Einführung: Begegnung mit einem jungen Mann und seine Enttäuschung im Gebet
Einen wunderschönen guten Abend wünsche ich Ihnen auch von meiner Seite. Es ist schön, wieder hier bei Ihnen in Weissach zu sein.
Wir haben heute Abend ein Thema, das mit dem Gebet zu tun hat. Vor etwa einem Jahr war ich im Gespräch mit einem jungen Mann, der mit mir in Kontakt getreten ist. Wir hatten einige Gespräche miteinander, und sein Thema war, dass er das Beten eingestellt hatte. Er hatte mit dem Beten aufgehört. Das kann man machen.
Ich habe ihn dann gefragt, was passiert sei und warum er aufgehört habe. Er erzählte, dass er es probiert habe. Er hatte richtig lange, intensiv gebetet – über ein Jahr lang – für ganz konkrete Dinge. Doch Gott habe nicht gehört. Deshalb meinte er, das bringt nichts, und er hört mit dem Gebet auf.
Dieser junge Mann hatte Erwartungen. Er hatte Erwartungen an Gott, besonders im Blick auf ganz konkrete Anliegen, die man sich als junger Mann vorstellen kann. Die Dinge haben sich jedoch anders entwickelt, als er es mit seinen Gebeten angestrebt hatte. Er war enttäuscht und frustriert. Deshalb beschloss er, dass das Ganze nichts bringt, und er hört auf.
In unseren Gesprächen bin ich mit ihm auf einige Punkte gekommen. Der zentrale Punkt war die Frage: Was glaubst du eigentlich, wer Gott ist? An der Art und Weise, wie wir beten – ob wir beten oder nicht – zeigt sich immer, an wen wir glauben. Unsere Gebetspraxis, also wie wir mit Gott reden oder ob wir überhaupt mit Gott reden, ist immer ein Spiegelbild dessen, was wir von Gott halten.
Es zeigt sich, an welchen Gott wir glauben und welches Bild wir von Gott haben. Am Gebet erkennt man, ob wir im Tiefsten an Gott glauben oder an einen Götzen.
Wir haben unser Gespräch so weitergeführt, und ich habe ihm dann gesagt: Könnte es sein, dass du Gott mit einem Götzen verwechselst? Dass du Gott mit einem Automaten verwechselst? Dass du Gott mit einer Maschine vergleichst, in die man oben ein paar Münzen wirft und unten dann ein Schokoriegel oder eine Cola-Dose herauskommt? Beten, Münzen reinwerfen, herausbekommen, weggehen, erledigt.
Wenn das dein Bild ist, dann glaubst du an einen Götzen. Dann glaubst du an einen Automaten, aber nicht an den Gott, der sich uns in Jesus Christus offenbart hat. Nicht an den Gott, der sich uns in der Bibel offenbart hat.
Die Bedeutung des Gebets in der Bergpredigt
Wir reden heute über das Beten, und in der Bergpredigt wird an verschiedenen Stellen vom Beten gesprochen. Ich möchte auf alle Stellen eingehen, an denen in der Bergpredigt vom Gebet die Rede ist. Das sind zwei verschiedene Stellen.
Einmal in Kapitel 6 gibt es einen Exkurs über das Gebet, bei dem es zunächst um das falsche Gebet geht. Jesus warnt seine Jünger davor, dass man auch falsch beten kann. Es ist übrigens interessant, dass es in der ganzen Bibel sehr viele Gebote im Blick auf das rechte oder eben auch falsche Beten gibt. Zum Beispiel heißt es: Du sollst den Namen deines Gottes nicht missbrauchen. Dabei geht es um die Art und Weise, wie wir Gott anreden. Ob ich das Gebet zur Manipulation Gottes gebrauche oder ob ich wie ein Kind zu seinem Vater spreche. Man kann das Gebet in verschiedenerlei Hinsicht missbrauchen.
Das erste Wort, von dem Jesus in der Bergpredigt im Blick auf das Gebet spricht, ist eine Warnung vor dem Missbrauch des Gebets. Ein spannendes Thema. Nach der Warnung vor dem Missbrauch des Gebets geht es um den rechten Gebrauch des Gebets. Das ist dann das Vaterunser, das Jesus seine Jünger und uns alle lehrt.
An einer anderen Stelle, ein Kapitel später, geht es um das erwartungsvolle Gebet. „Bittet, so wird euch gegeben“ – das ist die dritte Stelle, die ich heute Abend behandeln möchte. Also zunächst geht es um das falsche Beten, dann um das rechte Beten und schließlich um das erwartungsvolle Beten.
Martin Luther hat, wie wir im Konfirmandenunterricht gelernt haben, deutlich gemacht, dass Beten ein Reden des Herzens mit Gott in Bitte und Fürbitte, Dank und Anbetung ist. In diesem Gebet hat unendlich viel seinen Platz, da kann man unendlich viel vor Gott bringen.
In der Bibel finden wir viele Gebete, in denen alle möglichen Wünsche und Alltagsanliegen zum Ausdruck gebracht werden. Da geht es zum Beispiel um die Bitte um das Gelingen einer Reise. Elieser, der Knecht Abrahams, der auf Brautschau gehen soll, bittet Gott um das Gelingen seiner Reise, damit er eine Braut für Isaak findet.
