Liebe Freunde,
die meisten Menschen interessiert nur eines: Was muss ich tun, damit ich etwas vom Leben habe? Klar, jeder möchte etwas vom Leben haben – ich auch. Das ist eine wichtige Frage. Doch sie ist nicht die wichtigste Frage.
Denn das Leben, von dem wir alle so gerne etwas haben wollen, endet eines Tages für uns alle. Ganz egal, wie weit du es im Leben bringst – am Schluss landest du unter allen Umständen in einer sehr bescheidenen Holzkiste. Aus der Sicht des Verbrauchers sieht diese sogar ziemlich schmucklos aus.
Dann geht es entweder husch husch zu den Würmern oder schnell durch den Schornstein des Krematoriums. In spätestens neunzig Jahren wird keiner von uns mehr auf dieser Erde sein. Dann sind wir alle schon gegangen.
Die vergängliche Natur des Lebens und die wahre Frage
Trotz der Vergänglichkeit des Lebens hat jeder von uns die Chance auf das ewige Leben. Dieses ewige Leben endet niemals und wird auch durch den Tod nicht zerstört. Du hast es, wenn du an Jesus glaubst. Erst wenn du das ewige Leben hast, hast du wirklich etwas von diesem Leben. Dann beginnt das eigentliche Leben erst richtig.
Deshalb lautet die wichtigste Frage nicht: „Was muss ich tun, damit ich etwas vom Leben habe?“, sondern: „Was muss ich tun, damit ich das ewige Leben habe?“
Mit dieser Frage kommt einmal jemand zu Jesus. Im Lukas-Evangelium Kapitel zehn fragt ein Meister: „Was muss ich tun, damit ich das ewige Leben erbe?“
Wie gesagt, die Frage ist gut. Schlecht ist nur, dass sie gar nicht ernst gemeint ist. Denn der Mann, der hier so fromm fragt, ist nicht ehrlich. Erstens kennt er die Antwort bereits. Und zweitens ist er gar nicht bereit, die Antwort zu akzeptieren.
Er fragt nicht, um eine Antwort zu bekommen, sondern um sich zu unterhalten. Er möchte mit ein paar fulminanten Geistesblitzen vor den Leuten imponieren. Er möchte mit dem berühmten Rabbi Jesus ein Streitgespräch führen und zeigen, was für ein geschickter Diskussionsredner er ist.
Die Gefahr der oberflächlichen Frömmigkeit und Diskussionen
Also einer von den frommen Schwätzern, wie sie sich auch in vielen kirchlichen Kreisen heutzutage niedergelassen haben. Das sind die mit der Diskutierwut, die über alles bis zum Umfallen diskutieren, alles hinterfragen und in Frage stellen, aber nie zu einem richtigen Ergebnis kommen.
Die Bibel sagt über solche Leute, dass sie die Seuche der Fragen und Wortklauberei haben. Ihr Sinn ist zerrüttet, sie haben den Schein von Frommen, aber die Kraft wirklicher Frömmigkeit kennen sie nicht. Sie lernen pausenlos, kommen aber doch nicht zur Erkenntnis der Wahrheit.
Wie gesagt, so ein Typ kommt zu Jesus. Man merkt ihm an, dass er sich etwas darauf einbildet, ein hochgebildeter, tiefreligiöser Mensch zu sein. Er lässt die Leute spüren, dass es seine Meinung ist. Er sagt: „Ich gehöre nicht zu den Typen, die von den Plattheiten des Alltags reden. Ich unterhalte mich über höhere Dinge. Mich interessieren höhere Werte, ich rede vom ewigen Leben.“
Es gibt ja auch unter euch welche, die sich einbilden, sie seien etwas Besseres, weil sie in die Kirche gehen. Ihr kommt euch erhaben vor über die Plattheiten der Materialisten, weil ihr euch mit etwas Höherem beschäftigt. Ihr merkt gar nicht, dass die Echtheit eures Glaubens nicht in den Höhen eurer Diskussionen entschieden wird, sondern in der dicken Luft unten auf der platten Erde, im Alltagsleben.
