Einführung und Vorstellung der Internationalen Hochschule Liebenzell
Sein Ziel gefunden hat wahrscheinlich auch Volker Gekle. Er war lange Jahre Vorsitzender des TVM-Landesverbandes, Studienleiter im Albrecht-Bengel-Haus in Tübingen, dann Leiter des theologischen Seminars der Liebenzeller Mission und ist seit letztem Jahr auch Professor an der Internationalen Hochschule Liebenzell.
Eine internationale Hochschule in einem kleinen Schwarzwaldort – was müssen wir uns darunter vorstellen? Volker, erklären Sie uns das bitte.
Herr Präsident, verehrte Kolleginnen und Kollegen! Vielen Dank für die Einladung und einen wunderschönen guten Morgen Ihnen allen!
Eine internationale Hochschule ist aus einem theologischen Seminar hervorgegangen. Wir wurden letztes Jahr vom Wissenschaftsrat der Bundesrepublik Deutschland akkreditiert und dürfen uns jetzt Hochschule nennen. Wir bieten drei Bachelor-Studiengänge an: einen in Theologie, einen in Gemeindepädagogik und einen in Theologie und Sozialarbeit im interkulturellen Kontext. Dieser letzte Studiengang ist unser Renner.
Wer sich dafür interessiert: Wir haben auch einen Stand hier. Wir bieten jungen Menschen eine Perspektive, die sich theologisch, sozial und interkulturell fit machen wollen und eine Ausbildung sowie Berufsperspektive in diesem Bereich suchen.
Darüber hinaus haben wir noch einen Masterstudiengang in Theologie, der allerdings erst nach dem Bachelorstudium beginnt.
Aber heute sind wir hier, um über dieses Thema nachzudenken.
Das Bild der Verlorenheit am Beispiel von Jim O'Neill
Verloren ist, wer sein Ziel nicht findet. Jim O'Neill ist 65 Jahre alt, ein erfolgreicher Selfmade-Mann. Er besitzt eine Firma und ein kleines Sportflugzeug vom Typ Cessna. Die Fliegerei ist seit 18 Jahren sein großes Hobby. Dabei entspannt er sich und schaltet ab. Nach dem Stress des Alltags steigt er in seine Cessna und fliegt seine Runden über England.
Auch an diesem Tag ist Jim O'Neill in seiner Cessna unterwegs. Doch an diesem Tag kommt alles anders als gedacht. Jim O'Neill ist allein an Bord, das Wetter ist fantastisch, traumhaft, und die Sicht atemberaubend. Plötzlich passiert das völlig Unerwartete: In seinem Gehirn platzt eine Ader, und Blut strömt hinein. Dieses Blut baut Druck auf.
Er verliert nicht das Bewusstsein, nicht sein Sprachvermögen, und er wird nicht verrückt. Nein, das Blut drückt auf die schwächste Stelle in seinem Gehirn – den Sehnerv. Innerhalb einer Minute erblindet Jim O'Neill in seiner Cessna in einer Flughöhe von 1700 Metern.
Jim O'Neill, der erfolgreiche Unternehmer und erfahrene Pilot mit 18 Jahren Flugerfahrung, muss sich jetzt bei vollem Bewusstsein eingestehen: Hoppla, ich habe ein Problem. Ich sitze allein in meinem Flugzeug, bin 1700 Meter hoch und sehe nichts mehr. Das ist peinlich. Und ich habe ein Problem, das ich nicht mehr selbst lösen kann.
Er, der sich immer selbst geholfen hat, muss sich eingestehen: Ich brauche Hilfe, ohne auch nur die blasseste Ahnung zu haben, wie man ihm jetzt noch helfen könnte. Jim O'Neill tastet blind nach seinem Funkgerät und setzt einen Notruf ab.