Oder ich denke an Gideon, der Gott um Vergewisserung bittet. Gott ruft ihn, und er sagt: „Mensch, wie soll ich wissen, ob ich das machen soll, ob ich das kann oder nicht?“ Er bittet um Gewissheit. Wer kennt das nicht? Die Bitte: „Herr, mach mich doch gewiss, ich bin so unsicher.“ So viele Möglichkeiten – man muss eine Entscheidung treffen und bittet um Gewissheit.
Es gibt Gebete um Beistand, um Schutz und um Vergebung natürlich. Wer kennt nicht die Gebete Davids, die Psalmen? Es gibt Tischgebete, Fürbittegebete, Paulus bittet darum, dass er auf der Reise nach Rom bewahrt wird. Er sagt den Korinthern, dass er erst nach Jerusalem muss, bevor er zu ihnen kommen kann. Dort wird man ihm nach dem Leben trachten, und andere stehen für ihn ein.
Es gibt Gebete in Abschiedssituationen. Wir kennen das aus Apostelgeschichte 20: Paulus liegt sich mit den Ältesten von Ephesus in den Armen, sie weinen, weil sie sich wahrscheinlich in diesem Leben nicht mehr sehen werden. Es gibt Aussendungsgebete von Missionaren, zum Beispiel in Apostelgeschichte 13, als Barnabas und Paulus ausgesandt werden. Natürlich betet man.
Es gibt Heilungsgebete, und es gibt sogar ein Rachegebet. In Offenbarung 6 beten die Märtyrer unter dem Altar: „Wann rächst du endlich unser Blut?“ Sie wurden furchtbar gemartert, brutal umgebracht. In diesen Tagen bekommt das alles noch einmal einen sehr sinnvollen Ausdruck in dieser Welt. Und dann beten sie: „Herr, wie lange dauert es, bis du Gerechtigkeit schaffst in dieser Welt?“
All das hat Platz vor Gott.
Warnung vor falschem Beten
Man kann auch falsch beten. Es ist möglich, vieles richtig zu machen, aber auch manches falsch. Das Gebet kann missbraucht werden. Die erste Weisung in der Bergpredigt ist eine Warnung vor diesem falschen Beten und vor dem Missbrauch.
Ich möchte diese Verse kurz lesen: Matthäus 6, Verse 5-8:
„Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht sein wie die Heuchler, die gern in den Synagogen und an den Straßenecken stehen und beten, damit sie von den Leuten gesehen werden. Wahrlich, ich sage euch, sie haben ihren Lohn schon gehabt. Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein und schließe die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten. Wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden, denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen. Darum sollt ihr ihnen nicht gleichen, denn euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet.“
Jesus kritisiert hier zwei verschiedene Gebetspraktiken und nennt das erste Heuchelei. Es geht um ein Gebet, das nur den einen Sinn hat: die Zurschaustellung der eigenen Frömmigkeit, die Darstellung des eigenen Glaubens. Das Gebet wird dazu missbraucht, um von anderen möglichst in einem günstigen Licht gesehen zu werden. Menschen, die sich vor den Synagogen oder an Straßenecken aufbauen und in auffälliger Gestik ihre Gebete darbringen, dienen diesem Zweck.
Jesus nennt das Heuchelei, weil es kein Gebet zum Vater im Himmel ist, sondern immer ein Gebet mit dem Seitenblick auf Menschen, die einen wertschätzen sollen. Es geht um die Hoffnung, dass andere einen ehren und die eigene Frömmigkeit bewundern. Dabei steht nicht eine intime Beziehung zum himmlischen Vater im Mittelpunkt, sondern die Zurschaustellung der eigenen Frömmigkeit.
Das Gleiche gilt für das Geben von Almosen oder das Fasten, wie es ebenfalls in der Bergpredigt erwähnt wird. Diese Übungen sollen uns in eine tiefere Beziehung zu Gott bringen. Werden sie jedoch von Menschen missbraucht, um ihre eigene Frömmigkeit darzustellen, nennt Jesus das Heuchelei.
Menschen haben ein feines Gespür für Heuchelei. Jesus warnt davor, das Verhältnis zum himmlischen Vater dazu zu missbrauchen, es vor anderen darzustellen. Auch in der Familie sollte man so etwas nicht tun. Man soll nicht vor Kindern oder Eltern etwas demonstrieren, das keinen echten Wert oder Inhalt hat. Es geht immer um Echtheit bei diesen Dingen.
Das Gebet ist der Bereich der intimen Zwiesprache zwischen mir und Gott. Wenn ich bete, hört Gott zu. Vielleicht haben Sie schon erlebt, dass jemand mit Ihnen spricht, aber nur, damit andere es sehen. Dann fühlt man sich nicht ernst genommen und nicht wertgeschätzt. Ähnlich ist es, wenn jemand sich unbedingt mit Ihnen fotografieren lassen will. Auch dann fühlt man sich nicht ernst genommen.