Solchen Leuten ist nur zu helfen, wenn man sie aus ihren Höhen herunterholt, auf den platten Boden der Tatsachen. Dorthin, wo es um Taten geht.
Jesu praktische Antwort auf die Frage nach dem ewigen Leben
So macht es Jesus mit seinem Gesprächspartner. Als dieser zum geistlichen Höhenflug ansetzt, zwingt Jesus ihn zu einer theologischen Bauchlandung.
„Meister, was muss ich tun, damit ich das ewige Leben erbe?“ fragt der Mann. Jesus antwortet zurück, fast wie zu einem Schuljungen: „Was steht in deiner Bibel geschrieben? Wie liest du das?“
Unser Männchen, der in der Konfirmandenstunde gut aufgepasst hat, spult die Antwort wie aus der Pistole geschossen herunter: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, mit allen deinen Kräften und mit deinem ganzen Verstand, und liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“
„Bravo“, sagt Jesus, „das hast du fein gemacht. Du kriegst eine Einzelreligion. Du bist in Ordnung, deine Antwort stimmt genau so, wie du sagst.“
Und nun sagt Jesus, in Vers 28: „Und nun tue das, und dann wirst du leben.“
Damit ist für Jesus das Gespräch schon gelaufen. So einfach ist das. Die Antwort auf die wichtigste Frage des Lebens ist ganz einfach: Liebe Gott und deinen Nächsten. Und tu das!
Das ist alles. Das kann jeder verstehen, das kann jeder tun. Aber genau davor, vor dem Tun, will sich unser Mann drücken. Deshalb flüchtet er sich in die Diskussion, denn er weiß ganz genau: Solange noch diskutiert wird, besteht noch nicht die Gefahr, dass man arbeiten muss.
Die Herausforderung, Nächstenliebe praktisch zu leben
Also beginnt er damit, die einfachen Worte von Jesus zu hinterfragen. Dabei sind wir uns natürlich einig: Jesus sagte, Nächstenliebe müsse sein – klarer Fall. Was wäre unsere Welt ohne Nächstenliebe? Doch es gibt ja eine ziemlich große Menge an Nächsten. Also fragt er Jesus: Wer ist denn mein Nächster?
Mit dieser Zusatzfrage fühlt er sich mächtig schlau, weil er Jesus zu einer neuen Diskussionsrunde zwingt. Aber Jesus ist ja nicht auf den Kopf gefallen und lässt sich von dieser List nicht täuschen. Statt sich auf eine Diskussion über das Thema „Wer ist mein Nächster?“ einzulassen, erzählt Jesus eine Geschichte.
Es ist eine ganz einfache Geschichte, eine der berühmtesten aus der Bibel: die Geschichte vom barmherzigen Samariter (Lukas 10). Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho. Unterwegs überfielen ihn Räuber. Sie rissen ihm die Kleider vom Leib, schlugen ihn zusammen und ließen ihn halbtot liegen.
Nun kam zufällig ein Priester denselben Weg entlang. Er sah den Mann liegen, machte einen Bogen um ihn und ging vorbei. Genauso handelte ein Kirchendiener: Er sah den Verletzten und ging ebenfalls vorbei.
Schließlich kam ein Mann aus Samarien. Als er den Überfallenen sah, hatte er Mitleid. Er ging zu ihm hin, behandelte seine Wunden mit Öl und Wein und verband sie. Dann setzte er ihn auf sein eigenes Reittier und brachte ihn in das nächste Gasthaus, wo er sich um ihn kümmerte.
Am nächsten Tag gab er dem Wirt zwei Silberstücke und sagte: „Pflege ihn! Wenn du mehr brauchst, will ich es dir bezahlen, wenn ich zurückkomme.“
Jesus fragte: „Was meinst du, wer von den dreien hat an dem Überfallenen als Mitmensch gehandelt?“ Der Mann antwortete: „Der, der ihm geholfen hat.“
Jesus erwiderte: „Geh hin und mach’s genauso.“
Die Umkehr der Frage: Wem bin ich der Nächste?