Als ein Fluglotse auf dem Stützpunkt der britischen Royal Air Force den Notruf hört, schlägt er Alarm. Krankenwagen und Löschfahrzeuge werden alarmiert und machen sich bereit. Der Flughafen wird auf Rettungsmodus, auf Notmodus geschaltet.
Man versucht, Jim O'Neill über das Funkgerät Instruktionen zu geben. Aber was will man ihm für Instruktionen geben? Kein Fluglotse dieser Welt kann einem blinden Piloten erklären, wie er jetzt landen soll. Man macht sich auf das Schlimmste gefasst.
Jim O'Neill kann mit dem Autopiloten noch ein paar Schleifen drehen, das ist kein Problem. Aber irgendwann wird seinem Flugzeug der Sprit ausgehen. Und was dann passiert, ist jedem klar – allen, restlos allen, auch Jim O'Neill.
Verlorenheit als geistliche Realität und die Bedeutung des Evangeliums
Was Jim O'Neill hier passiert ist, ist ein Bild für das, was die Bibel mit Verlorenheit beschreibt. Ein Mensch ist dann verloren, wenn er sein Ziel nicht mehr finden kann. Ein Mensch ist verloren, wenn er nicht mehr nach Hause kommen kann.
Das Evangelium von Jesus Christus ist eine Botschaft genau für solche Menschen. Es richtet sich an verlorene Menschen, die den Weg nach Hause nicht mehr finden. Für diejenigen, die meinen, sie schaffen es alleine, macht das Evangelium von Jesus Christus keinen Sinn – überhaupt keinen. Es ist eine Botschaft für die Jim O'Neills dieser Welt.
Diese Botschaft macht nur für den Sinn, der verloren ist. Menschen, die sich nicht als verloren ansehen, werden das Evangelium nie verstehen können und es auch nicht annehmen. Wer sich nicht als verlorenen Menschen sieht, wird nie verstehen, warum er das Evangelium braucht, warum er Vergebung benötigt, warum er das Kreuz braucht und warum er Jesus braucht.
Wir stehen hier in einer besonderen Situation, geprägt von unserer abendländisch-europäischen Kultur. In Europa herrscht ein kultur- und völkerübergreifender Konsens, dass wir keine verlorenen Menschen sein wollen. Die allermeisten Menschen auf diesem alten Kontinent, auf dem der christliche Glaube seine ersten Wurzeln geschlagen hat, verstehen nicht, warum sie überhaupt gerettet werden müssten. Sie akzeptieren es nicht, dass sie verloren sind.
Wenn wir über die Krise des Glaubens, die Krise der Kirchen und die Krise der Christenheit in Europa sprechen, dann ist das ein entscheidender, vielleicht sogar der entscheidende Punkt. Wenn Menschen sich nicht als verloren und rettungsbedürftig sehen, dann macht die Botschaft von einem gnädigen Gott, der Sünder retten möchte, keinen Sinn mehr.
Denn dann kann sich ja jeder selbst rechtfertigen und selbst retten, weil er im Prinzip ein guter Mensch ist und das schaffen kann. Dann hat er vielleicht Macken, vielleicht Ecken und Kanten, vielleicht Missverständnisse in seinem Leben, aber keine Sünde mehr. Das ist die Situation, in der wir heute auf diesem alten Kontinent stehen.
Wir bemühen uns als Christen intensiv, das Evangelium relevant, attraktiv, plausibel und verständlich zu machen und den Menschen nahezubringen. Mit unglaublicher Kreativität – ich bin begeistert und fasziniert – schaffen wir attraktive Gottesdienste, Veranstaltungen und Angebote, damit Menschen merken: Das Evangelium ist relevant.
Ich bin sehr beeindruckt, wie viel Engagement und Kreativität darin steckt. Aber gelegentlich verlieren wir eine wichtige Tatsache aus den Augen: Das Evangelium ist eine Botschaft für die Jim O'Neills dieser Welt. Für alle anderen – für die Gerechten, die Nichtverlorenen, die Nichtsünder – muss diese Botschaft irrelevant, banal und bedeutungslos klingen.