Wenn ich bete, hört Gott zu, und ich soll an Gottes Ohr bleiben. Es gibt Friedensgebete, bei denen es gar nicht ums Gebet geht, sondern um eine Demonstration. Ebenso gibt es politische Gebete, bei denen es nicht um das Gebet selbst geht, sondern um die politische Botschaft. Man betet formal zu Gott für bestimmte politische Anliegen, aber es geht nicht darum, dass Gott oder irgendjemand im Himmel das hört. Es geht nur darum, dass andere es hören – Politiker oder bestimmte Personen. So wird das Gebet missbraucht als politische Demonstration oder Aktion.
Wir sollen das Gebet nicht missbrauchen, sondern fröhlich darauf vertrauen, dass Gott, der uns das Beten gelehrt hat, auch unser Gebet hört – egal, wer sonst noch zuhört oder nicht.
Das ist kein Verbot des gemeinsamen Betens und auch kein Verbot des gottesdienstlichen Betens. Die Gemeinde Gottes im Alten und Neuen Bund hat immer öffentlich gebetet. Im Gottesdienst wurde und wird gemeinsam gebetet. Aber es ist immer ein Gebet, das an Gott adressiert ist, bei dem sich die Gemeinde gemeinsam an den einen Herrn wendet, von dem sie das Leben hat und der sie in die Ewigkeit führen soll. Dabei geht es nicht darum, das Gebet für irgendwelche anderen Zwecke zu missbrauchen.
Kritik an heidnischer Gebetspraxis und das richtige Verhältnis zum Vater
Das Zweite, was Jesus hier kritisiert, ist eine heidnische Gebetspraxis. Diese hatte das Ziel, durch besonders lange und intensive Gebete die jeweilige Gottheit in irgendeiner Weise umzustimmen oder zu manipulieren. Man wollte erreichen, dass das erbetene Anliegen Wirklichkeit wird und umgesetzt wird.
Dieses Denken folgt dem Grundsatz „viel hilft viel“. Je länger, je intensiver und je lauter ich bete, desto eher wird mein Anliegen erfüllt. Ein Beispiel dafür finden wir im Alten Testament bei Elija und den Baalspropheten. Diese veranstalten einen regelrechten Lärm-Zirkus, und Elija verspottet sie: „Ihr müsst lauter schreien, vielleicht hört er nicht, vielleicht ist er gerade aufs Töpfchen gegangen, euer Baal. Lauter muss es sein, intensiver, vielleicht rhythmischer, vielleicht schneller.“ Viel hilft viel – das ist heidnisches Denken.
Jesus sagt dazu: Nein, bitte kommt nicht so zu eurem himmlischen Vater nach dem Motto „viel hilft viel“. Das ist kein Gebet, das dem Gott entspricht, den Jesus uns als Vater vorgestellt hat. Manche Väter und Mütter kennen wir ja auch. Wie ist das mit kleinen Kindern? Da gibt es oft das Prinzip „viel hilft viel“. Es ist ja bald Weihnachten – je öfter ich meinen Wunsch äußere, je lauter und nerviger ich es tue, desto höher sind die Chancen, dass ich bekomme, was ich will. So denken Kleinkinder.
Das Problem ist, dass das bei manchen Eltern sogar funktioniert. Nach dem Motto: „Bevor der mir jetzt auch noch den allerletzten Nerv raubt, kaufe ich ihm, was er will.“ Das ist eine Katastrophe in der Erziehung, denn Kinder lernen sehr schnell, dass sie durch intensives und nerviges Fordern ihre Ziele erreichen. Vielleicht nicht in der Schule, aber so etwas lernen Kinder sehr schnell.
Gott ist nicht so, wie wir als irdische Eltern manchmal sind. Gott lässt sich nicht nerven. Wir sollen Gott nicht so behandeln wie inkonsequente Eltern, die Wünsche erfüllen, wenn man nur lange, intensiv, schnell, laut und nervig genug bittet. Nein! Wir sollen unsere Gebete so an Gott richten, als würden wir mit einem Vater sprechen – einem Vater, den wir lieben, dem wir vertrauen, den wir ernst nehmen und von dem wir wissen, dass er unser Bestes will.
Wir werden unserem Vater immer sagen, was unsere Not ist, was unser Bedürfnis ist. Aber hoffentlich auch mit dem Vertrauen, dass er weiß, wie uns am besten geholfen ist.
Wenn wir Gebete dazu missbrauchen, Gott zu manipulieren, machen wir aus Gott einen Götzen. Denn das ist das Prinzip okkulter Techniken. Okkulte Techniken funktionieren – man kann mit ihrer Hilfe Mächte manipulieren. Diese okkulten Mächte lassen sich manipulieren. Doch während wir meinen, wir hätten etwas erreicht, merken wir nicht, dass wir in dem Maße, wie wir okkulte Techniken anwenden, von diesen Mächten selbst manipuliert werden.
Im Endeffekt manipulieren sie uns immer heimlich mit. Wir glauben, wir würden etwas bewirken, aber das ist das große Problem. Die okkulten Mächte beschenken uns nie, sondern machen uns immer zu Sklaven. Letztlich führen sie uns immer in eine Sklaverei, obwohl wir denken, einen Gewinn gehabt zu haben.