Die Frage ist also nicht die, die der Mann gestellt hatte: Wer ist mein Nächster?
Die eigentliche Frage lautet vielmehr: Wem bin ich der Nächste? Solange du nämlich noch fragst, wer mein Mitmensch oder mein Nächster ist, wirst du immer jemanden finden, von dem du sagst: „Der nicht.“
Vielleicht ist das ein Unmensch, ein Untermensch oder ein unwürdiger Mensch. Vielleicht ein unwichtiger Mensch, ein Vorbestrafter, ein Fauler, politisch unzuverlässig, versoffen oder jemand, der stinkt. Vielleicht sagst du: „Der ist selbst schuld an seinem Schicksal.“
Solche Leute, wie der, haben deiner Meinung nach keinen Anspruch auf Mitmenschlichkeit. Jedenfalls keinen Anspruch auf dich, auf deine Hilfe, auf deine Zeit oder auf deine Menschlichkeit.
Um zu verhindern, dass du von einem einzigen Wesen auf dieser Erde so sprichst, dass du von keinem Menschen sagen kannst: „Der ist nicht mein Mitmensch“, dreht Jesus die Frage um. Aus „Wer ist mein Mitmensch?“ macht er „Wem bin ich Mitmensch? Wem bin ich der Nächste?“
Mit anderen Worten: Du selbst bist der Nächste. Du kannst nicht in deinem Leben einfach so dasitzen, wie in einem Wartezimmer, und zusehen, wie die Leute hereinkommen, sie beurteilen und darauf warten, dass einer kommt, dem du vielleicht Nächster sein könntest.
Mit der Geschichte vom barmherzigen Samariter reißt Jesus die Tür zum Leben auf. Er ruft: „Der Nächste, bitte!“ Und er erwartet, dass du aufstehst und losgehst, dass du handelst. Jetzt bist du dran: Der Nächste, bitte – das bist du!
Konkrete Beispiele für gelebte Nächstenliebe im Alltag
An dieser Stelle passt nun das Beispiel der alten Frau im vierten Stock, die krank im Bett liegt und deren Hausordnung du eigentlich machen müsstest. Oder der alte Mann, der sich wegen der vielen Autos nicht über die Straße traut und den du eigentlich am Arm nehmen und so über die Straße führen müsstest.
Diese Beispiele haben wir in vielen Predigten schon so oft gehört, dass wir kaum noch hinhören. Das führt dazu, dass in unserer Stadt viele alte Menschen, die kaum noch laufen können, ihre Hausordnung selbst machen müssen. Viele ältere Bürger, die dem Verkehr auf der Straße nicht mehr gewachsen sind, werden einfach überfahren.
Die Straße zwischen Jerusalem und Jericho gibt es nicht nur in Palästina. Sie führt quer durch die ganze Welt, quer durch Karl-Marx-Stadt, quer durch dein Leben. Wir alle benutzen sie. Es stellt sich inzwischen nur die Frage, ob wir uns nur um die Opfer kümmern sollen oder ob es nicht an der Zeit ist, die Straße selbst umzubauen.
Die Notwendigkeit gesellschaftlicher Veränderung neben persönlicher Barmherzigkeit
Im vorigen Jahrhundert sind die Kirchen an den vom Kapitalismus ausgebeuteten Massen einfach vorbeigegangen.
Dann erschien auf der Bildfläche ein barmherziger Samariter. Das war ein Jude, einer mit einem großen schwarzen Bart und einer spitzen Zunge. Einsam spitz war dessen Zunge. Es war ein Kommunist, und zwar Karl Marx. Er sagte, wenn man den ausgeplünderten Arbeitermassen wirksam helfen will, genügt es nicht, ein bisschen persönliche Barmherzigkeit zu zeigen oder Almosen zu geben. Stattdessen muss das ganze System geändert werden.