Da können wir sie noch so schön verpacken und attraktiv gestalten, wie wir wollen. Das Evangelium ist eine Botschaft für verlorene Sünder. Für alle anderen muss sie bedeutungslos sein. Und wenn ein Mensch nicht zu dieser Erkenntnis gelangt, dann können wir uns anstrengen, wie wir wollen – das Evangelium wird ihm in seinem Leben nicht als relevant erscheinen.
Verlorenheit aus biblischer Perspektive: Das Gleichnis vom verlorenen Schaf
Ich möchte heute Morgen mit euch über das Thema „Verloren sein“ nachdenken. Was bedeutet es, verloren zu sein? Wie können wir das besser verstehen? Und wenn wir es besser verstanden haben, wie können wir es anderen vielleicht noch besser erklären?
Ich möchte dieses Thema aus einer ganz bestimmten Perspektive betrachten, die Jesus uns einmal eröffnet hat, in einer Geschichte, die er erzählt hat. Diese Geschichte steht im Lukas Kapitel 15. Dort heißt es in den Versen 1 bis 7:
„Es nahten sich ihm, gemeint ist Jesus, aber Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. Und die Pharisäer und Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünde an und isst mit ihnen. Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach: Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat, und wenn er eins von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und dem Verlorenen nachgeht, bis er es findet? Wenn er es gefunden hat, so legt er es sich auf die Schultern voller Freude. Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir, ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war. Ich sage euch: So wird es Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über 99 Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.“
Auch in dieser Geschichte geht es um ein Schaf, das keine Möglichkeit mehr hat, zurückzufinden zu seiner Herde. Es hat keine Chance, zu seinem Ziel zu kommen – dem Ziel, wo es die Erfüllung seines Lebens findet, wo es hingehört und seiner Bestimmung gerecht werden kann. Das macht es zu einem verlorenen Schaf.
Nun ist eines wichtig: Seine Verlorenheit besteht nicht in einer moralischen Verwahrlosung, nicht in einer unheilbaren Suchtkrankheit und auch nicht in theologischer Verstockung. Sondern schlicht und ergreifend in der Unfähigkeit, nach Hause zu kommen. Das ist der erste Punkt, auf den es ankommt.
Wir machen manchmal den Fehler, Verlorenheit als etwas Moralisches zu begreifen. Wir verstehen sie als moralische Verlorenheit und denken, die verlorenen Schafe seien die schwarzen Schafe, die Problemkinder unserer Gesellschaft. Ein Mensch, vielleicht ein junger Mensch, ist auf die schiefe Bahn geraten, irgendwann landet er im Drogensumpf, im Zuhältermilieu, in der Kleinkriminalität oder vielleicht sogar im Gefängnis. Dann sprechen wir von Verlorenheit, und da gibt es auch einen gesellschaftsübergreifenden Konsens.
Wenn wir so denken, dann haben wir die Geschichte, die Jesus erzählt hat, moralisch eingedampft. Wir haben ihr den Zahn gezogen und übersehen etwas sehr Wesentliches. Das war ja der Punkt in diesem Gespräch Jesu mit den Pharisäern und Zöllnern.
Für die Pharisäer und Zöllner waren die Sünder nicht alle. Es war eine ganz bestimmte Gruppe, nämlich diese Zöllner, diese Prostituierten, diese gestrandeten Leute der damaligen Gesellschaft. Die, die auf die schiefe Bahn geraten waren und sich moralisch verirrt hatten, das waren die Verlorenen.
Das bedeutete aber auch, dass die Pharisäer und Schriftgelehrten nicht dazu gehörten. Sie waren „clean“, das waren die Guten. Die Schlechten hatten sich verirrt, sie waren noch auf dem rechten Weg.