Dort, wo wir meinen, etwas manipulieren zu können, werden immer nur wir manipuliert.
An der Art und Weise, wie wir beten, zeigt sich, wer Gott für uns ist. Ob wir ihn als Automaten betrachten, von dem wir die Erfüllung unserer Wünsche erbetteln, ob wir ihn mit bestimmten Gebetstechniken manipulieren wollen, oder ob wir ihn als den Vater ansprechen, der er für uns sein will.
Das Verhältnis von Wunsch und Vater im Gebet
Wenn der Wunsch größer wird als der Vater, dann ist etwas faul. Wenn wir Väter und Mütter sind, wissen wir das nur zu gut. Ein Vater und eine Mutter haben immer einen unendlich weiteren Horizont als ein kleines Kind. Ein kleines Kind hat seine Bedürfnisse und Wünsche. Doch wir können nicht jeden Wunsch erfüllen, weil unser Horizont viel größer ist als der des Kindes.
So verhält es sich auch mit unserem himmlischen Vater. Wenn Gott unser Vater ist, müssen wir anerkennen, dass er einen viel größeren, klügeren, wissenderen und weitsichtigeren Blick auf unser Leben hat als wir selbst. Wenn Gott weitsichtiger, klüger und wissender ist als wir, wie wahrscheinlich ist es dann, dass er mehr über unser Leben weiß als wir? Die Wahrscheinlichkeit ist sehr groß.
Im Gebet begegnen wir einem Vater, der besser weiß, was gut für uns ist, als wir es jemals selbst wissen können. Deshalb können wir ihm die Dinge anvertrauen, ohne ihn manipulieren zu müssen. Im Gebet verändern wir uns. Die Erfahrung des Gebets prägt unser Leben und unser Christsein.
Das Gebet lässt uns in der Beziehung zu Gott reifen. Es ist ein Weg, um eins zu werden mit dem Willen Gottes. Das erleben und erfahren wir, wenn wir uns auf diesen Weg des Gebets begeben.
Das Vaterunser als Modell für rechtes Beten
Es gibt ein falsches Beten und ein richtiges Beten. Jesus erklärt uns das im Vaterunser. Damit wir es besser machen können, hat Jesus uns ein Modellgebet gegeben, mit dem wir Gott in rechter Weise als Vater anreden können. Ich muss Ihnen das heute Abend nicht vorlesen, dieses Gebet, das Jesus uns gelehrt hat, kennen wir alle auswendig.
Aber welche Stellung hat eigentlich dieses Vaterunser im Verhältnis zu den vielen anderen Gebeten, die man vor Gott bringen kann? Wie steht es im Verhältnis zu den vielen Gebeten, die wir tagtäglich an Gott richten? Was bedeutet das Vaterunser im Verhältnis zu den vielen Gebeten um Gesundheit, um heile Beziehungen, um beruflichen Erfolg, um Bewahrung, um Fahrten und Reisen? Im Verhältnis zu den Gebeten für unsere Kinder und für den Frieden in der Welt?
Welches Verhältnis hat das Vaterunser zu den vielen Gebeten, die wir täglich sprechen, wenn wir Gott für bestimmte Dinge bitten? Es gibt nicht viel, was wir täglich vor Gott bringen, das im Vaterunser nicht vorkommt. Aber was bringt denn das Vaterunser?
Ich hatte im vergangenen Jahr eine spannende Erfahrung, ein interessantes Erlebnis. Es war eine Situation, in der ich mit manchem Ärger und Frust zu kämpfen hatte. Es gab einen Konflikt, bestimmte Dinge liefen nicht so, wie sie laufen sollten. Ich kam an einem bestimmten Punkt nicht weiter und war ratlos. Ich war verärgert, wusste nicht, was ich machen sollte, war müde und überarbeitet.
Mitten in dieser Situation musste ich eine Predigt vorbereiten. Vielleicht können Sie sich vorstellen: Wenn man voller Ärger, Wut und Frust ist, wenn negative Gefühle da sind, dann kann man nicht kreativ sein, erst recht nicht geistlich kreativ. Ich saß am Schreibtisch, und es ging nichts. Eine richtige emotionale Blockade. Die Wut war stärker als jede gute Idee zu einem Bibeltext.
Das können Pfarrer ja machen, müssen Pfarrer auch machen. Ich sagte mir dann: Das hat jetzt keinen Wert, hier am Schreibtisch in die Tischkante zu beißen. Ich muss jetzt einen Spaziergang machen. Ich habe da so meine Runde, und auf dieser Runde komme ich immer an einem Kruzifix vorbei. Irgendwelche katholischen Geschwister haben da in der Nähe, wo wir wohnen, ein Kruzifix aufgestellt. Sehr schön! Immer, wenn ich da vorbeikomme, mache ich einen Stopp, lege eine kurze Gebetspause ein und bete dann auch das Vaterunser.
In dieser Situation dachte ich: Was hat jetzt eigentlich dieses Vaterunser mit meinem Problem zu tun? Ich habe Ärger mit einem Mitarbeiter, bin sauer, wütend und frustriert. Aber was hat das Vaterunser jetzt mit meiner Situation zu tun, in der ich stehe? Da habe ich ein paarmal immer und immer wieder das Vaterunser gebetet: Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme.
