrochen ist, wird es nicht mehr geben. Eine Seele, die andere mit ihrer Lieblosigkeit zertrampelt haben, wird es nicht mehr geben. Paulus sagt an anderer Stelle, dass Christus den Niedrigkeitsleib in einen Herrlichkeitsleib verwandeln wird. Er kann das. Jesus ist der Meister der Verwandlung. So wie er aus einem Glücksjäger einen Gottesstreiter, aus einem Neidhammel einen Friedensstifter, aus einem Egoisten einen Sendboten, aus einem grimmigsten Verächt­er, nämlich Paulus, einen demütigsten Zeugen gemacht hat, so vermag er auch uns in einen Ostermenschen verwandeln, der heute schon weiß: Dann wird unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens sein. Dann wird man sagen: Der Herr hat Großes an ihnen getan. Der Herr hat Großes an uns getan. Des sind wir fröhlich. Die letzte Posaune wird zur Verwandlung geblasen.

4. Wozu wird die letzte Posaune geblasen?

Der Engel über mir drückt in seiner ganzen Erscheinung Überlegenheit und Gewissheit aus. Er ist sich seiner Sache sicher. Nie und nimmer wird er zum Rückzug blasen, sondern zum Sieg: “Gott sei Dank, der uns den Sieg geben wird durch unseren Herrn Jesus Christus.” Noch darf der Tod seinen Treiberstab schwingen. Noch darf der Tod seinen Treiberstecken mit der metallenen Spitze, dem Stachel, den wehr­losen Kreaturen in die Flanken stoßen. Noch darf der Tod seine Treibjagd fortsetzen, doch Jesus hat ihm das Genick gebrochen. Der Tod ist tödlich verwundet. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis dieser “König der Schrecken” endgültig ausgespielt hat.

In den Geschichten des Tacitus wird eine packende Szene geschildert. Da taumeln ein paar schwerverwundete römische Legionäre Richtung Etappe. In ihren Gesichtern ist alles eingegraben. Von Hunger und Durst und Schrecken sind sie gezeichnet. Und auf einmal hören sie vom Schlachtfeld her den Ruf ihrer Kameraden: Viktoria, Viktoria! Sieg, Sieg! Da reißen sie die Arme hoch und stimmen in diesen Siegesruf mit ein: Viktoria, Viktoria! Dann schließt der Geschichtsschreiber mit dem Satz: “Obwohl sie Hunger hatten, obwohl sie Durst litten, obwohl sie von Schrecken gezeichnet waren, hatten sie doch Stärke und Zuversicht und Hoffnung - alles hatten sie im Sieg.”

Liebe Freunde, heute hören wir von einem ganz anderen Schlachtfeld, wo der Tod in die Knie gezwungen wurde, den Ruf: Viktoria, Viktoria! Deshalb gilt dies auch für uns: Obwohl wir von vielem gezeichnet sind, an vielem leiden, haben wir doch Stärke und Zuversicht und Hoffnung, alles haben wir im Sieg Jesu. Die letzte Posaune wird zum Sieg geblasen, zur Verwandlung, laut und plötzlich. Zur Zeit der letzten Posaune ist Auferstehungstag.

Amen

[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]