Vom aktiven Dienst zum Ruhestand: Neue Freiräume und Herausforderungen
Was beflügelt Sie bei IR? Das würde mich interessieren. Man hat viel von Ihnen gehört, als Sie Prälat waren, als Sie Dekan waren, als Sie in der Synode waren und so weiter. Aber was beflügelt Sie jetzt als IR im Ruhestand? Ich denke, da geht es doch noch einmal richtig los, oder?
Ich habe keinen Ruheständler, ich muss mich mitleiten, besonders als Schwabe – wir schaffen gerne. Aber ich genieße es, dass ich mehr Zeit habe, in der Bibel zu forschen. Früher war ich dauernd gehetzt, doch jetzt kann ich mich etwa bei der Vorbereitung dieser Bibeltage intensiv darauf konzentrieren, was Jesus mir durch sein Wort zu sagen hat. Sonst lasse ich es ein bisschen langsamer angehen. Ich habe mir geschworen, dass ich nie mit dem Täschle morgens zum Lidl oder Aldi gehe. Jetzt bin ich jeden Morgen um 8:30 Uhr unterwegs, kaufe für meine Frau ein und genieße es, dass ich so die Volkswirtschaft beleben kann.
Wenn man so einen bekannten Mann für eine Bibelwoche einlädt, dann lässt man sich eine Themenliste schicken. Das war nicht ganz so einfach. Aber ich habe das großartig empfunden. Der Bruder Schäffbuch hat gesagt: „Lassen Sie mich überlegen, ich bin da an ein paar Themen, ich will etwas Neues erarbeiten.“ Und jetzt habe ich einfach die Frage: Wie ist es zu diesem gefährlichen Thema gekommen, das ja eigentlich zunächst gar nicht auf Ihrem Themenkatalog stand?
Einfach beim Bibellesen bin ich darauf gestoßen, dass am Schluss vom zweiten Korintherbrief – und am Schluss eines Briefes schreibt man immer das Wichtigste – vorne schreibt man hoffentlich, dass es gut geht, „mir geht es auch gut“ und so. Das Wesentliche kommt hinterher. Zum Beispiel: Wie ist das eigentlich mit dem Erbe von der Oma und so? Und da schreibt Paulus am Ende des zweiten Korintherbriefs: „Erforscht euch selbst, prüft euch, ob ihr im Glauben steht, ist denn wirklich Jesus Christus in euch?“
Es hat mich angesprungen. Was soll ich denn da prüfen? Wenn die Malmsheimer auf das Thema anspringen, dann will ich mal aus der Checkliste der Bibel mich diesem TÜV stellen, dieser Überprüfung: Lebt denn Jesus wirklich in mir? So kam es dazu.
Ich danke euch, dass ihr dieses Thema gewählt habt, wahrscheinlich der Kirchengemeinderat, und ihr habt euch überlegt, welches Thema es sein soll. In der Zwischenzeit sind noch viele neue Themen dazugekommen. Ich habe den Eindruck, wenn ich es schön sagen darf: Es gibt ja so eine komische Diskussion, ob Judenmission sein darf. Das sind alles vordergründige Themen. Wir müssten erschrecken darüber, dass man Jude ist, wenn man eine jüdische Mutter hat, egal ob man atheistisch ist oder nicht. Rein rassisch betrachtet, fragen Sie bei Herrn Landesrabbiner nach.
Paulus hat uns im Neuen Testament wichtig gemacht, was von Abraham an dem Glauben ist – diese innige Verbundenheit mit Gott. Wir müssen eine ganze Serie machen, was ich eigentlich glaube, damit wir es neu begreifen. Aber wir kommen auch in diesen fünf Abenden ein wenig hinein.
Ja, ich kann auch noch aufdrehen, wenn es sein muss. Ich wollte ja eigentlich nichts mehr sagen, aber er hat sich bedankt, dass wir gleich auf dieses Thema angesprungen sind. Viele von Ihnen wissen: Das ist unser Jahresthema „Seelsorge in der Bibel“. Wir hatten ein Mitarbeiterwochenende mit Rudi Böhm von der OJC „Seelsorge in der Gemeinschaft“, und es hat so wunderbar reingepasst. Wir sind jetzt gespannt, was der biblische Befund für Seelsorge untereinander oder Seelsorge an uns selbst ist und wie Jesus selbst Seelsorge an uns übt. Was da der biblische Befund ist.