Im ersten Moment dachte ich: Es hat gar nichts mit mir zu tun, überhaupt nichts mit mir. Im nächsten Moment dachte ich: Interessant, dieses Gebet, diese Bitten zwingen mich, von meinem Problem wegzusehen. Ich war den ganzen Morgen fokussiert auf diesen Ärger, auf dieses Problem. Ich habe an dem Ding herumgemacht: Wie kriege ich das nach vorne, wie kriege ich das gelöst, wie kriege ich das anders hin, wie schaffe ich eine Schneise in diesen Dschungel?
Und jetzt nötigt mich Jesus, ein Gebet zu beten, das erst einmal überhaupt gar nichts mit meinem Problem zu tun hat. Könnte es sein, dass das gut so ist? Dass mein Blick erst einmal weggezwängt, weggezerrt wird von dem Problem, das mich gerade so beschäftigt, und hinblicken lässt auf den, mit dem ich rede? Geheiligt werde dein Name – missbrauche Gott nicht, Volker Gäckle, damit er jetzt unbedingt das Problem vorrangig behandelt, das dich beschäftigt. Vielleicht ist gar nicht das vorrangige Problem dein Ärger. Vielleicht ist viel wichtiger und viel größer, dass du deinen Blick jetzt auf Gott richtest, mit dem du redest.
Dass sein Reich komme, ist wichtiger, als dass dein Problem gelöst wird. Dein Wille geschehe. Ich habe immer herumgemacht, wie mein Wille geschieht, und dachte die ganze Zeit: Ja, mein Wille wird schon identisch sein mit dem Willen Gottes. Wie kann es anders sein, Volker Gäckle betet hier ja schließlich? Nein, da wird mein Wille noch einmal in Frage gestellt, relativiert und unter den Willen Gottes gestellt. Man beginnt nachzudenken: Vielleicht ist das, was ich will, gar nicht das, was Gott will in diesem Moment.
Das ist ja oft der klassische Kurzschluss in unserem Leben, dass wir meinen, das, was ich will, muss auch das sein, was Gott will. Nein, im Beten des Vaterunsers wird jeden Tag unser eigener Wille in Frage gestellt. Die Fragen, mit denen wir umgehen, bekommen eine neue Leichtigkeit, weil noch gar nicht ausgemacht ist, dass das, was wir an diesem Tag wollen, auch das ist, was Gott an diesem Tag will. Da wird etwas in die Schwebe gehoben.
Unser tägliches Brot gib uns heute. Ich habe gemerkt, ich mache an einem Punkt herum, wo ich auch mit Gott ärgerlich bin, weil er mir im Moment keinen Ausweg aus dieser Situation gibt. Weil er mir keinen Schlüssel für dieses Problem gibt und mich sitzen lässt in dieser schwierigen Lage. Um dann zu merken: Dieser Gott hat mir heute Morgen schon mein tägliches Brot zum Frühstück gegeben. Und er wird es mir zum Mittagessen auch wiedergeben. Aller Wahrscheinlichkeit nach werde ich auch am Abendbrottisch nicht vor einem leeren Tisch sitzen.
Dieser Gott antwortet ständig auf mein Gebet, indem er mir den Tisch bereitet. Er antwortet auf meine Bedürfnisse, indem er mich mit dem Elementaren versorgt, das ich brauche. Wenn dieses Problem nicht gelöst wird, werde ich vielleicht noch einmal ärgerlich ins Bett gehen, und morgen vielleicht auch. Wenn ich aber nichts zu essen habe, werde ich hungrig ins Bett gehen. Nach ein paar Tagen wird es mir sehr schlecht gehen. Aber Gott antwortet auf meine elementaren Bedürfnisse. Er gibt mir zu essen.
Danke, Herr, dass du meine Gebete erhörst und mir zu essen gibst, auch wenn mein Problem im Moment noch keine Lösung gefunden hat.
Vergib uns unsere Schuld. Eigentlich hat auch der andere Schuld, war ich überzeugt, zumindest ganz fest. Jetzt muss ich beten: Vergib mir meine Schuld. Da wird mein Blick von dem Ärger und dem Zorn auf den anderen weggewendet auf mein Problem. Das tut das Vaterunser. Gott zwingt mich, auf meine Schwierigkeiten zu schauen, auf meine Grenzen, auf meine Schuld.
Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern – aber jetzt doch nicht, doch jetzt: wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Dem Typen, der mir gerade das Leben so schwer macht, ja, auch dem. Und Sie merken, wie das Vaterunser mitten in den ganz praktischen Situationen, da wo wir zunächst mit diesem Gebet gar nichts anfangen können, uns eine neue Sicht aufzwingt, eine neue Sicht auf die Dinge, mit denen wir tagtäglich umgehen.
Auf einmal dachte ich: Da, wo ich dachte, beim anderen muss der Schlüssel liegen, um unser Problem zu lösen, vielleicht liegt der Schlüssel doch bei mir – wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.