Ich glaube, das ist ein ganz entscheidender Punkt, der es vielen Menschen heute unmöglich macht, sich als verloren zu verstehen. Sie denken: „Ich möchte nicht zu den Schlechten gehören, ich möchte nicht in der Ecke stehen.“ Es nervt sie, dass Christen sich dann automatisch in der anderen Ecke sehen und sich als die Besseren verstehen. „Ich will doch nicht schlechter sein als die.“
Aber in all diesen Gleichnissen, die Jesus in Lukas 15 erzählt – dem Gleichnis vom verlorenen Schaf, vom verlorenen Groschen und vom verlorenen Sohn – macht er uns eines deutlich: Verlorenheit ist etwas viel Tieferes als moralische Verwahrlosung.
Das ist nicht der Punkt. Verlorenheit hat nur sehr indirekt etwas mit moralischer Verwahrlosung zu tun. Verlorenheit fängt nicht dort an, wo einem Menschen die Kontrolle über sein Leben entgleitet.
Wenn es so wäre, dann wären nur Herr Zacchaeus, die Frau am Jakobsbrunnen oder der Dieb am Kreuz verloren gewesen – Menschen, deren Leben irgendwie schiefgegangen ist.
Nein, Verlorenheit fängt viel früher und viel tiefer an.
Wenn ein Schaf sich verirrt, ist es kein schlechtes Schaf. Es ist nur ein verirrtes Schaf. Kein böswilliges, kein aufrührerisches, kein renitentes und kein verschlagenes Schaf – schlicht und ergreifend ein verirrtes Schaf. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Die Pointe in diesen Versen ist ja nicht nur, dass die Zöllner und Sünder verlorene Schafe sind, sondern auch ihr, die Pharisäer und Schriftgelehrten, die meinen, sie wären es nicht. Ihr seid eigentlich auch verlorene Schafe, auch wenn das auf höchsten moralischen Ebenen abläuft.
Verloren ist, wer sein Ziel nicht mehr findet – ganz egal, wie gut oder schlecht er moralisch dasteht.
Jim O’Neill ist so ein verlorenes Schaf. Wer in 1700 Metern Höhe in seiner Cessna erblindet, der ist verloren, wenn er sein Ziel nicht mehr findet.
Ich nehme an, Jim O’Neill war ein anständiger Mensch, moralisch nicht besser oder schlechter als andere. Aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, er kommt da nicht mehr runter. Er schafft es nicht mehr, seinen Zielflughafen zu finden.
Und das ist der Punkt.
Die wahre Ursache der Verlorenheit und das biblische Verständnis von Sünde
Ein Mensch ist dann verloren, wenn er sein Ziel nicht mehr finden kann, wenn er sich verirrt hat oder erblindet ist – ganz egal, wie rechtschaffen, edel, hilfreich und gut er ist. Er kommt nicht mehr heim.
Ein Mensch ist dann verloren, wenn er nicht mehr zu Gott zurückfindet, dem Ausgangs- und Zielpunkt seines Lebens. Moralische Verwerfungen in einem Leben sind nie der Auslöser von Verlorenheit, sondern immer nur Symptome. Wenn Menschen habgierig, ehrsüchtig oder arbeitssüchtig werden, wenn sie sexsüchtig oder pornosüchtig sind, wenn ihr Leben irgendwie entgleitet – das sind immer nur Symptome von Verlorenheit, aber niemals die Auslöser davon.
Die Ursache und der Auslöser ist immer, dass ein Mensch ganz plötzlich oder ganz langsam den Kontakt mit Gott verliert oder diesen Kontakt noch nie hatte. Wenn ein Mensch nicht mehr in Berührung ist mit seinem himmlischen Vater, dem Ursprung und Ausgangspunkt seines Lebens, und nicht mehr sagen kann, wie er dorthin heimkommen kann, dann ist er verloren.
Es gibt auf dieser Welt Millionen hochanständiger, ehrlicher, aufrechter und hilfsbereiter Menschen, die genauso wenig wie Jim O’Neill in 1 Meter Höhe ihr Ziel finden können. Auch bei ihnen geht der Sprit des Lebens langsam aus, und sie haben keine Ahnung, wie sie heil heimkommen.