Hoffentlich haben Sie Bibeln dabei, denn bei Bibelabenden wollen wir die Bibel schaffen. Zwar hat mal ein Bundesinnenminister gesagt, man könne schließlich nicht mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen. Aber wir als Leute der Reformation, denen Martin Luther die Bibel wichtig gemacht hat, sollten mindestens bei Bibelabenden die Bibel dabei haben – außer wir können, wie rechte Juden, die Bibel auswendig. Die allein sind befreit, aber die anderen bringen morgen mindestens das Testament mit, damit wir arbeiten können.
Sie müssen auch nachprüfen, ob das, was ich sage, stimmt. Die Leute in Berea forschten eifrig, ob das, was Paulus gesagt hat, auch stimmt. Sie dürfen nicht bloß dem Pfarrer glauben, Sie müssen es in der Schrift nachprüfen.
Die Aufforderung zur Selbstprüfung im Glauben
Also, ich habe gesagt, wie es zu dem Thema gekommen ist. Und da wollen wir gleich 2. Korinther 13 im Neuen Testament aufschlagen. Zwei Drittel der Bibel sind Altes Testament, ein Drittel Bibel, Neues Testament. Da drin ist also nicht arg viel Bibel dabei: Matthäus, Markus, Lukas, Johannes, Apostelgeschichte, Römer, Korinther.
Im Zweiten Korintherbrief, Kapitel 13, am Schluss, sagt Paulus zu seiner Gemeinde in Korinth in 2. Korinther 13, Vers 5: „Erforscht euch selbst, ob ihr im Glauben steht.“ Also nicht, ob ihr brav seid, nächstenliebend, geduldig oder fröhlich, sondern prüft euch, ob ihr im Glauben steht. Prüft euch selbst! Oder erkennt ihr euch selbst nicht, dass Jesus Christus in euch ist? Man könnte auch weniger umständlich sagen: Erkennt ihr, dass Jesus Christus in euch am Schaffen ist?
Liebe Freunde, was für eine Atmosphäre der Freundlichkeit! Im Jugendwerk, in dem ich lange wirken durfte, war einer meiner Mitwanderer, ein Freund und leitender Referent, Herr Doktor Walcker. Es war die Zeit der Fusion von Mädchenwerk und Jungmännerwerk, und die Landesmitarbeiterinnen des Mädchenwerks sagten zu Rolf Walcker, er sollte endlich einmal wissen, wie er auf andere Menschen wirkt, besonders auf Frauen. Sie meinten, er müsste mal eine Grunddynamik machen, damit er begreift, wie er ist.
Darauf antwortete Rolf Walcker: „Wie ich bin, das weiß ich schon lange. Das sagt mir meine Frau.“
Es soll ja auch sein können, dass der Apostel Paulus vorwurfsvoll sagt: „Jetzt prüft euch doch mal selber! Guckt mal in den Spiegel, was ihr für Kerle seid!“ Es gibt Streitereien in der Gemeinde, Unwahrhaftigkeit, Überheblichkeit. Nein, prüft euch selbst! Tonvoll lieb, ihr dürft selber nachschauen. Ihr müsst euch nicht einem schwierigen Checkpunkt stellen, vor dem ihr Angst habt. Prüft euch selbst.
Nun ist das ja ein Wort, das im Altertum eine große Rolle gespielt hat: „Gnothi seauton“ – „Prüfe dich selbst“, „Erkenne dich selbst“. Die alten Griechen haben gesagt, wir müssen Selbsterkenntnis treiben. Es war weise, man sollte sich selbst erkennen.
Es geht dabei nicht um mein Selbst, was ich für Ecken und Macken habe und was ich an Genen und Eigentümlichkeiten von Vorfahren mitbekommen habe. Es geht nicht um ein psychologisches Dauern, sich selber zu prüfen. Zu eurem Selbst gehört auch Jesus.
In Matthäus 28 sagt Jesus: „Ich bin bei euch alle Tage.“ Wie oft zitieren wir das? Will man das ernst nehmen? Jesus will zu uns gehören. Wir schlagen die Bibel auf, und finden es zwischen den Zeilen.
In Johannes 17, im großen Gebet, sagt Jesus: „Vater, lass doch meine Leute die Herrlichkeit sehen am Schluss.“ Johannes 17, Vers 22: „Ich will, dass sie die Herrlichkeit erkennen, ich in ihnen und du in mir.“
Gibt es noch eine andere Stelle, wo der Herr Jesus das gesagt hat? Wer in mir bleibt – wo steht das? Ja, das ist Johannes 15: „Ich bin der Weinstock“, da reden sie davon: „Wer in mir bleibt und ich in ihm.“ Der Herr Jesus legt sich gar nicht fest, ob wir in ihm sind oder er in uns. Es ist eine Wirklichkeit, dass wir ganz eng mit Jesus verbunden sind.