Und dann: Für uns nicht in Versuchung, die Versuchung, dem anderen den ganzen Ärger über den Kopf zu stülpen, ihm den Kopf zu waschen, die Versuchung, so eine Situation vielleicht mit einem massiven Schlag zu lösen. Nein, für uns nicht in die Versuchung, Dinge zu sagen und zu tun, die etwas schlimmer machen, als es ist.
Für uns nicht in die Versuchung, die Dinge mit Gewalt durchzusetzen, die wir im Moment nicht lösen können, sondern erlöse uns von dem Bösen.
Wir beten ja manchmal in so einer Situation den Satz: Erlöse uns von dem blöden Menschen, mit dem wir zusammenleben müssen, mit dem wir vielleicht zusammenarbeiten müssen, mit dem wir zusammen in der Gemeinde sitzen, im Kirchengemeinderat oder im Mitarbeiterkreis. Jesus lehrt uns nicht beten: Erlöse uns von den dummen Menschen. Er sagt: Erlöse uns von dem Bösen.
Jesus lehrt uns nicht beten: Erlöse uns von schlimmen Krankheiten. Er sagt: Erlöse uns vom Bösen. Jesus bringt und zwingt uns eine neue Sicht auf unsere Verhältnisse.
Das tut das Vaterunser: Es lehrt uns richtig beten. Der Ausblick und der Aufblick: Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit.
Wir werden am Anfang des Vaterunsers zu einem Aufblick gezwungen: Geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe. Die großen Dinge Gottes reißen mich los von dem Blick auf meine kleinen Probleme.
Am Ende darf ich wieder aufblicken: Der Gott, der mich so beten lehrt, wird am Ende das Reich haben. Er wird mich in die Herrlichkeit führen. Da wird meine ganze Aufmerksamkeit wieder auf ihn gerichtet sein.
Das tut Gott, indem er mich recht beten lehrt.
Das Vaterunser ersetzt nicht alle unsere Gebete, aber es justiert alle unsere Gebete. Es richtet unsere Gebete wieder auf den aus, der der Anfänger und Vollender unseres Glaubens ist, das A und das O.
Unsere Gebete werden eingeordnet in eine größere Geschichte als unsere eigene Geschichte. Wir merken vor allem durch das Vaterunser: Wir sind ein Teil seiner Geschichte, ein Teil seiner großen Geschichte. Und die ist immer größer als meine kleine Geschichte und die kleinen Geschichten meines Alltags und Lebens.
Die Wirkung des Vaterunsers als Modell für das rechte Beten lässt sich mit den berühmten Worten von Marie Schmalenbach umreißen. Viele kennen vielleicht dieses Lied. In der letzten Strophe heißt es: Ewigkeit in die Zeit, strahle hell hinein, dass uns werde klein das Kleine und das Große groß erscheine, selige Ewigkeit.
Das Vaterunser lehrt uns, den Blick wieder neu auszurichten, zu justieren: Dass uns werde klein das Kleine. Mein Problem war ein kleines Problem. Wenn man merkt, dass das, was einen den ganzen Morgen beschäftigt hat, das einen emotional so aufgewühlt hat, woran man herumgemacht hat, was einen vielleicht auch nicht schlafen lässt, im Licht des Vaterunsers etwas Kleines ist.
Dass uns werde klein das Kleine und dass das, was uns das Vaterunser beten lehrt, das wahre Große ist: Dass Gottes Name geheiligt wird, dass sein Reich kommt, dass sein Wille geschieht, dass wir Vergebung bekommen für unsere Schuld, nicht in Versuchung geführt werden und erlöst werden von dem Bösen.
Das sind die großen Dinge, gegenüber denen alle anderen Dinge klein werden.
Das Vaterunser lehrt uns richtig beten.
Von daher lassen wir all unser Beten immer wieder von diesem einen Gebet umklammert sein. Es ersetzt die anderen Gebete nicht. Wie gesagt, vor Gott hat alles seinen Platz, was uns Not macht. Aber im Vaterunser werden die Dinge ins rechte Licht gerückt, richtig ausgerichtet und bekommen ihren richtigen Ort.
Da sonst werde das Kleine und das Große groß erscheinen.
Die Einladung zum erwartungsvollen Beten
Und schließlich lehrt uns Jesus in der Bergpredigt, erwartungsvoll zu beten – das erwartungsvolle Beten.
Matthäus 7,7-11 sagt: Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopft an, so wird euch aufgetan. Denn wer da bittet, der empfängt, und wer da sucht, der findet, und wer da anklopft, dem wird aufgetan. Wer ist denn unter euch Menschen, der seinem Sohn, wenn er ihn bittet, um Brot einen Stein biete, oder wenn er ihn bittet, um einen Fisch, eine Schlange biete? Wenn nun ihr, die ihr doch böse seid, euren Kindern gute Gaben geben könnt, wie viel mehr wird euer Vater im Himmel Gutes geben denen, die ihn bitten?
