Einführung: Die Bedeutung der Armut Jesu
Verehrte, liebe Geschwister,
an einem Tag, an dem wir so viel Schneefall erleben, sind wir darauf angewiesen, dass unser lebendiger Gott, der Wärmer, gleich wieder Schnee vom Himmel fallen lässt und dieser nicht wieder dorthin zurückkehrt. So soll auch das Wort, das aus meinem Mund geht, nicht leer zurückkommen.
Ich wünsche mir, dass wir heute Abend etwas mitnehmen von dem, was uns Jesus selbst wichtig machen will und was er mir auch über die Tage der Vorbereitung wichtig gemacht hat. Ich darf Sie bitten, Ihre Bibeln oder Neuen Testamente aufzuschlagen bei 2. Korinther 8,9.
Ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus: Obwohl er reich war, wurde er doch arm um eureretwillen, damit ihr durch seine Armut reich würdet.
Das Thema der Armut Jesu hat viele Weihnachtslieder geprägt. Er ist auf die Erde gekommen, arm, damit er sich unser erbarmt. Schon bei den böhmischen Brüdern heißt es, dass er die arme Gestalt angenommen hat. Auch bei Martin Luther ist immer wieder vom armen Jesus die Rede.
Wir kennen das: Bei jedem richtigen Krippenspiel zum Christfest wird die Armut ausgewählt. Wie Maria schon abgewiesen wird in Bethlehem, der arme Jesus, für den es keinen Platz auf dieser Erde gibt. Das soll unser Mitleid mit dem armen, armen Jesus wecken?
Nein, sagt der Apostel Paulus. Ihr sollt reich werden. Ihr sollt nicht nur Mitleid empfinden mit Josef, Maria und dem Jesuskind, das in einer Krippe liegen musste. Ihr sollt durch die Armut des Herrn Jesus reich werden.
Die Spannung zwischen Armut und Reichtum im Glauben
Es ist ein ungewöhnliches Thema, denn normalerweise gehört zur Religiosität, dass wir uns durch den Reichtum der Gottheit bereichern lassen. Dieses Thema hat mich vor vielen Jahrzehnten besonders bewegt, als ich zum ersten Mal in Indien sein durfte. Dort sah ich viele Ganesha-Götzenbilder – ein Gott mit einem aufgeblähten, dicken Bauch und einem Elefantenrüssel, der den Gottesreichtum und den Wohlstand symbolisiert.
In dem halbfertigen Hotel, in dem wir 1961 wohnten, gab es einen Hinterhof. Dort kam jeden Morgen ein kleines Schulkind, bevor es zur Schule ging. Es legte seine Blüten vor dem Ganesha nieder. Ich dachte damals: „Bitte, ich möchte doch auch in meinem Leben reich werden. Gib mir Gesundheit!“
„Gib mir Bewahrung durch den Reichtum der Gottheit, lieber Gott. Du hast doch das Wissen, gib mir auch ein bisschen Verstand. Zeige mir den Weg, treuer Gott. Du bist reich an Erbarmen, schenke mir deinen Erbarmen durch den Reichtum der Gottheit, damit ich reich werde.“
Der Apostel Paulus wollte dem einen Riegel vorschieben. Er hat im Philipperbrief erschreckend gesagt: „Sie sind Feinde des Kreuzes Jesu, Feinde, denen ihr Bauch ihr Gott ist.“ Wenn ich an dieses Wort denke, erschrecke ich immer.
Ist mein Leben mit Jesus auch davon geprägt? „Herr, hilf, dass ich den Führerschein hinkriege. Hilf mir durchs Abitur. Hilf, dass ich das Examen bestehe. Hilf mir, dass ich die richtige Frau finde. Lass meine Frau bei der Geburt durchkommen. Schenk uns ein gesundes Kind.“ Mein Leben, mein Gebetsleben ist erfüllt von dem Wunsch, durch den Reichtum meines Herrn Jesus reich zu werden.
Und Paulus sagt, dass ihr durch die Armut des Herrn Jesus reich werdet.
Das Oxymoron der Armut und des Reichtums Jesu
Ist das bloß eine kühne Formulierung? Im Griechischen gibt es für diese Zusammenstellung von Begriffen, die eigentlich nicht zueinander passen, den Begriff „Oxymoron“.