Das will ich. Ich bin der Weinstock, ich will, dass ihr so mit mir verbunden seid.
Jesus in uns: Eine lebendige Kraftquelle
Jetzt gibt es manche Leute, die sagen: Was soll denn das, Jesus in mir? Man kann daraus ein Problem machen, aber ich kann sagen: Wenn der Teufel in mir ist, dann weiß ich das. Voll Ungeduld, Zorn, Überheblichkeit kenne ich. Wenn ich denke, das bin doch gar nicht mehr ich selbst, was ist da mit mir los? Das sind ganz fremde Mächte in mir. Kennen Sie das auch?
Und jetzt sagt Jesus: Ich will auch in euch hinein. Der ganze Bericht über Jesus in Matthäus, Markus, Lukas und Johannes war ein Kampf Jesu mit dem starken Feind, dem Teufel. Er sagt: Ich möchte in euch wirken, ich in euch.
Der große indische Evangelist Sadhusundar Singh hat wunderbare Bilder gebraucht, um zu erklären, wie das ist, wenn jemand sagt: Wie soll man sich das vorstellen? Er hat ein schönes Bild geprägt, das ist so ähnlich wie mit der Holzkohle. Wir kennen das vom Würstchenbraten: Wenn meine Söhne wieder so einen Würstchenbraten vorhaben, bitte den Sack mit der Holzkohle, aber nicht meinen Kofferraum, sonst ist alles verstaubt mit dem Dreck. Die Holzkohle geht durch alle Poren durch. Und wenn jemand keine Holzkohle kennt, denkt er vielleicht, verrottetes Holz kann doch keine Kohle sein. Sie ist schwarz, leicht, nicht wie Steinkohle.
Aber dann hat Sadhusundar Singh gesagt: Diese leichte, verrottete Holzkohle, wenn sie mit Feuer in Verbindung gebracht wird, verändert sie die Farbe. Sie wird plötzlich rot glühen, nicht mehr schwarz, sondern rot glühen und Energie ausstrahlen. Das, was tot schien – so ist es, wenn Jesus in uns ist. Da ist plötzlich eine ganz neue Energie da, da wird im Leben etwas anders.
Und, liebe Schwestern und Brüder, wahrscheinlich wären die meisten von uns gar nicht hier, wenn wir nicht Menschen begegnet wären, bei denen wir gemerkt haben, dass da irgendwo Jesus am Wirken ist. Meist waren es Frauen: Patentanten, Großmütter, Erzieherinnen, in denen Jesus gewirkt hat. Das heißt nicht, dass man sofort einen Heiligenschein hat.
Denken Sie daran: Die Bibel erzählt, dass Jesus in Galiläa war. Dort hat er geheilt, gewirkt, gepredigt und eine Spur des Lebens hinterlassen. Der größte Teil von Galiläa war noch gottlos und hat gesagt: Was will dieser Jesus? Was ist das für ein Zimmermannssohn? Aber Jesus war in Galiläa und hat gewirkt.
Er war auch in Jerusalem, wo die Hohenpriester gesagt haben: Ob das der Sohn Gottes ist? Eine Unverschämtheit! Den muss man ans Kreuz bringen. Aber Jesus war in Jerusalem und hat gewirkt.
Und so kann bei Ihnen noch viel vom Teufel sein: Viel Zweifel, viel Kleinglaube, viel, was störend ist für andere Menschen und für Gott. Und Jesus sagt: Das möchte ich auch dabei sagen – ich möchte in euch wirken.
Nochmal zurück zum Zweiten Korintherbrief 13: Prüft euch, erforscht euch selbst, ob ihr im Glauben steht. Prüft euch, ob Jesus Christus in euch wirkt. Das ist der Glaube.
Glaube ist nicht das, was im Büchlein steht oder was wir in unserem 1200 Gramm schweren Gehirn haben – Frauen haben 1300 Gramm, aber das ist nicht wichtig. Es geht nicht darum, ein bisschen was zu wissen.
Glaube ist, dass Jesus menschenbegreifend sagt: Ich stehe vor der Tür und klopfe an. Du, ich möchte in dein Leben hinein. Und ich sage: Ja, ich brauche dich. Komm, Herr Jesus! Und nicht nur beim Essen sei unser Gast, komm! Mach mich doch empfindsam dafür, was dich stört. Gib mir eine Freude an dem, was dir wohlgefällt. Herr Jesus, komm in mich! Das ist der Glaube!