Das meint die Bibel, wenn sie das Wort „Sünder“ gebraucht. Die Bibel meint mit diesem Begriff Sünder das griechische Wort für Sünde, das eigentlich „Zielverfehlung“ bedeutet. Sünde ist Zielverfehlung. Das Wort kommt aus dem Bereich des Bogenschießens. Ihr kennt das: Immer wenn Olympia ist, sieht man ein paar Bogenschützen. Ein Sünder ist genau genommen jemand, der mit Pfeil und Bogen sein Ziel verfehlt. Er trifft die Zielscheibe nicht, er schießt daneben.
Das ist keine individuelle oder moralische Schuld. Er ist deswegen kein schlechter Mensch. Es ist nur die schlichte Tatsache: Er hat nicht getroffen, er hat sein Ziel verfehlt.
Ein verlorener Sünder ist nicht zuerst irgendein Zuhälter, Mafiaposs oder Kinderschänder, sondern schlicht und ergreifend ein Mensch, der sein Ziel verfehlt hat, der das Ziel seines Lebens nicht mehr findet. Und das gilt eben auch für die Pharisäer und Schriftgelehrten, für die Anständigen und für die vollen Menschen dieser Welt.
Das ist nun eine Erfahrung, mit der viele Menschen tatsächlich etwas anfangen können: Man strampelt sich ab, um bestimmte Ziele zu erreichen, und verpasst sie immer wieder. Das kennen viele. Man sucht das Glück und verpasst es immer wieder. Es entgleitet einem wie Sand, der zwischen den Fingern zerrinnt.
Jeder, der in irgendeiner Form abhängig war – abhängig von Drogen, Alkohol, Menschen oder Bildern – hat eine Ahnung davon, was es heißt, nicht mehr selbst aus dieser Strudel-Abhängigkeit herauskommen zu können. Diese Erfahrung verpasster Ziele und die Unfähigkeit, sie selbst zu erreichen, kennen viele Menschen.
Und diese Frage, was ist, wenn so ein Leben verloren geht – das Einzige, das ich habe –, die kennen viele. Und genau das ist Sünde.
Die Rettung aus der Verlorenheit: Hilfe von oben
Wie kann ich nun aus dieser Verlorenheit gerettet werden? Bei Jim O'Neill kommt die Hilfe von oben, buchstäblich in einer Stimme aus dem Himmel. Diese Stimme gehört Paul Gerard. Paul Gerard ist Ausbildungspilot der Royal Air Force. Er kommt gerade von einem Übungsflug zurück, als er von der katastrophalen Situation von Jim O'Neill hört.
Paul Gerard schaltet sehr schnell und setzt sich mit seinem Ausbildungsflugzeug direkt hinter die Cessna von Jim O'Neill. Schräg hinter ihm, über ihm, nimmt er die Position ein und stellt Funkkontakt zu Jim O'Neill her. Dann gibt ihm Paul Gerard jeden einzelnen Handgriff per Mikrofon durch, den Jim O'Neill jetzt ausführen muss. Jede Handbewegung, die Jim O'Neill nach 18 Jahren Flugerfahrung eigentlich aus dem Effeff kennt, wird ihm durchgefunkt.
Paul Gerard wird zu den Augen von Jim O'Neill, und dieser muss nun tun, was ihm gesagt wird. Der erfahrene Selfmade-Mann, Unternehmer, Macher und Alleskönner muss sich das Fliegen jetzt wie ein Anfänger erklären lassen.
Wie bei Jim O'Neill kommt auch unsere Hilfe von oben, von einer Stimme aus dem Himmel, von einem guten Hirten. In dem Gleichnis, das Jesus erzählt hat, passiert etwas Ähnliches, und doch geschieht viel mehr.