Wenn Sie den Heinz Rühmann kennen: Haben Sie mal einen seiner Filme gesehen? Oder darf man das hier nicht erwähnen? Entschuldigung. Heinz Rühmann pflegte zu sagen, wenn er eine fremde Wohnung betrat: „Hübsch hässlich habt ihr es hier.“ Das ist ein Oxymoron. Oder wenn man von einem „alten Knaben“ spricht – zum Beispiel ist der heutige Referent ein alter Knabe – oder wenn man jemanden als „wahnsinnig klug“ bezeichnet.
Solche Zusammenstellungen von gegensätzlichen Begriffen sind seit dem Altertum eine Kunstfertigkeit, die Menschen dazu bringen soll, aufzumerken.
Hat der Apostel Paulus hier auch ein Kunststückchen machen wollen, damit ihr durch seine Armut reich werdet? Nein. Er wollte deutlich machen, dass unser Herr Jesus die größten Gegensätze umspannt. Der ewige Sohn Gottes wird ein kleines Kind. Der ewig weise Sohn Gottes predigt so schlicht und einfach, wie es in den Seligpreisungen auf dem Berg zu hören ist, das Wichtigste.
Wir würden es uns oft von den Auslegern der Bibel wünschen und erhoffen, dass sie es auch so schlicht und einfach sagen könnten. Denken Sie daran: Dem Apostel Paulus war es immer wichtig, wenn er die Gnade unseres Herrn Jesus darstellt.
Hier geht es ja auch darum. Ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus. Am Anfang des Galaterbriefs heißt es, die Gnade des Herrn Jesus bestehe darin, dass er sich selbst dahingegeben hat, damit er uns errettete. Er hat sich selbst aufgeopfert, damit es für uns Rettung gibt – zwei Begriffe, die zusammengehören.
Wenn wir beim Apostel Paulus mal darauf achten, ist das, was er zu sagen hat, durchflochten von diesem Geheimnis: Unser Herr Jesus bringt die größten Gegensätze zusammen. Das ist unser Trost bis in die Ewigkeit hinein.
Dass er mich, armen Sünder, der im Leben so viel danebengegangen ist, der so viele Wunden geschlagen hat, der so viel Vergesslichkeit und Undankbarkeit gezeigt hat, in den Himmel bringen will – ich, der ich eigentlich tausendmal mehr die Hölle verdient habe – das ist großer Trost.
Jesus klammert die großen Gegensätze zusammen.
Die Gegensätze im Leben und im Glauben
Denken Sie daran: Ich darf gerade aus dem Korintherbrief lesen, in dem wir uns jetzt befinden, 2. Korinther 6. Dort heißt es: Wir gelten in der Welt als Verführer und sind doch von der Wahrheit erfüllt. Wir sind unbekannt und doch bekannt beim ewigen Gott. Wir sind sterbend, und siehe, wir leben. Wir sind traurig und doch allezeit fröhlich. Wir sind arm und doch machen wir viele reich. Wir haben nichts und doch besitzen wir alles.
Merken Sie die ganze Aufzählung? Das ist ein Katalog, in dem Paulus sagt: Mensch, begreife, unser Herr Jesus bringt die größten Gegensätze zusammen. Das, was in unserer Welt auseinanderklaffen muss, was in der menschlichen Logik auseinanderklaffen muss, bringt der Herr Jesus zusammen.
Im gleichen Kapitel, 2. Korinther 6, lesen wir weiter: Wir sind von allen Seiten bedrängt, aber wir ängsten uns nicht. Uns ist bange, aber wir verzagen nicht. Ich kann das aus meinem eigenen Leben bezeugen: Bei schwerer Krankheit kann einem unendlich bange sein – sowohl kreativ als auch körperlich –, aber man verzagt nicht, denn Jesus ist auch da.
Wir leiden Verfolgung, aber werden nicht verlassen. Jesus bringt die Gegensätze zusammen.
Die Herausforderung, die Gnade Gottes wirklich zu kennen
Kennt ihr wirklich in Korinth die Gnade Gottes?