Liebe Freunde, ich habe den Eindruck, wir stehen in unserer gottlosen Zeit, wenn es uns Jesus noch einmal schenkt, vor einer ganz neuen Entdeckung, was Glaube ist. Ich habe es vorher angedeutet: Glaube hat es entscheidend mit Jesus zu tun.
Wir leben in einer Zeit, in der die Leute sagen: Gott – ach! Ich habe als Prälat Predigten erlebt, in denen es im Gottesdienst hieß: Gott? Nein, das ist nicht der. Alles wurde relativiert, als ob es egal ist, ob Frau oder Mann, als ob Gott zugleich auch eine Göttin sein kann.
Nein, Gott will in Jesus erkannt werden. Deshalb hat er Jesus in unsere Welt geschickt. Da haben wir es verständlich, wer Gott ist, was er von uns will und wie er zu uns steht.
Wir sagen heute viel zu schnell Kirche, wo wir Jesus sagen müssten. Wir sagen viel zu schnell Religion, wo wir Jesus sagen müssten.
Prüft euch, ob ihr im Glauben steht. Der wahre Glaube hat es mit Jesus Christus zu tun und besteht darin, dass Jesus, der lebendige Jesus, den Gott auferweckt hat, in uns wirkt.
Stellen Sie sich vor, bei uns allen – was könnte da passieren, wenn er in uns wirken würde? Prüft euch doch. Besteht ihr wirklich im Glauben? Oder habt ihr nur Sympathie für Jesus? Ist er euch ein Vorbild? Prüft euch, checkt euch mal durch.
Und die nächsten vier Abende wollen wir so an einigen Checklisten der Bibel entlanggehen, wo wir uns prüfen können: Ist denn da Jesus wirklich? Reagiere ich rebellisch, wenn mir Böses getan wird, oder kann ich es auch erdulden, so wie Jesus es erduldet hat? Segne ich oder fluche ich? Ist Jesus bei mir?
So sind Sie das aber vor. Deshalb ist es ein heikles Thema. Aber heute ist es wichtig: Prüft euch, erforscht euch, macht es mal genau!
Die Herausforderung der Selbstprüfung und die gütigen Augen Jesu
Ich bin in einem Alter, in dem man öfter mal den Schlüssel verlegt – den Autoschlüssel und so weiter. Wenn man morgens seine Uhr sucht, besonders wenn man die Brille noch nicht aufhat, findet man sie oft schlecht. Ich sage immer zu meiner Frau, wenn sie das gleiche Problem hat: „Such mit Verstand! Wo hattest du deine Brille zuletzt?“ Aha, jetzt weiß sie es. So prüft man mit Verstand.
Wir denken oft schnell, doch wenn ich mich mit dem Thema beschäftige, das Sie gewählt haben, denke ich: Prüft euch, ob ihr im Glauben steht. Was hat mir Jesus schon für Einsichten gegeben? Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, Bruder Seyer, aber bei jeder Predigtvorbereitung denke ich beim dritten Entwurf oft: „Das ist nur ein Aufsatz, aber nicht das, was der Herr Jesus möchte.“ Dann bete ich: „Herr, gib mir Dein Wort, ein Wunder, das jetzt Teil von mir wird und das ich für die Gemeinde brauche.“
Schon so oft hat Jesus an mir gewirkt. Wie oft hat er mich vor meinen eigenen Dummheiten bewahrt, wenn ich nicht stark genug war gegen die Versuchung. Wie viel Freude hat er mir im Leben geschenkt, wie viele gute Erfahrungen. Er prüft euch: Steht ihr im Glauben?
Paulus sagt dazu: Erkennt ihr wirklich, dass Jesus Christus in euch ist? Das ist für mich schwierig geworden. Und deshalb ist das nicht nur für Sie ein gefährliches Thema. Das ist überhaupt nicht gefährlich, wenn der Herr Jesus uns mit seinen gütigen Augen prüft.
Habt ihr schon einmal gesehen, wie sich große Künstler zu allen Zeiten besondere Mühe gegeben haben, die Augen Jesu auf Bildern darzustellen? Meistens malen sie gütige Augen. Prüft euch selbst, ob ihr im Glauben steht – unter den gütigen Augen Jesu.
Es passierte in der Prälatur Ulm: Ein Pfarrer wurde Dekan, und wie es so oft ist, wurde der Pfarrer versetzt. Das Kind blieb in der Schule sitzen, in einer fremden Schulwelt, und bekam plötzlich drei Fünfer. Dabei hatte es vorher fünf Fünfer und sonst hauptsächlich Vierer und wurde nicht versetzt.