Das ist die Anweisung für das erwartungsvolle Beten: „Bittet, so wird euch gegeben.“ Um dieses Wort zu verstehen, ist eines wichtig: Es geht hier nicht um eine Verheißung im Sinne einer Garantieerklärung, dass wer bittet, auch immer bekommt. Nein, es handelt sich um ein Sprichwort, eine sogenannte Sentenz. Der Sinn ist nicht, dass jedem, der bittet, immer gegeben wird, dass jeder, der sucht, immer findet, und so weiter. Der Sinn ist vielmehr umgekehrt: Wer nicht bittet, dem wird ganz grundsätzlich nichts gegeben. Wer nicht um Einlass bittet, dem kann nicht aufgemacht werden, weil drinnen keiner weiß, dass jemand hinein will. Wer nicht sucht, der wird ganz grundsätzlich nicht finden, weil er überhaupt nicht weiß, was er sucht. Was soll er denn finden, wenn er nichts sucht, weil er ja gar nichts finden will?
Wir würden Jesu Wort hier falsch verstehen, wenn wir es als eine Erhörungsgarantie für jedes Gebet missverstehen würden. So ist es nicht gesagt. Was Jesus hier sagen will, ist etwas anderes: Unser himmlischer Vater ist ein großzügiger Vater, ein spendabler Vater, ein Vater, der gerne gibt, aber auch ein Vater, der gebeten sein will.
Jesus selbst hat diese Bitten immer wieder erhört. Da traten mafiöse Sünder und Betrüger im Tempel vor Gott und stammelten diese ganz schlichten Worte: „Gott, sei mir Sünder gnädig.“ Und Jesus sagt: „Der ist in Ordnung, der geht gerecht weg,“ im Unterschied zu dem Pharisäer, der ganz anders betet.
Oder da ruft ein blinder Bettler am Straßenrand Jesus zu: „Sohn Davids, erbarme dich meiner!“ Ohne Hemmung betet er mit völlig falschem liturgischem Tonfall, aber Jesus geht hin, erhört sein Gebet und heilt ihn.
Da bittet ihn ein sterbender Tschecher am Kreuz mit röchelnder, bluterstickter Stimme am Ende seines Lebens um Erbarmen, und Jesus verspricht ihm mit gleicher Stimme das Paradies.
Bittet, so wird euch gegeben. Jesus ermutigt uns zum Bitten. Wer nicht bittet, der empfängt auch nicht. Deshalb bitten!
Martin Luther hat es vorgemacht: Als ein Mitarbeiter, Philipp Melanchthon, einmal todkrank im Bett lag, schrieb er später, dass er im Gebet um ihn gerungen habe und sogar gedroht habe, wenn er sterben würde, würde er unserem Herrgott den Sack vor die Füße werfen.
Ja, deshalb ist Melanchthon siebzehn Jahre älter geworden als Luther, der sehr unverschämt gebetet hat. War es unverschämt? Ja, es war unverschämt. Aber genau zu solchem unverschämten Bitten will uns Gott ermutigen.
Noch einmal Martin Luther, von dem man im Blick aufs Beten unendlich viel lernen kann: Er sagt in einer Predigt einmal: „Ihr gleicht alle dem Toren, der beim König einen Wunsch frei hat, und ihr verlangt eine Bettelsuppe, ihr verlangt eine Bettelsuppe, obwohl ihr beim König einen Wunsch frei habt.“
„Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopft an, so wird euch aufgetan.“
Jetzt kennt jeder von uns aber auch die Erfahrung von unerhörten Gebeten. Wir kennen Türen, die nicht geöffnet wurden. Wir kennen Krankheiten, die nicht geheilt wurden. Wünsche, die nicht in Erfüllung gegangen sind.
Und wer das Neue Testament aufmerksam liest, merkt sogar, dass Jesus selbst und auch Paulus diese Erfahrung kennen: dass Gebete nicht erhört worden sind.
Jesus bittet in Gethsemane: „Vater, wenn es möglich ist, lass diesen Kelch an mir vorübergehen.“ Der Kelch ist nicht an ihm vorübergegangen.
Paulus bittet dreimal um die Heilung einer Krankheit, und er bekommt nur das Wort: „Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“
Auch Jesus und Paulus kennen die Erfahrung des unerhörten Gebets.
Deshalb lohnt es sich, hier noch einmal genau hinzuhören, was Jesus in diesem zweiten Bild sagt: „Wo ist unter euch ein Vater, der seinem Sohn, wenn er ihn um einen Fisch bittet, eine Schlange für den Fisch gibt?“
Was heißt das? Es heißt zunächst einmal, dass Gott uns nie etwas gibt oder uns nie etwas widerfahren lässt, das schlecht ist. Wir bitten um einen Fisch, Gott wird uns nie eine Schlange geben.
Es heißt hier nicht, dass wir immer dann auch einen Fisch bekommen. Aber es heißt, dass wir keine Schlange bekommen, wenn wir um einen Fisch bitten.
Paulus schreibt im Römerbrief: „Denen, die Gott lieben, denen werden alle Dinge zum Besten dienen.“
Wir bekommen keine Schlange, wenn wir um einen Fisch bitten. Gott führt uns nicht an der Nase herum, er spielt uns keine bösen Streiche.