Ich höre ein wenig heraus beim Apostel Paulus, wenn er sagt: „Ihr kennt die Gnade Gottes?“ Heute Abend an unserem Tisch hat der Bruder Wörz mich gefragt, ob das Konjunktiv, Optativ oder eine Aussage ist – also eine Wunschform. Er meinte, an einer anderen Stelle sei es eine Frageform. Beim Apostel Paulus: Kennt ihr wirklich die Gnade?
Wir werden gefragt: Wissen wir, worin die Gnade des Herrn Jesus besteht? Dass er uns ohne Ende hebt und trägt, die in seinen Diensten stehen – das stimmt.
Aber die eigentliche Gnade ist, dass er uns durch seine Armut reich macht. Das wird uns heute Abend ein wenig beschäftigen müssen.
Ausflug zur Ermunterung: Der Aufruf zur Großzügigkeit
Aber jetzt möchte ich zunächst einen kleinen Ausflug zur Ermunterung machen. Der Abschnitt stammt aus 2. Korinther 8 und 9. Es ist ein Aufruf zu einer Spendensammlung. Die Gemeinde in Korinth wird aufgefordert, die noch ärmere Gemeinde in Jerusalem zu unterstützen.
Man soll eine Spende beiseitelegen, damit, wenn Titus kommt, das Geld auch bereitliegt. Es soll kein Opfer aus Armut oder Verlegenheit sein, sondern ein reichlicher Ausdruck des Dankes. Der Apostel Paulus verwendet hier große Ausdrücke. Er prüft eure Liebe, ob sie rechter Art ist. „Wer da kärglich sät, wird kärglich ernten.“
Opferaufrufe spielen in der Geschichte der Gemeinde des Herrn Jesus eine große Rolle. Es gibt große Künstler in Opferaufrufen. Wilhelm Busch, der große Evangelist, konnte sagen: „Wenn du das Doppelte von dem gibst, was wir vorgesehen haben, gibst du die Hälfte von dem, was eigentlich Jesus von dir erwartet.“ Das war immer ein guter Ansporn.
So sind die kleinen Scherze. Heute wollen wir ein stilles Opfer einlegen – nur Scheine, die nicht klimpern. Die schönste Opfergeschichte stammt von dem Berliner Hofprediger Kögel. Er wurde ins gesegnete Ravensberger Land zu einem großen Missionsfest eingeladen und sollte die Kollektenankündigung übernehmen.
Er sagte zu den verehrten Superintendenten und leitenden Pastoren: „Es gibt in der Bibel ein wunderbares Wort: ‚Der Herr segne euch, je mehr und mehr euch und eure Kinder.‘ Wo steht das? Wer es nicht weiß, zahlt zwanzig Goldmark.“ Damals waren das Goldstückchen.
Dann fragte er die Gemeindeverantwortlichen, die Kirchengemeinderäte: „Wo steht das?“ Niemand wusste es, also sollten sie zehn Goldmark einlegen. Jetzt fragte er die Gemeindeglieder: „Wo steht das wunderbare Wort ‚Der Herr segne euch, je mehr und mehr euch und eure Kinder‘?“ Wer es wusste, sollte fünf Mark geben.
Es gab ein riesiges Opfer. Danach trank man unter den Bäumen, unter den Eichen, Kaffee. Einer der Superintendenten sagte: „Herr Hofprediger Kögel, das war eine geniale Idee. Aber sagen Sie uns, wo steht das Wort?“ Er antwortete: „Ich weiß es auch nicht. Trotzdem, falls Sie an diesen Scherz denken, steht es im Psalm 115.“ Merken Sie sich Psalm 115: „Der Herr segne euch, je mehr und mehr euch und eure Kinder.“
Also, es gibt geniale Opferaufrufe. Es könnte sein, dass der Apostel Paulus gesagt hat: „Ich prüfe eure Liebe, ob sie rechter Art ist.“ Denkt daran, was der Herr Jesus für uns geleistet hat. Haltet eure Geldbeutel nicht zu dicht zu, sondern opfert auch etwas – so wie Jesus sein Leben und seine Herrlichkeit geopfert hat.