Der Oberstudiendirektor sagte zum Dekan: „Ich rate Ihnen, Ihren Sohn von unserer Anstalt zu nehmen. Er schafft es nicht. Lassen Sie ihn etwas anderes lernen.“ Man könne es höchstens im Knabeninstitut in Wilhelmsdorf versuchen. Dort sei ein guter Pädagoge, Heinrich Gutbrot, der vielleicht helfen könne.
Der Vater fuhr mit seinem Sohn nach Wilhelmsdorf, meldete ihn an, und Heinrich Gutbrot fragte: „Hast du ein Zeugnisheft dabei? Schlag das letzte Zeugnis auf und lies mal vor.“ Latein mangelhaft, Englisch mangelhaft, Deutsch ausreichend.
Dem Vater zerschnitt das fast das Herz. Er dachte, er sei Pädagoge, doch im ersten Augenblick machte Gutbrot den Sohn fertig und erniedrigte ihn. Als er fertig war, sagte er: „Kein Sechser und nur Fünfer? Den habe ich schon ganz andere durchgebracht.“
Wenn schon ein Oberstudiendirektor einem Jungen, der den Boden unter den Füßen verloren hat, wieder Mut geben kann, dann ist das ein gutes Zeichen. Heinrich Gutbrot sagte: „Komm morgens um sechs zu mir, Hermann.“ Und gab unentgeltlich jeden Morgen von Montag bis Donnerstag Privatstunden, bis der Junge Anschluss gefunden hatte.
Versteht ihr das? Bei den gütigen Augen Jesu, wenn er uns prüft und uns zeigt, wo noch Fehler sind, möchte er doch etwas bei uns bewirken. Lasst uns wachsen zu ihm hin, wie es in Epheser 4 heißt.
Wenn ein Kind nicht mehr wächst, ist das schlimm. Dann sagt die Oma: „Das Kind wächst nicht.“ Wer kümmert sich darum? Dass das Kind klein ist, ist nicht schlimm. Dass es noch unmündig ist, ist nicht schlimm. Dass es noch nicht viel kann, ist nicht schlimm. Aber wenn es nicht wächst, ist das schlimm.
Und wenn wir Christen denken: „Es ist ja genug, wenn die anderen so wären wie wir, dann wäre es schon gut“, dann lasst uns doch wachsen. Jesus möchte, dass wir entdecken, wo wir etwas zulegen können.
Prüft euch! Erforscht euch selbst, ob ihr im Glauben steht.
Die biblische Grundlage für Wachstum und Reifung im Glauben
Eigentlich hat ja jedes Wort eine Bedeutung, die der große Seelsorger Paulus von Jesus gelernt hat. In der Seelsorge Jesu, so erzählt uns die Unterüberschrift, war der Herr Jesus einmal eingeladen im Haus eines Zöllners. Dort waren auch andere Zöllner, die damals, würden wir heute sagen, wie Drogendealer waren, die mit dem Unglück anderer Menschen ihr Geschäft machten. Nicht so wie ein Obersekretär heute, das sind ehrenwerte Leute.
Jesus war eingeladen, und die anderen sagten, das wäre auch nicht gerade nötig gewesen. Wahrscheinlich dachten sie hier nur an anständige Restaurants und Gaststätten. In Schorndorf gibt es die Klamotte, da werden Drogen gedealt, und sie hat einen ganz schlechten Ruf. Wenn der Herr Jesus plötzlich in der Klamotte gewesen wäre, hätte man auch gesagt, das wäre nicht nötig gewesen.
So war es damals: Die frommen Leute sagten, das wäre auch nicht nötig gewesen. Da antwortete Jesus: Kranke brauchen einen Arzt, nicht Gesunde. Ich bin für Kranke gekommen als Arzt. Aber geht doch einmal hin und lernt, was es bedeutet, dass Gott gesagt hat – so steht es in Matthäus 9: Ich habe Freude an der Barmherzigkeit.
Das war doch, als ob ein Arzt sagt: Ich kann im Augenblick nicht feststellen, was bei Ihnen ist. Aber prüfen Sie doch mal Ihren Kreislauf und Ihr Herz, wenn Sie Treppen steigen oder lange Wanderungen machen. Und wenn Sie Mittagsschläge machen, ob da nicht plötzlich ein Aussetzer kommt. Prüfen Sie das selbst, und dann kommen Sie wieder, dann schauen wir danach.