Recht hat er gehabt. Barmherzigkeit auf Privatbasis genügt heute in unserem Zeitalter nicht mehr. Es reicht nicht mehr, immer nur von dem alten Opa am Straßenrand zu reden. Die Straße selbst muss umgebaut werden. Es genügt nicht, einzelne Opfer zu verbinden. Die Banden müssen unterbunden werden, die die Menschen mit ihren Forderungen überfallen, die Menschen mit ihren Parolen totschlagen, die den Menschen ihre Persönlichkeit rauben, ihre freie Meinung abwürgen, ihr Gewissen demontieren, die Zeit stehlen und die Menschenrechte mit Füßen treten.
Es reicht nicht, einzelne Opfer zu versorgen. Es muss dafür gesorgt werden, dass die politischen und wirtschaftlichen Systeme abgeschafft werden, die diese Opfer produzieren. Am Straßenrand der modernen Zivilisation verkommen heute Millionen von Menschen.
Ich habe gestern gelesen, dass im Jahr 1980 auf unserer Erde 122 Millionen Menschen geboren wurden. Und jedes zehnte dieser vor einem Jahr geborenen Kinder ist bereits wieder tot – gestorben an den Folgen des Hungers. Am Straßenrand der modernen Zivilisation verkommen Millionen von Menschen, die von diesem politischen und wirtschaftlichen System systematisch fertiggemacht werden.
Es muss dafür gesorgt werden, dass wir eine Welt der Gerechtigkeit, der Freiheit und der Sicherheit für alle bekommen. Dazu sind gesellschaftliche Organisationen und Aktionen nötig. Dazu ist zum Beispiel auch der Staat nötig.
Die Balance zwischen staatlicher Hilfe und persönlichem Engagement
Aber es genügt nicht, sich mit dem Gedanken zu beruhigen, der Staat kümmert sich schon um alles. Wir haben die Sozialversicherung, wir haben die Krankenhäuser. Wenn es gar nicht klappt, haben wir noch die Intermission. Jedenfalls gibt es öffentliche Einrichtungen für die Pflege der Kranken, Alten und Behinderten. Da gibt es genug offizielle Stellen, sodass ich mich persönlich nicht mehr darum kümmern muss.
Und genau das ist falsch.
Ich möchte das an dem Beispiel deutlich machen, das uns in diesem Jahr besonders am Herzen liegt: an dem Beispiel der Behinderten. Jeder weiß, dass in unserem Land viel für die Behinderten getan wird. Aber jeder weiß auch, dass noch lange nicht genug getan wird.
Man muss sich nur von einem Rollstuhlfahrer erzählen lassen, was passiert, wenn er mit der Eisenbahn verreisen will. Er fährt dann im Gepäckwagen mit, wo normalerweise Fahrräder und Hühnerkörbe transportiert werden. Eine Toilette kann er weder in der Eisenbahn noch auf irgendeinem Bahnhof benutzen.
Unsere öffentlichen Gebäude mit ihren imposanten Treppen und nicht vorhandenen oder nicht funktionierenden Fahrstühlen sind für Behinderte einfach nicht vorbereitet. Unsere Straßen mit ihren Bordkanten sind für Behinderte überhaupt nicht passierbar.
Es genügt nicht, die Behinderten mit Rollstühlen zu versorgen. Die Straßen müssen so gebaut sein, dass sie mit den Rollstühlen darauf fahren und eine Kreuzung überqueren können, ohne umzukippen.
Das muss gerade heute, am Tag des Eisenbahners und am Tag der Werktätigen des Verkehrswesens, gesagt werden.
Wir dürfen nicht aufhören, im Namen der Geschädigten von unserem Staat zu verlangen, dass er mehr für die Behinderten tut. Das ist die eine Seite.
Und wir dürfen nicht aufhören, im Namen Gottes von uns selbst zu verlangen, dass wir mehr für die Behinderten tun. Im Gegenteil: Je perfekter die Institutionen sind, desto mehr brauchen die Behinderten unser Herz und unsere Barmherzigkeit.