Die Bedeutung der Opferbereitschaft im Licht der Erlösung
War das so? Ich habe mich gefragt: Wenn man den Zusammenhang sieht, wie am Schluss von 2. Korinther 9 steht: „Gott sei Dank für seine unaussprechliche Gabe“, dann wollte Paulus nicht auf die Spendenbereitschaft drücken, sondern deutlich machen:
Und wenn ihr einen Hundert-Euro-Schein gebt, vergesst nicht, dass das ein Kinkerlitzchen ist im Vergleich zu dem, was der Herr Jesus uns gegeben hat. Er wollte, dass unsere große Opferbereitschaft, wenn sie von rechter Liebe getragen ist, verantwortungsvoll geschieht – mit dem Bewusstsein: „Ach, jetzt habe ich etwas Gutes, Hilfreiches getan.“
Ich erwähne das, weil es wahrscheinlich bei Ihnen auch so ist, dass der Briefkasten seit 14 Tagen überquillt vor unverlangter Post. Immer ist ein lieber Brief dabei, manchmal sogar ein wunderbarer Vierfarbenkalender, Postkarten, aber auch eine Zahlkarte und ein tränenreicher Brief.
Leider sind wir mit unserem Etat erst bei der Hälfte des Erwarteten angekommen. Vielleicht könnten Sie – so sagte Paulus es nicht direkt – aber vergesst nicht, dass über eurem Opfer das notwendig ist. Das Reich Gottes braucht auch Finanzen. Vergesst nicht, dass der Herr Jesus viel mehr für uns getan hat.
So sehe ich den Zusammenhang dieses großen Wortes: „Ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, obwohl er reich ist, wurde er doch arm um eueretwillen.“ (2. Korinther 8,9)
Die Menschwerdung und das Leiden Jesu
Wir wissen es, und gerade in der Christfestzeit wird es uns immer wieder vor Augen geführt: Jesus hat die unvorstellbare Herrlichkeit bei seinem Vater verlassen. Er hat sich in unser armes Fleisch und Blut verkleidet – das ewig Gute in unserem schwachen, verletzlichen Körper.
Unser armes Fleisch, in unserem anfälligen Körper – das kennen Sie doch. Bei Schmerzen, wie jetzt bei meiner Hüfte, oder wenn nachts mein Puls unregelmäßig schlägt. Das arme Fleisch und Blut zeigt sich schon am Kopf. Früher hatte ich wunderbare Haare, heute ist nur noch Haut übrig – armes Fleisch und Blut. Wie konnte ich früher rennen und joggen? Heute wollen meine Knie nicht mehr – armes Fleisch und Blut.
Der Herr Jesus hat sich sogar einer Geburt ausgesetzt. Meine Frau sagt immer, von den vier Geburten ihrer Kinder: Es war jedes Mal ein Kampf – entweder ich oder du, auf Tod und Leben. So ist der Herr Jesus in die Welt gekommen, wie wir als kleine Säuglinge.
Wozu das alles? Damit wir Mitleid haben. Bei vielen Theologen hat sich die Sprachregelung eingeschlichen: Er hat sich mit uns identifiziert, er ist einer geworden wie wir, er, der so anders ist als wir. Aber das ist nur die halbe Miete. Vielmehr sollen wir uns mit ihm identifizieren können. Er soll uns nicht fremd bleiben.
Martin Luther hat es in seinem wunderbaren Lied „Nun freut euch, lieben Christen gemein, und lasst uns fröhlich springen“ so wunderbar ausgedrückt:
„Er sprach zu seinem lieben Sohn:
Die Zeit ist da zu erbarmen,
fahr hin, meins Herzens Werte Kron,
und sei das Heil dem Armen“ – im Singular, in der Einzahl, „mir Armen!“
Und weiter: „Und rette ihn aus der Sündentod,
erwirke für ihn den bitteren Tod
und lass ihn mit dir leben.“
So lässt der Herr Jesus uns arme Säcke mit sich leben.
Die Identifikation Jesu mit menschlichem Leid
Dazu ist er in die Welt gekommen, damit wir begreifen, dass er sich nicht nur mit uns identifiziert, sondern auch, damit wir Vertrauen zu ihm haben. Zu dem Jesus, der Hunger kannte, der am Grab von Bethanien vor Schmerz über seinen Freund Lazarus weinte – einem Freund, dem es noch viel schlechter ging als unseren Flüchtlingen und Neubürgern.