So sagt Jesus: Prüft euch mal selbst, wie es mit eurer Barmherzigkeit steht. Seid ihr da gesund, gottwohlgefällig, oder seid ihr starre Rechthaber? In unseren Gemeinden gibt es so furchtbar viel Rechthaberei und Überheblichkeit. Die einen singen nur alte Choräle, die anderen nur neue. Die einen wählen diese Partei, die anderen jene Partei. Ein Streit hinten und vorne.
Guckt mal, wie es mit eurer Barmherzigkeit aussieht. Könnt ihr auch fragen, ob Gott segensreich wirken kann durch einen alten Choral oder durch ein neues Lied? Habt ihr die richtige Frage, oder geht es bei euch nur danach, was euch gerade in den Kram passt? Probiert es mal – die Seelsorge Jesu fordert euch auf, euch selbst zu prüfen.
So nimmt es Paulus auch auf: Prüft euch doch selbst. Und zwar vor Gott, so wie Jesus gesagt hat: Prüft euch, was Gott gesagt hat, ich habe Wohlgefallen. Es geht um die Gegenwart Gottes, vor Gott.
In unserem Augsburger Bekenntnis, dem Grundbekenntnis unserer Kirche, ist das aufgenommen, was Paulus im Römerbrief immer wieder schreibt: Es gibt kein Ansehen der Person vor Gott. Die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, ist nicht das, was ich mir einbilde, sondern wie wenn ich jetzt schon vor den klaren Augen Gottes stehe. Was da bestehen kann vor Gott? Prüft euch doch mal.
Denn unser Problem ist doch, dass wir uns selbst anders sehen, als wir sind. Das garantiere ich bei den meisten von Ihnen, wenn Sie Gruppenfotos sehen von der Vierziger- oder Sechzigerfeier. Das Erste, was Sie suchen, ist: Wo bin denn ich? Ah ja, oh, das ist aber gemein, da hat er einen Quark drauf oder einen schlechten Film. So sehe ich doch nicht aus!
Geht es Ihnen nicht auch so bei Fotos? Bei Gruppenfotos ist immer der Fotograf schuld oder die Kamera. So sehe ich doch nicht aus. Doch, das ist das unbestechliche Auge der Kamera. Aber wenn ich mich vor dem Spiegel drehe, kann ich mich immer so sehen, dass noch ein paar Haare da sind, und meine sind überall so. Der Fotograf guckt von oben, ob er nichts mehr sieht.
Wir haben auch die Fähigkeit, gewisse Unarten, die anderen Leuten auf die Nerven gehen, schönzureden. Wenn jemand geizig ist bis zum Anschlag und sich selbst und seiner Familie nichts gönnt, sagt er: Ich kann eben mein Sache gut halten. Wenn jemand ein Haustyrann ist, bei dem sich die Kinder fürchten und die Nachbarn auch, sagt er: Ich halte Ordnung daheim. Wenn jemand auswärts ist und nie mehr zu Hause bei der Familie, sondern jeden Abend bei einem anderen Stammtisch oder Verein, sagt er: Ich bin ein geselliger Mensch.
Verstehen Sie, wir können alles. Das können wir endlos weiterführen. Wir können alle unartig unsere Fähigkeit schönreden zu ganz großartigen Dingen.
Und jetzt sehen Sie in die Bibel hinein: Wie Jesus das letzte Mal mit seinen Jüngern feiert und so über den Tisch sagt: Einer von euch wird mich mit einem Messer verraten. Wäre es normal gewesen, wenn Petrus gesagt hätte: Sicher der Thomas, auf den ist kein Verlass? Und wenn Thomas gedacht hätte: Sicher der Petrus, der hält immer den Mund offen, mal sehen, ob er hinter mir steht?
Nein, sie fingen alle an zu fragen: Herr, bin ich’s? Alle nacheinander, weil jeder plötzlich für möglich hielt: Ich liebe jetzt Jesus, aber ob es in einer halben Stunde noch so ist oder ob das nicht umschlägt, weiß ich nicht.
In der Nähe Jesu gibt es eine Ehrlichkeit, wie es sie sonst in unserer Welt nicht gibt. Ich wünschte mir das schon, dass wir uns zur Gemeinde Jesu halten, zu Kreisen, und dass das heilsam wirkt in einer Ehrlichkeit uns selbst gegenüber.
Prüft euch selbst, ob ihr im Glauben steht. Erforscht euch, ob Jesus Christus wirklich in euch ist. Wie gesagt, Jesus will in uns wirken, ich in euch. So wie er mit dem Vater verbunden ist, will er in uns wirken und uns in vielen Bereichen noch nicht heilig machen, sondern in einen Rehaprozess hineinführen.