Ich kenne einen Behinderten, der leidenschaftlich gerne hierher zu diesem Gottesdienst kommen würde. Aber dafür müsste ihn jemand mit dem Auto abholen. Da ihn aber niemand mit dem Auto abholt, kann er eben nicht hier sein. Er hat Pech gehabt.
Die Bedeutung von persönlichem Einsatz neben materieller Unterstützung
Ich bewundere es sehr, wie ihr alle vier Wochen bei jedem Gottesdienst sechstausend Mark oder sogar noch mehr für die Behinderten spendet. Das ist wirklich eine enorme Leistung.
Aber es gefällt mir nicht, dass ihr so selten einen Behinderten mit hierher bringt. Ich will das Geldopfer, das ihr bringt, keinesfalls kleinreden. Im Gegenteil, ich sage, es ist eine große Leistung. Das soll euch erst einmal jemand nachmachen: so viel Geld für andere Menschen aufzubringen.
Aber, Freunde, eines ist Fakt: Fünf Mark sind leichter gegeben als eine Stunde Zeit, die man braucht, um einen Behinderten hierher und wieder nach Hause zu fahren. Das reicht nicht aus, wenn ihr euer Geld für eure Mitmenschen gebt, euch aber gleichzeitig über jene hinwegsetzt, die unmittelbar vor eurer Nase leben.
Ihr benehmt euch wie jener Kapitän, der mit seinem Schiff Lebensmittel für die hungernden Massen nach Indien bringt. Er fährt an einer kleinen Insel vorbei. Am Ufer steht ein zerlumpter, unrasierter und ausgemergelter Mann, der wie ein Verrückter winkt.
Ein Passagier fragt den Kapitän: „Was hat es denn mit dem auf sich? Warum fuchtelt der so?“ Der Kapitän antwortet: „Ich weiß es auch nicht, aber jedes Mal, wenn ich hier vorbeifahre, macht er dasselbe.“
Das ist heute große Mode: Wir fahren mit Volldampf an denen vorbei, die uns durch irgendwelche Zeichen – und wenn es nur ihre bloße Gegenwart ist – zu verstehen geben, dass sie unsere Hilfe brauchen. Wir gehen an ihnen vorbei, marschieren an ihnen vorbei, als ob sie nicht existierten.
Kritik an oberflächlicher Solidarität und Aufruf zur praktischen Nächstenliebe
Es ist heutzutage sehr verbreitet, dass sich viele Menschen mit allen möglichen anderen solidarisch erklären – mit den Ausgebeuteten, den Unterdrückten, denjenigen, die um ihre Freiheit kämpfen, und so weiter. Das ist grundsätzlich gut und richtig. Es gibt auch Situationen, in denen Protest und Solidaritätserklärungen die einzig mögliche und notwendige Hilfe sind.
Im Normalfall reichen bloße Erklärungen jedoch nicht aus. Der barmherzige Samariter aus unserer Geschichte hat sich ja auch nicht einfach mit einem Spruchband und einer Sprechtüte neben den Verunglückten gestellt und gesagt: „Ich fordere die Abschaffung des Bandwesens.“ Stattdessen ist er zu dem Mann hingegangen. Er hat sich in den Staub gebückt, sich die Finger schmutzig und blutig gemacht, ihn auf sein Reittier gehoben, ihn verbunden, Geld für ihn ausgegeben, seine Zeit hingegeben und ihm geholfen.
Jesus hat sich ebenfalls nicht nur vom Himmel herab solidarisch erklärt – das hätte ihn ja nichts gekostet. Er ist vom Himmel herabgekommen und mit uns solidarisch geworden. Das hat ihn sein Leben gekostet. Solidaritätserklärungen sind billiges Gerede, wenn sie nicht durch persönlichen Einsatz und durch eine konkrete Tat wirklich in die Wirklichkeit umgesetzt werden.