Er hatte keinen Ort, an dem er sein Haupt hätte hinlegen können. Füchse haben Höhlen, Vögel Nester im Himmel. Aber der Menschensohn hatte keinen Platz, um sein Haupt zu betten.
Schon als Kind war das so. Nicht nur in Bethlehem, in dieser Notunterkunft der Karawanserei, wo man Jesus in eine Krippe legen musste. Später suchte Herodes sogar sein Leben. Er hatte keinen Platz auf dieser Erde.
Als Joseph mit Maria und dem Jesuskind aus Ägypten zurückkehrte, nach den Jahren der Vertreibung und Flucht, durften sie nicht in Judäa bleiben, obwohl es ihre Heimat war. Sie mussten nach Nazaret gehen, einem Gebiet, das nicht zu Herodes' Territorium gehörte, wo sie erneut gefährdet und flüchtig waren.
Ohne Hab und Gut dienten ihm einige Frauen mit ihrer Habe. Bei der Speisung der Fünftausend, als Jesus seine Jünger aufforderte, den Menschen zu essen zu geben, sagten sie: „Wir haben nichts.“ Doch ein junger Bursche hatte einen Brotbeutel dabei – mit fünf Broten und zwei Sardinen.
Jesus kannte sogar die Armut in der Wüste, wo er nichts hatte. Die Armut Jesu war real und greifbar.
Die Armut Jesu im Tempel und am Kreuz
Bei der Darstellung im Tempel möchte ich Sie auf etwas aufmerksam machen: Wie oft Maria und Joseph bei der Darstellung im Tempel als Opfergaben brachten, zeigt ihre Dankbarkeit gegenüber Gott für den Erstgeborenen. Üblicherweise wurde ein Kalb oder ein Stier geopfert. Arme durften auch zwei Turteltauben bringen. Maria und Joseph gehörten zu den ärmsten Leuten und waren in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen.
Doch all das wird noch übertroffen durch die Armut des Herrn Jesus am Kreuz. Während seines Prozesses regte sich keine Stimme für ihn, keine Hand erhob sich zu seinem Schutz. Sogar der Landesherr Herodes, der eigentlich für ihn zuständig war, schickte ihn zurück zu Pilatus mit der Begründung, dass er keine Zuständigkeit habe.
Am Kreuz betete Jesus. Zuvor weinten nur die Frauen, die am Straßenrand standen, über dieses schreckliche Bild des armen, erniedrigten Jesus. Als Jesus am Kreuz hing, rief er: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Wenn man diese Worte liest, erkennt man, dass er aus Psalm 22 zitierte. Es lohnt sich, diesen Psalm noch einmal zu lesen:
„Ich schreie, meine Hilfe ist ferne, ich bin ein Wurm, kein Mensch, ich bin ein Spott der Leute, verachtet vom Volk. Alle, die mich sehen, sperren das Maul auf und schütteln den Kopf. ‚Er klage es dem Herrn, der helfe ihm heraus, hat er Gefallen an ihm?‘ Sei nicht ferne von mir, denn Angst ist nahe.“
Vielleicht ist der erschütterndste Vers 16: „Du legst mich in des Todes Staub.“ Dieser Vers steht hinter dem Ruf „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Schon im Garten Gethsemane betete Jesus: „Vater, ist es nötig, dass ich diesen Kelch trinke?“ Sein Schweiß wurde wie Blutstropfen.
Der Herr Jesus erlebte elementare, körperliche Ängste und war belastet mit der ganzen Last unserer Schuld, für die er Verantwortung übernommen hat. „Er trug unsere Krankheit, lud auf sich unsere Schmerzen.“ Es war, als wäre all das Böse in unserer Welt – alle Lügen, alle Gemeinheit, alle Entartung – materialisiert auf Jesus gelegt worden: „Du legst mich in des Todes Staub!“
Bis heute spotten viele Menschen – nicht nur damals unter dem Kreuz, wie es in Psalm 22 angekündigt wurde, sondern bis in die heutige Christenheit hinein. Es gibt Diskussionen darüber, wozu das nötig war. Manche sagen: „Das hat Gott doch nicht gewollt, Gott steht doch nicht auf Blut, Gott ist doch kein Sadist.“
Die Bedeutung des Sterbens Jesu für die Erlösung
Was sollte es bedeuten, wenn Gott seinen Sohn in diese schreckliche Armut hineingibt?