Aber es heißt auch nicht, dass wir immer einen Fisch bekommen, wenn wir um einen Fisch bitten. Auch wenn wir möglicherweise den Eindruck haben, dass Gott seinen Schabernack mit uns spielt und Schmerz auf unser Leben häuft, meint Gott es immer im Letzten gut mit dem, was er uns gibt – so wie es ein Vater immer gut meint mit seinem Kind.
Jesus sagt nun aber nicht, dass wenn der Sohn den Vater bittet, er immer bekommt, was er will. Er sagt nur: Wir bekommen keine Schlange, wenn wir um einen Fisch bitten.
Unter allen Umständen gibt uns Gott etwas. In allem, was wir bekommen, begegnet uns der Vater.
Aber es steht nicht da, dass er immer exakt das gibt, worum wir bitten. Gott erhört unsere Gebete, aber oft anders, als wir es uns wünschen oder erhoffen.
Im Vaterunser lehrt uns Jesus zu beten: „Dein Wille geschehe.“ Und mit dieser Klausel hat auch Jesus gebetet: „Vater, wenn es möglich ist, dann lass diesen Kelch an mir vorübergehen, aber nicht mein, sondern dein Wille geschehe.“
Das ist rechtes Beten: dass wir Gott die Freiheit lassen, unser Gebet so oder anders zu erhören. Denn wir wenden uns im Glauben an den Gott, von dem wir wissen, dass sein Horizont immer unendlich viel größer ist als unser Horizont.
Noch einmal Martin Luther: Er sagt: „Wenn nicht geschieht, was wir wollen, dann wird etwas Besseres geschehen.“
Es gibt ein Buch von Dorothy Wilson über die indische Ärztin Mary Verghese. Diese junge indische Ärztin erlitt als junge Christin bei einem Busunfall eine Querschnittslähmung und saß fortan im Rollstuhl. Ihr ganzer Lebenstraum war zerstört. Sie wollte Ärztin werden, Menschen helfen und vielen Menschen Gutes tun in diesem riesigen Land Indien, wo so viel Armut herrscht.
Dann das: querschnittsgelähmt im Rollstuhl sitzen.
In einem langen Ringen findet sie ein Ja zu ihrer Behinderung. Sie kann fortan im Rollstuhl sitzen, Spezialoperationen bei Schwerkranken durchführen und erlebt so ein erfülltes und segensreiches Leben.
Der Titel dieses Buches, das Dorothy Wilson über diese Ärztin geschrieben hat, ist so etwas wie der Titel ihres Lebens geworden: „Um Füße bat ich, und er gab mir Flügel.“
Wenn nicht geschieht, was wir wollen, sagt Luther, dann wird etwas Besseres geschehen.
Wenn wir um einen Fisch bitten, wird uns Gott keine Schlange geben, auch wenn das, was er uns gibt, vielleicht nicht unbedingt ein Fisch ist.
Das ist Gott. Und wer sein Leben im betenden Dialog mit Gott führt, wird mehr und mehr Gott und sich selbst verstehen lernen.
Das Gebet ist ein Grundkurs der Gotteslehre und der Selbsterkenntnis. Im Gebet machen wir Erfahrungen mit Gott und mit uns selbst. Wir lernen zu verstehen.
Und im Gebet bekomme ich auch die Kraft, über die offenen Fragen meines Lebens Gottes gute Hand sehen zu lernen.
Das war dann am Ende schon das Thema mit diesem jungen Mann, von dem ich am Anfang erzählt habe. Er hat irgendwann begriffen, dass Gebet kein Automatismus ist, bei dem man eine Münze in einen Automaten wirft und unten kommt das heraus, was man will.
Sondern dass das Gebet der Beginn eines Weges ist mit einem himmlischen Vater, der mich lehrt, mein Leben unter einem weiteren Horizont zu sehen, als ich ihn im Moment begreifen kann.
Insofern steht am Ende dieses Abends die Einladung: Gehen Sie wieder erwartungsvoll ans Beten und erwarten Sie vor allem, dass Sie in Ihrem Beten den Vater im Himmel neu kennenlernen, tiefer kennenlernen, besser kennenlernen. Seien Sie sicher, Sie werden auch sich selbst besser kennenlernen – in diesem Gespräch mit Gott.
Schlussgebet
Ich danke Ihnen herzlich fürs Zuhören. Zum Abschluss möchte ich ein Gebet sprechen.
Barmherziger Vater im Himmel, wir haben eine lange Geschichte mit Dir. In dieser Geschichte ist vieles nicht so verlaufen, wie wir es uns am Anfang vorgestellt hatten. Doch auf diesem Weg und in dieser Geschichte haben wir Dich besser kennengelernt.
Dabei haben wir auch vieles entdeckt, wodurch Du uns reicher beschenkt hast, als wir es uns je hätten vorstellen können. Gib uns geistliche Augen und ein erleuchtetes Herz, damit wir immer mehr erkennen, wie Du unser Beten immer wieder erhörst und uns mit Dingen beschenkst, die wir nicht einmal im Traum hätten erbitten können.
Schenke uns gute Erfahrungen, neues Vertrauen und neue Zuversicht. Lass uns tagtäglich immer wieder neu mit Dir in Gemeinschaft treten und erwartungsvoll sowie froh mit Dir reden. Amen.