Sie wissen, was Reha ist: Rehabilitation, das dauert oft lang. Meine Frau hatte im letzten Jahr eine Hüftoperation. Gott sei Dank ging es schneller, aber ich habe in Bad Urach gesehen, wie viele in den beiden Rehakliniken nach Schlaganfällen lange üben müssen, bis das Bein wieder belastbar ist und bewegt werden kann. Aber sie sind in einer guten Kur und haben ein Ziel vor sich. Bei den anderen geht es voran, und sie möchten doch mal.
So möchte uns Jesus in den kurzen Jahren unseres Lebens, die schneller vorbeiziehen, als wir denken – ich habe mir ausgerechnet, wann das war, als meine Frau die Geburtsanzeige für unsere Tochter schrieb, am 24. Dezember. Ich weiß nicht, ob es ein Sohn oder eine Tochter wird. Sie war in der Klinik und schrieb am Telefon: Tochter. Nein, da ist auch ein Wortspiel drin. Vor dreißig Jahren war das.
Unser Leben zischt nur so vorbei, und wir ahnen es nicht. In den kurzen Jahren möchte Jesus uns in einen Rehaprozess hineinführen. Zuerst an den Stellen, wo es besonders nötig ist: Der eine hat es mit der Wahrheit schwer, der andere mit seiner Ungeduld, der nächste kann so schlecht Liebe zeigen. Jesus möchte uns in einen großen Rehaprozess hineinziehen, damit wir wachsen hin zu Jesus.
Die Bibel will uns dabei eine Hilfe sein. Dazu möchte ich noch einmal eine Bibelstelle lesen, auch vom Apostel Paulus: 2. Timotheus 3,16.
Am liebsten würde ich auch mal eine große Bibelwoche halten über alle Kapitel drei Verse sechzehn. Die Bibel ist ganz großartig, aber kein Geheimnis. So eine eigene Bibel ist jedes Wort gut. Deshalb können Sie über 2. Timotheus 3,14 und 1. Timotheus 1,1 mal eine Bibelstunde halten, quer durch die Bibel. Aber man kann es sich leichter merken: 2. Timotheus 3,16: Alle Schrift, alle Bibel, was geschrieben ist, was Gott so wichtig war, dass es schwarz auf weiß gegeben wurde – den Propheten, den Aposteln – alle Schrift ist von Gott durchhaucht.
Wenn Gott seinen Odem hineingibt, wenn er sie als Membran benutzt, die ins Schwingen gerät, dann ist irgendein Bibelwort nützlich. Jetzt denken wir: zur Erbauung, zur Erhebung, zu religiösen Gefühlen? Nein, es ist nützlich zur Zurechtweisung und zur Lehre.
Fragen Sie mal alle, die Lehrlinge waren, die Pfeiler angefangen haben. Wie der Meister komisch gesagt hat: Ah, ah, nicht so, nicht so heben! Die Lehre fängt damit an, dass einer sagt: Ah, ah, halte mal das nicht so! Und nicht gleich: Das ist ausgezeichnet.
Alle Schrift, die von Gott eingegeben ist, ist nützlich. Ah, ah, halte mal das nicht! Dazu benutzt Gott die Bibel. Nicht zu tollen Gefühlen. Es wird bei mir zurzeit zu viel Halleluja gesungen: Ich gehöre dir, ich folge dir. Die Schrift ist dazu da, da folge ich wirklich.
Wie sieht es in meinen Gedanken aus? Ist Jesus wirklich in mir? Die Schrift ist nützlich zur Lehre, zur Zurechtweisung, eigentlich können wir es auch übersetzen mit: zur Aufdeckung von Schuld, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, damit ein Mensch Gottes vollkommen sei, zu allem guten Werk geschickt. Nicht dass er anständige Menschen sind, sondern dass sie Gottesmenschen sind, wo Gottes Gegenwart da ist.
Der schwäbische Pietismus hat den Pietismus ja nicht entdeckt, sondern eigentlich der Ursprung war in Halle. Dort wurde die erste Bibelanstalt gegründet, Mission nach Sibirien, der erste Missionar ausgesandt nach Indien, der ganze Horizont der deutschen Christenheit geöffnet für die Weltmission. Das große Pädagogium in Halle wurde aufgebaut, das später die Grundlage für die Reform des preußischen Schulwesens wurde.
Man könnte endlos erzählen. Es war ein Vulkan von Tätigkeit. Angefangen hat es, als August Hermann Francke in Lüneburg war. Er sollte eine Osterpredigt halten, die Pfingstpredigt nicht behalten und dachte: Ich nehme Johannes 20 als Bibeltext, den Schluss von Johannes 20: Dieses ist geschrieben, dass ihr glaubt, dass Jesus der Sohn Gottes ist, schreibt Johannes in Johannes 20, und dass ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen.