Schon die Emmausjünger am Ostermorgen waren damit beschäftigt. Jesus war ein Prophet mit mächtigen Taten und Worten, und sie hatten gehofft, er würde Israel erlösen. Doch nun schien alles vorbei zu sein. Wozu das alles?
Es ist gut, dass uns das Neue Testament deutlich macht, dass selbst Jünger des Herrn Jesus solche Zweifel hatten. Sie fragten: Hat Gott sich nicht für seinen Sohn eingesetzt? Konnte er das nicht verhindern? Oder ist das alles nur eine Täuschung, dass er der Sohn Gottes ist?
Das alles geschah trotz der eindrücklichen Bilder und Aussagen, mit denen Jesus seinen Jüngern vorhergesagt hat, wozu sein Sterben gut ist.
Darf ich Sie an ein paar Dinge erinnern? Jesus sagte: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein. Erst wenn es erstirbt und sich zersetzt, bringt es viel Frucht. Ein großartiges Wort!
Außerdem ist der Menschensohn der gute Hirte. Jesus sagt: Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe. Er setzt sich für die bedrohten und gefährdeten Schafe ein und hält sie zusammen.
Im Johannesevangelium steht: Ihr seid meine Freunde. Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde.
Das sind lauter Hinweise darauf, dass Jesu Sterben einen Sinn hat, der von Gott geplant ist.
Ich verstehe gar nicht, wie heute kluge Theologen immer wieder sagen können, das seien Erfindungen des Mittelalters, dass Jesus für unsere Sünde gestorben ist. Denn von Jesaja 53 an zieht sich dieser Plan Gottes durch die Bibel und wird uns deutlich gemacht.
Selbst die Jünger Jesu, die drei Jahre mit ihm unterwegs waren und von ihm erklärt bekommen hatten, wozu sein Sterben gut ist, waren wie vernagelt.
Das liegt an unserer menschlichen Art: Es will einfach nicht in unser Gehirn hineingehen, weil es so ungewöhnlich ist.
Paulus spricht immer wieder von dem Geheimnis Gottes. Die Torheit Gottes ist weiser und klüger als wir Menschen sind. Das, was wir als Dummheit ansehen, ist in Wirklichkeit voll von göttlicher Weisheit (1. Korinther 1,18-25).
Drei zentrale Aussagen Jesu zum Sinn seines Sterbens
Jetzt nochmals drei Hinweise von Jesus.
Erster Hinweis: Ich bin nicht gekommen, damit man mir dient, sondern damit ich diene und mein Leben für viele zur Erlösung gebe.
Zweiter Hinweis: Der Stein, den die Bauleute verworfen haben – bei dem die Experten sagen, er sei zu nichts zu gebrauchen und weg auf die Schutthalde gehört –, so wie man es mit Jesus gemacht hat. Wenn wir jemanden nicht brauchen, dann sagen wir: „Weg mit ihm!“ Doch gerade diesen hat Gott zum Eckstein gemacht. Da hat Gott etwas bewirkt.
Die Passion des Herrn Jesus hat eine Aktion Gottes ausgelöst.
Dritter Hinweis: „Damit hin und trinket!“ Das ist der neue Bund in meinem Blut. So wie der erste Bund Gottes mit seinem Volk Israel geschlossen wurde, war es eine Garantie, dass ihr das Volk Gottes seid und in den Bund mit dem lebendigen Gott aufgenommen wurdet. Mose nahm vom Opferblut und sprengte es über das Volk. Jeder, der von so einem Blutstropfen getroffen wurde, wusste: „Ich gehöre dazu! Ich bin nicht bloß ein kleiner Erdenbürger, sondern ein Bundesgenosse Gottes.“
Und jetzt sagt Jesus: „Ich möchte nicht mehr mit dem alten Bund, ich gebe mein Blut für das Leben. Aber ihr dürft den Wein trinken aus dem Kelch. Wenn ihr ihn trinkt, dürft ihr wissen, dass der neue Bund geschlossen ist.“ Dieser Kelch, den ihr trinkt, soll euch ein Zeichen sein, dass ihr vergewissert seid: Der Bund Gottes besteht mit euch, die ihr jetzt trinkt.