Der Hirte, der sich auf die Suche gemacht hat, ist nicht jemand, der seinen Schafen erklärt, wie sie nach Hause kommen können. Er gibt ihnen keinen Orientierungskurs, damit sie selbst den Weg nach Hause finden. Stattdessen ist er ein Hirte, der Hand anlegt, der das verirrte Schaf packt, es sich auf die Schultern lädt und nach Hause trägt.
Das ist deutlich mehr, als Paul Gerard für Jim O'Neill tun konnte. Das ist der große Unterschied zwischen den Weltreligionen und den Weltphilosophien dieser Erde und dem Evangelium von Jesus Christus.
Die Weltreligionen erklären dir, was du tun musst, um ein besserer Mensch zu werden. Die Philosophien erklären dir, was du tun musst, um dich selbst zu einem guten Menschen zu machen. Das sind die großen Ratgeber des Lebens – sie zeigen dir, wie du vom schlechten zum guten Menschen wirst, vom Vernebelten zum Erleuchteten.
Das Evangelium von Jesus Christus ist kein Ratgeber, der erklärt, wie man ein guter oder erleuchteter Mensch wird. Das Evangelium ist die gute Botschaft, dass sich der gute Hirte aufgemacht hat, sich aufgeopfert hat und sich auf die Suche nach mir begeben hat, um mich zu suchen und nach Hause zu tragen.
Das Evangelium ist kein Navi für den Heimweg, sondern eine Rettungsaktion in verbaler Form. Der gute Hirte ist da. Wir müssen den Weg gar nicht mehr selbst suchen, wir müssen uns nur tragen lassen.
Genau genommen geht es beim Glauben an Jesus Christus nicht um ein Tun, sondern um ein Lassen, um ein Zulassen, um ein Geschehenlassen, um ein Sich-nach-Hause-Tragen-Lassen. Das ist das Evangelium.
Es geht nicht darum, dass du dich um deine Rettung kümmerst, sondern darum, dass du deinen Widerstand aufgibst – deinen Widerstand gegen Jesus, der sich um deine Rettung kümmern will.
Dazu gehört die ganz schlichte Einsicht, dass du Hilfe brauchst, dass wir alle Hilfe brauchen, weil wir es alleine nicht schaffen, weil wir es alleine niemals schaffen können.
Ohne diesen Hirten wäre diese Schar verloren gewesen. Ohne Jesus sind wir verloren. Wir brauchen einen, der uns nach Hause trägt. Wir sind und bleiben hirtenbedürftige Menschen.
Die kulturelle Herausforderung der Hirtenbedürftigkeit
Das ist der Punkt in unserem Leben. Wir sind in einer Kultur groß geworden, die eine ganz andere Botschaft kennt. Eine Kultur, die uns alle beeinflusst: Du schaffst es selbst, du kannst es alleine schaffen.
Wir lassen uns diese Philosophie eintrichtern – von Frank Sinatra mit „I did it my way“. Ja, das sind die Männer von heute, die machen ihr Ding. Das ist die Baumarktwerbung, die Heimwerkermärkte, unsere Heimwerkermärkte in der Republik. Sie flüstern uns ein: Mach dein Ding! Auch hier ist die Botschaft klar: Nur wer sein Ding macht, ist ein richtiger Mensch.
Wir sind in unserem ganzen Denken darauf geeicht, dass es eigentlich am besten ist, wenn wir selbst unser Leben in die Hand nehmen. Wer einen Hirten braucht, gibt ja zu, dass er ein dummes Schaf ist. Aber genau das ist das Thema dieses Gleichnisses, das Thema der ganzen Bibel: Wir sind Schafe.
Das heißt nicht, dass wir blöd oder minderwertig sind. Es bedeutet schlicht und ergreifend, dass wir orientierungsbedürftig, hilfsbedürftig und leitungsbedürftig sind. Wir brauchen jemanden, der uns nach Hause bringt, schlicht und ergreifend. Wir schaffen das nicht allein. Kein Mensch schafft das. Und weil wir es nicht schaffen, sind wir verloren.