Ich habe etwas gegen diejenigen, die bei jeder sich bietenden Gelegenheit möglichst lautstark ihre Solidarität mit den Armen und Elenden in den entferntesten Winkeln der Erde erklären, dabei aber die Armen und die elenden Menschen vor der eigenen Haustür geflissentlich übersehen. Sie sind so sehr mit weltgeschichtlichen Perspektiven beschäftigt, dass sie den Nächsten, den Nächstliegenden nicht mehr sehen.
Gerade in der Kirche gibt es heute Menschen, die in den herrlichsten Tönen von Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit sprechen, dass einem die Ohren davon dröhnen. Doch wenn es darauf ankommt, praktisch Mitmenschlichkeit zu üben, wird es sehr peinlich still.
Die Heime und Krankenhäuser für hirngeschädigte Kinder und alte Menschen schreien heute nach Mitarbeitern. Doch es finden sich zu wenige junge Menschen, die solche Berufe wählen. Viele sind unterwegs auf der Straße zwischen Jerusalem und Jericho – auf der Suche nach Glück, nach Einkommen, nach Vorwärtskommen, nach einem besseren Lebensstandort, nach einer neuen, besseren, schöneren Welt.
Manche beruhigen ihr Gewissen, indem sie Solidaritätserklärungen abgeben. Manche schicken Pakete mit Kleidung an Heime, manche spenden Geld für die Aktion Brot für die Welt. Das ist alles schön und gut. Aber es taugt nichts, wenn gleichzeitig der Mitmensch vor der eigenen Tür links liegen gelassen wird.
Die Aufforderung zur praktischen Nächstenliebe im eigenen Umfeld
Und damit bin ich nun wieder bei dem berühmten kirchlichen Paradebeispiel: der alten Oma im vierten Stock, die sich ihre Kohlen eben nicht mehr alleine hochholen kann.
Vielleicht habt ihr keine alte Oma in eurem Haus. Dann ist es vielleicht eine junge Mutter, die mit ihren vier Kindern nicht mehr zurechtkommt, die auf der Strecke geblieben ist. Vielleicht gibt es in eurer Straße keinen Behinderten, der ohne fremde Hilfe eben nicht mehr auf die Straße kann. Aber vielleicht gibt es ein Kind, das die anderen einfach an den Rand gedrückt haben.
Was weiß ich, die Welt ist doch voll von Menschen, von Nächsten, denen du ein barmherziger Samariter sein kannst. Und wenn du keinen findest, dem du zum barmherzigen Samariter werden könntest, zum Nächsten, zum Mitmenschen, dann kann das nur daran liegen, dass du Jesus noch nicht als deinen barmherzigen Samariter gefunden hast, als deinen Lebensretter erkannt hast.
Denn der wahre barmherzige Samariter, das ist Jesus selber. Und seine Aufforderung, barmherzig zu sein, funktioniert bloß, wenn du ihm dein Herz gibst. Ohne persönlichen Glauben an Jesus wird es mit der Barmherzigkeit nichts.
Aber wenn du wirklich begriffen hast, dass Jesus dich liebt, dann wirst du sozusagen automatisch barmherzig. Da brauchst du nicht einen Pfarrer, der dir eine halbe Stunde lang erklärt, dass du und zu wem du barmherzig sein müsstest.
Schlussgedanken: Die Einfachheit der Nachfolge Jesu
Deswegen mache ich jetzt Schluss. Ich komme mir allmählich selbst schon vor wie ein Schriftgelehrter, der die einfachen Worte von Jesus umständlich problematisiert.
Ich habe sowieso schon lange den Eindruck, dass die Kirche aus dem einfachen Lehrer Jesus ein viel zu kompliziertes Lehrgebäude gemacht hat.
Über diesen Text vom barmherzigen Samariter könnte ich noch stundenlang predigen, aber ich finde, meine Predigt ist schon viel zu lang gewesen. Und überhaupt, was soll das wirklich? Wir problematisieren viel zu viel.
Bei Jesus ist das alles viel einfacher. Es ist umwerfend einfach. Er beendet seine Geschichte mit dem Satz: „Geh hin und mach es genauso!“ Das ist doch wirklich klar genug!