Jesus hat Hinweise gegeben, wozu das ist, wozu seine große Armut, seine unvorstellbare Armut. „Du legst mich in des Todes Staub, und keiner ist mehr da, der sich für mich einsetzt.“ Seine Jünger verließen ihn alle. Sein Kleid wurde in vier Teile zerteilt – nein, sie würfelten darum, damit es nicht zerteilt wird.
Die grenzenlose Armut des Herrn Jesus: ausgelacht von dem Verbrecher, der neben ihm gekreuzigt wurde, ausgelacht von den Hohenpriestern und vom frommen Volk Israels.
Die Armut Jesu – wozu?
Die persönliche Bedeutung der Erlösung
Jetzt wird es aktuell für jeden von uns, damit es für mich und für Sie Erlösung gibt. Sie können sagen: Herr Jesus, wenn Dein Sterben dafür gut ist, erlöse mich von meiner Selbstsucht. Erlöse mich von meiner Sorge um Geld, von meiner ständigen Angst, ob meine Rente reichen wird. Erlöse mich, du bist der Erlöser.
Erlöse mich von meinem Jähzorn, der mich überkommt. Erlöse mich von meinem Neid und von meiner Streitsucht. Ich weiß nicht, wie es bei Ihnen ist.
Der große amerikanische Schriftsteller John Abteick hat einmal gesagt, es ist eigentlich nicht einzusehen, warum immer nur in schummrigen Kirchen, hinter dicken Kirchenmauern davon gesprochen wird, dass es Erlösung bei Jesus gibt. Man müsste das hinausschreien in eine Welt voller erlösungsbedürftiger Menschen.
Wenn Sie Menschen fragen: „Wie geht es Ihnen?“ und sie antworten: „Ja, schon recht“, und Sie dann genauer fragen: „Wie geht es Ihnen eigentlich?“, dann wissen Sie, dass Sie mindestens 45 Minuten brauchen, nur um zuzuhören, wenn Menschen erzählen, wie es ihnen wirklich geht.
Und wenn ich dann frage, ob ich mit ihnen beten darf, ist es nur einmal vorgekommen, dass eine junge Frau gesagt hat: „Nein, ich lege keinen Wert darauf.“ Aber Landräte, Abgeordnete, Oberbürgermeister und einfache Leute haben gesagt: „Ja, bitte.“
Dazu ist Jesus in die Armut gegangen, damit wir durch seine Armut reich werden. Damit wir darauf pochen können: Herr Jesus, vom Vater festgelegt, Du bist der Erlöser. Erlöse mich bis hin zur letzten Not, dass wir aus dem Todesgrauen erlöst werden und heimfinden.
Die Gewissheit, ich darf heimkommen zu meinem Herrn, ist groß. Gerade zwei schwerstkranke Begleitende haben mir schwergefallen. So gern ich hierher gekommen bin, aber von ihnen wegzugehen war schwer.
Ich habe vorher noch einmal telefoniert. Einer, der beinahe erstickt ist, sagt: „Ich möchte heim zu meinem Heiland.“ Das ist Erlösung – wenn einer nicht sagt: „Ich möchte nicht sterben“, sondern: „Ich möchte heim zum Herrn Jesus.“
Jesus als Eckstein und Fundament des Glaubens
Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden, der ein Fundament für unser Leben gibt.
Vor drei Wochen, als ich hier war, habe ich die Geschichte erzählt. Wir haben ja das schöne Lied: „Wir haben einen Felsen, der unbeweglich steht, wir haben eine Wahrheit, die niemals untergeht.“ Dieses Lied wurde von Gottlieb Lachenmann gedichtet. Er war Musikdirektor in Reutlingen und hat im letzten Jahrhundert die Stadtkapelle geleitet. So richtig „Ching drassa bum bum“.