Das ist die ganz einfache Gleichung der Bibel, unsere Wesensbeschreibung. Auch wenn unser Selbstbild und unser Denken ganz anders ticken, sind wir verlorene Schafe. Dann sind wir nicht nur ab und zu hirtenbedürftig, sondern es ist ein Wesenszug unseres Lebens, dass wir ein ganzes Leben lang hilfs- und hirtenbedürftig sind und bleiben.
Vom Anfang bis zum Ende unseres Lebens werden wir hirtenbedürftige Menschen sein – auch mitten in den guten Jahren, in denen ihr jetzt seid, wenn ihr nur so von Kraft, Schönheit und Intelligenz strotzt. Ihr seid hirtenbedürftige Menschen, ihr seid orientierungsbedürftige Menschen.
Du kannst studieren, was du willst. Du kannst Doktor, Professor und Nobelpreisträger werden. Du wirst dein ganzes Leben lang ein hirten-, leitungs- und orientierungsbedürftiger Mensch sein. Ich bleibe ein Leben lang ein orientierungs- und hirtenbedürftiger Mensch.
Wir können es nicht lernen. Wir können es nicht studieren, hirtenlos durchs Leben zu kommen. Wir können es nicht lernen, selbst unser Ziel zu finden – das können wir nicht. Wir brauchen Hirten, wir brauchen den guten Hirten, und wir brauchen viele Hirtenhelfer, die uns helfen, diesen Weg zu finden.
Es gibt keine Schule, keine Ausbildung, keinen Studiengang, kein Trainingsprogramm dieser Welt, das uns beibringen könnte, ohne Hirten durchs Leben zu gehen. Wenn es das gäbe, hätten wir es längst als Studiengang angeboten. Aber wir kriegen es nicht hin.
Wann bist du denn das letzte Mal zu einem Hirten gegangen? Wann hast du das letzte Mal einem Menschen gesagt: „Ich finde mein Ziel gerade nicht mehr, ich finde die Peilung für mein Leben nicht mehr“?
Wann hast du dir und einem anderen Menschen eingestanden, dass du hirtenbedürftig bist, dass du leitungsbedürftig bist, dass du orientierungsbedürftig bist?
Ob wir das Evangelium nur theoretisch verstanden haben oder ob es eine Botschaft für unser Herz und Leben geworden ist, die uns verändert und transformiert hat, zeigt sich an diesem einen Punkt: Ob ich selbst schon begriffen habe, dass ich hirtenbedürftig bin. Und ob das ganz praktisch geworden ist, indem ich einen anderen Menschen gebeten habe: „Hilf mir, hilf mir im Namen Jesu Christi, ich finde meinen Weg nicht mehr, und ich brauche jetzt jemanden, der mich lotst.“
Ich glaube, das ist eine der attraktivsten Aktionen, die wir machen können. Sie ist missionarischer, attraktiver und anziehender als viele Worte, die wir sagen können. Da, wo ein junger Mensch, möglicherweise sehr intelligent, erfolgreich und hübsch, sagt: „Ich brauche Hilfe“ – was glaubt ihr, was da los ist, was sich da in unserem Leben bewegen wird?
Werdet hirtenbedürftig und werdet einander zu Hirten! Das steckt hinter diesem schlichten Satz, der unzählige Male im Neuen Testament vorkommt: Ermahnt einander.
Ermahnt einander heißt nicht, dass einer oberlehrerhaft ein Besserwisser wird. Ermahnt einander heißt schlicht und ergreifend: Werdet einander im Namen Jesu Christi zu Hirten, die einander helfen, den Weg zu finden.
An dieser ganz konkreten Frage entscheidet sich, ob ich das Evangelium nur theoretisch verstanden habe oder ob es zur verändernden Kraft meines Lebens geworden ist.