Der begabte August Hermann Francke dachte: Erstens, zweitens, drittens, da kriegt man schöne Predigten, ich bereite sie vor. Und dann hat es ihn plötzlich wie ein Blitz getroffen: Dass ihr durch den Glauben an diesen Jesus Christus das Leben habt. Gut, ich bin Theologe, aber was wäre in meinem Leben anders, wenn es Jesus überhaupt nicht gäbe? Dann wäre ich vielleicht Lehrer oder Verwaltungsbeamter. Mich freut der Umgang mit Menschen.
Als ihn das plötzlich überkam, dachte er: Ich habe mir bisher nur etwas vorgemacht, war das Scheinheiligkeit? Habe ich mich selbst getäuscht? Es war so ein Prüfen, Gottes Ehrlichkeit: Wie steht es denn? Das ging so weit, dass in ihm sogar Zweifel kamen: Hat nicht Mohammed, der Islam, auch recht? Das war damals schon eine Frage: Warum glauben wir, dass Jesus allein die Wahrheit ist? Wie kann man in ihm das Leben haben, das mein Leben berührt, verändert, gestaltet?
Er kam so in die Verzweiflung, dass er nicht mehr Pfarrer sein konnte. Nach einigen Nächten, in denen er kaum schlief, betete er: Lieber Jesus, wenn es dich gibt, dann erweise dich mir. Und dann schreibt er in seinem Tagebuch: Es war plötzlich, als ob sich eine Hand wendet – von der schrecklichsten Ungewissheit in eine ganz große Gewissheit. Jesus lebt!
Ab dem Augenblick wurde in seinem Leben etwas anders. Da kam neue Kraft hinein, Phantasie, Freude. Für Jesus etwas gestalten zu können, wurde möglich.
Wir werden alle keine August Hermann Francke, aber Jesus hat für jeden von uns einen Weg. Prüft euch, wo ihr im Glauben steht. Sind gesegnete Stunden auch so einer von Bibeltagen, an denen Jesus sagt: Wie ist es bei dir? Erforsche dich selbst. Hast du bisher Sympathie für mich, Freude und Gemeinschaft mit anderen Christen? Manchmal ärgerst du dich auch? Ja, gut, verständlich. Aber hast du mich in dein Leben hineingelassen? Durfte ich wirken?
Darüber wollen wir morgen weitermachen: Die Frage, wer für mich der Liebe würdig ist, nicht bloß liebenswürdig. Das habe ich als Thema: Wer ist würdig der Liebe? Die Menschen, die Jesus geliebt hat – von Petrus über Zachäus, über die große Sünderin, den römischen Hauptmann, Militarist, bis hin zu dem Verbrecher am Kreuz – sie waren nicht der Liebe würdig. Aber sie haben etwas getan, sie haben Liebe gebraucht.
Darüber wollen wir morgen reden: Ob wir auch sagen: Der hat es doch gar nicht verdient, der soll sich mal selber anstrengen! Oder ob Jesus in uns wirkt. In meinem Leben waren viele Menschen, die sagten: Der Chefbuchhalter hat Liebe nicht verdient, den lasse ich links liegen. Aber da hat Jesus in ihnen gewirkt, dass sie mir Liebe erwiesen haben. Kann Jesus so in uns wirken? Darüber wollen wir morgen nachdenken.
Wenn Sie kommen können, ist das schön. Aber jetzt wollen wir miteinander beten.
Gebet und Abschluss: Die Einladung Jesu an unser Leben
Ich darf Sie bitten, sitzen zu bleiben. Herr Jesus, wir danken Dir, dass Du uns diese Würde schenkst: dass Du in das Gehäuse unseres Lebens einziehen willst.
So viele Menschen möchten nichts mit uns zu tun haben. Doch Du, der Sohn Gottes, willst mit uns Gemeinschaft haben. Mehr noch, Du hast viel mit uns vor. Dabei spielt es keine Rolle, ob jemand zu alt oder zu nebensächlich erscheint.
Das wollen wir Dir zutrauen und ganz neu begreifen. Lass uns von Dir den Horizont öffnen, damit wir verstehen, dass das ganze Christsein darin besteht, dass Du die Hauptsache bist und wirkst. Du lebst doch!
Jetzt gib uns die Kraft, Dich nicht abzuweisen. Danke für das Zusammensein und danke, dass Du uns Dein Wort so lebendig machen kannst. Amen.