Jesus hat ihn im verhältnismäßig hohen Alter gefunden. Danach hat Lachenmann über tausend Lieder gedichtet und komponiert. Aber das Wichtigste war: „Wir haben einen Felsen.“ Hedwig von Redern hat dann die Verse zwei bis fünf dazu gedichtet. Doch der erste Vers und auch die Melodie stammen von Lachenmann. Das ist nur ein bisschen Marschmusik.
Wir haben einen Felsen für den Vierteltag, gell? Aber sein Herz war glücklich, dass aus seinem Musikfest-Trubel heraus wir einen Felsen haben. Seitdem Jesus in der Armut war, gibt es für mein Leben ein Fundament, das unbeweglich steht. Wir haben eine Wahrheit, die niemals untergeht.
Der Apostel Paulus benutzt ja das Bild vom Eckstein für die Gemeinde. Ich hoffe, dass Sie zu Hause sein dürfen in einer richtigen Gemeinde. Dort geht es nicht nur um Streit, ob wir zu wenig alte Lieder singen und zu viele neue, oder ob die Predigt zu lang oder zu kurz ist. Vielmehr sollte die Frage sein: Ist bei uns Jesus der Eckstein? Ist er das Wichtigste? Oder ist unser Wohlbefinden das Wichtigste – die Musik, die Dauer des Gottesdienstes, die Gags, der Pustel?
Paulus sagt, die Gemeinde in ihrer Vielfalt ist gegründet auf dem Eckstein Jesus. Wir wären doch in unseren Gemeinden längst auseinander gelaufen. Wir sind so verschieden, dass wir einander verrückt machen könnten, wenn uns nicht gemeinsam Jesus, der Eckstein, wichtig wäre.
Jesus hat Kraft gesetzt für unsere armseligen Gemeinden. Und er hat Kraft gesetzt, dass Sie und ich Bundesgenossen des ewigen Gottes und seines Sohnes Jesus werden dürfen.
Die besondere Verbundenheit durch Jesus
Unser Leben wird etwas Besonderes, wenn wir Verwandtschaft entdecken – bei Enkeln und Großneffen. Ach, er lächelt gerade so, wie die Tante Anna gelächelt hat. Diese Verbindungen zeigen durchgehende Verbundenheit. Doch noch viel größer ist die Verbundenheit, die der Herr Jesus durch seine Armut für uns erkauft hat.
Jetzt dürfen Sie Ihren Namen einsetzen: Sie sind ein Bundesgenosse des ewigen Gottes. Angenommen, spricht Gott: „Ich stärke dich, ich helfe dir auch, ich erhalte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit.“ Das gilt, weil der Herr Jesus durch seine Armut das für uns erkauft hat.
Der Prälat Römer, ein gesegneter Mann aus Württemberg, der 1919 starb – das ist schon lange her – war ein großer Prediger in der Stuttgarter Stiftskirche. Er sagte einmal in einer Karfreitagspredigt: „Ich werde mein Leben lang nie verstehen, wie das funktionieren soll, dass Jesus in seiner Armut für mich gestorben ist und dass ich jetzt ganz zu ihm in Ehrlichkeit gehören darf. Wie das funktionieren kann.“
Er wollte es nicht verstehen, aber er wollte es einfach für sich gelten lassen.
Schlussgedanken: Die Kraft der Armut Jesu
Und das wünsche ich mir, dass wir von dieser Weihnachtszeit auch mitnehmen: Er ist auf Erden arm gekommen, damit er sich ewig unser erbarmt und im Himmel reich macht.
Ich will es einfach gelten lassen: Herr Jesus, danke, danke, dass du in die Armut gegangen bist, damit wir durch die Erlösung, durch den neuen Bund und durch das Fundament, das du bist, reich werden.
Dass es Frucht geben kann auch in unserem Leben, die du wirkst, weil du dein Leben hingegeben hast.
Jetzt gib, dass wir nicht, wie alle Welt, reich werden wollen durch Glück, Bewahrung und Gesundheit. Wir danken dir dafür, wenn du uns das alles schenkst. Aber lass uns noch mehr verlangen danach, dass wir dorthin kommen, wo die Erlösten des Herrn wiederkommen mit Jauchzen.
Herr, dass es diesem Jauchzen entgegengeht. Amen.