Alle geistliche Vollmacht entscheidet sich daran, ob Hirten selbst ihrer Hirtenbedürftigkeit bewusst sind. Wer sich nie den Weg zeigen lässt, wird ihn anderen niemals zeigen können.
Die Landung und die Freude der Rettung
Paul Gerard und Jim O'Neill haben acht Versuche gebraucht, immer wieder neu den Landeanflug zu versuchen. Sie mussten immer wieder dieses Flugzeug, diesen blinden Piloten ausrichten. Dabei schauten sie halbwegs darauf, dass die Einflughöhe stimmt und dass die Landebahn gerade angepeilt wird. Sieben Mal brachen sie den Versuch ab, sieben Mal passte es nicht. Sieben Mal starteten sie durch und machten eine weitere Landeschleife.
Jim O'Neill war fix und fertig, Paul Gerard ebenfalls. Doch beim achten Mal hat es geklappt. Beim achten Mal, auf Holberdi Polder, war es keine Bilderbuchlandung, aber es war eine Landung. Sie haben es geschafft: Sie brachten diese Maschine, diesen blinden Piloten, diese Cessna auf die Landepiste, sodass es funktionierte.
Da ist einer heimgekommen, der war buchstäblich ein Geretteter. Und was meint ihr, was auf diesem Flughafen los war? Ein verlorener Mensch wurde gerettet. Da hat einer sein Ziel gefunden, von dem man es nicht gedacht hätte. Da ist einer heimgekommen.
Jesus sagte am Ende dieser Geschichte: „So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.“ (Lukas 15,7)
Jesus meint eigentlich die, die meinen, dass sie der Buße nicht bedürfen. Wir werden Menschen nicht davon überzeugen können, dass sie verloren sind. Mit Menschen- und Engelszungen werden wir es nicht schaffen, Leuten zu erklären, dass sie verloren sind. Wir können immer nur das bezeugen. Dann muss Gott sein Wunder tun, dass sein Heiliger Geist in einem Menschen „klick“ macht und er merkt: Ich brauche einen guten Hirten. Sonst kriege ich das nicht mehr hin mit meinem Leben. Ich werde mein Ziel der Ewigkeit nicht alleine finden.
Ob ein Mensch das findet oder nicht, ob er es kapiert oder nicht, können wir nicht machen. Aber was wir machen können, ist diese unglaubliche Freude vorzuleben, die dann entsteht, wenn Menschen begreifen, dass sie verloren waren und nun gerettet sind. Diese Freude solltet ihr dieser Welt nicht vorenthalten.
Schlussgebet
Ich danke euch für eure Aufmerksamkeit. Amen.
Ich möchte beten: Herr Jesus Christus, du bist gekommen, um Sünder zu retten, die verloren sind. Du bist gekommen, um uns nach Hause zu tragen. Du siehst, wie oft wir uns schwer tun, das zuzulassen. Wie oft wollen wir selbst Menschen sein, die es alleine schaffen, ihren eigenen Weg gehen und ihr eigenes Ding machen.
Wir wollen dich um Mut bitten, unsere Hirtenbedürftigkeit einzugestehen. Wir wollen dich um Mut bitten, zu sagen, dass wir leitungs- und hilfsbedürftig sind. Und wir wollen um Mut bitten, das auch in dieser Welt offen zu zeigen.
Dann bitten wir dich, dass Menschen durch unsere Hilfsbedürftigkeit etwas von deiner Gnade lernen. Dass Menschen durch unsere Orientierungsbedürftigkeit etwas von deiner Retterliebe erfahren.
Schließlich erbitten wir von dir das Wunder, dass durch unsere Orientierungsbedürftigkeit andere dich als den guten Hirten entdecken.
Segne uns an diesem Tag, segne uns in unserem Tun und Lassen, segne uns in unserem Reden und Zeugnis, segne uns in deinem Namen. Amen.