Historische Vorbilder diakonischen Engagements im Adel und Bürgertum
Der Reichsgraf Nikolas Ludwig von Zinzendorf gilt zu Recht als Enttürnier und Wegbereiter der Weltmission. Die Baronin Juliane von Krüdener übernahm politische Verantwortung, während Fritz von Schlümbach als Bahnbrecher der Volksmission bekannt wurde.
Rolfs Chefbuch, Prälat in Ruhr im schwäbischen Korntal, hat unter dem „blauen, von Gott geadelten Blut“ auch Beispiele frommen Adels entdeckt. Er hatte ein Gespür dafür, dass für die Ernsten der Armen etwas getan werden muss.
Heute wird oft so getan, als hätte die soziale Not nur Atheisten wie Karl Marx und Friedrich Engels bewegt. Dabei wird völlig vergessen, was Johann Hinrich Wichern angemahnt hat, was eine Hilfsaktion ins Leben rief, was Amalie Siwiking modellhaft bewirkte und was Theodor Fliedner aufgenommen hat.
Unter solchen Pionieren – und es gibt eine Vielzahl davon – finden sich auch erstaunlich viele Adlige: Hans Freiherr von Cottwitz, Adelbert Graf von der Recke-Vollmarstein, Friedrich von Bodelschwingen sowie die Frauen Eva von Thiele-Winkler und die österreichische Gräfin Elvine de la Tour in Kärnten.
Auch im pietistisch geprägten Süddeutschland entstanden diakonische Einrichtungen, etwa aus dem Bürgertum heraus. Hier im Süden Deutschlands waren es aufgrund der demokratischen Prägung und des Einflusses des Pietismus vor allem bürgerliche Menschen, die Rettungshäuser, Taubstummenanstalten und Blindenheime ins Leben riefen. Aber...
Die Rolle des Königshauses und der Herzogin Henriette in der Diakonie
Wir dürfen nicht vergessen, dass das Königshaus mit Königin Katharina, Königin Pauline und Königin Olga zahlreiche Einrichtungen geschaffen hat, die bis heute ihren Namen tragen. Leider wird in dieser edlen Schar neben Großherzogin Vera oft die Herzogswitwe Henriette aus Kirchheim vergessen.
Vermutlich wissen nur wenige Hannoveraner, dass ihre berühmte Diakonissenanstalt, das Henriettenstift, nach dieser württembergischen Herzogin benannt ist. Noch weniger Menschen in Kirchheim unter Teck kennen die Geschichte jener Henriette, die auch dort zur Entstehung eines Henriettenstifts beigetragen hat.
Der Herrnhuter Reiseprediger Weiz notierte, dass Henriette eine Perle des Königshauses war – eine Mutter der Armen und Notleidenden, eine vielfältige Helferin in allen Werken zur Ehre Gottes und eine demütige, lebendig gläubige Jüngerin Jesu Christi. Dem Bedürftigen ein Nächster zu werden, war für die Herzogin das buchstäblich Nächstliegende, das es zu tun galt.
Mein eigener Vater stammt aus dieser Ecke bei Kirchheim. Deshalb habe ich eine besondere Beziehung zu Kirchheim und frage mich oft: Was ist die Geschichte Kirchheims? Die Bedeutung von Henriette hat mich besonders beeindruckt. Sie hat erkannt, dass, wenn die Bibel vom Nächsten spricht, damit wirklich der in der Nähe gemeint ist – zuerst die Mitglieder der eigenen Familie und dann jene, die im Umkreis der eigenen Wohnung oder des eigenen Ortes leben.
Diakonie im Nahbereich als erste christliche Aufgabe
Wir denken heute viel zu oft bei Diakonie und diakonischen Werken an soziale Imperien – mir sei dieser Ausdruck gestattet – an Verbundsysteme. Diese sind manchmal fast wie eine zweite Kirche neben den Landeskirchen geworden.
Deshalb ist Henriette, die Herzogin, nicht einfach eine Gestalt von vorgestern. Sie bringt in unserer heutigen Diskussion einen wichtigen Ruf zur Sache, zur Geschäftsordnung.
Der erste Aufgabenbereich von Christen ist die eigene Familie, die ihnen anvertrauten Kinder. Der zweite, nächste Bereich diakonischer Herausforderung besteht in den Nächsten vor der eigenen Haustür. Dabei geht es nicht nur um Bedürftige, sondern auch um die Nächsten, die mithelfen sollen. Durch Opfer, Anteilnahme und Fürbitte muss um sie geworben werden, damit sie sich mitverantwortlich fühlen.
Diese Verantwortung betrifft Krankenpflegestationen, Kindergärten, Rettungshäuser, Hospitäler und Bildungsangebote für Randgruppen im gemeindenahen Bereich. Das bedeutet: nicht erst 50 oder 100 Kilometer entfernt, sondern direkt im Umfeld der Gemeinde sollen Mitchristen all diese Aufgaben mittragen. Durch ihr Opfer, durch ihre Anteilnahme und durch ihre Fürbitte. Man darf das alles nicht einfach an „die da oben irgendwo“ delegieren.
Daraus ergeben sich für das diakonische Handeln nach den Überzeugungen von Rolf Schäffbuch sehr konkrete Betätigungsfelder. Heute wird es im nahen Bereich um die Christengemeinde herum gehen, beispielsweise um Sprachhilfe für ausländische Kinder, um nachsorgende Begleitung von Alkoholkranken und Depressiven, um Krankenbesuchsdienste sowie um Angehörigengruppen von Trauernden, von Krebskranken, von Aphasikern und von Parkinson-Kranken. Der Fantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt.
Das diakonische Wirken der Herzogin Henriette in Kirchheim
Henriette hat als Herzogin in Kirchen die erste Ortskrankenkasse ins Leben gerufen sowie die erste freiwillige Feuerwehr gegründet. Darüber hinaus hat sich die engagierte Herzogin immer wieder durch finanzielle Beiträge, oft in Form von Anschubfinanzierungen, für konkrete Einzelprojekte eingesetzt.
Sie legte den Grundstock für ein Rettungshaus für verwahrloste Kinder, obwohl ihre private Vermögenslage nicht besonders reich war. Ebenso unterstützte sie die erste Kleinkinderschule in Kirchheim und das erste württembergische Krankenhaus in einer Kleinstadt. Für das Krankenhaus holte sie Diakonissen von Kaiserswerth, die von Fliedner gegründet wurden.
Henriette legte zudem den Grundstock für den Altenstift. Sie reiste durch die Region und warb sowohl bei hohen als auch bei einfachen Leuten dafür, dass all diese Einrichtungen mitgetragen werden – auch durch kleinste Spenden und Stiftungen.
In der Region Kirchheim, die damals vom Oberamt verwaltet wurde (heute würde man Landkreis sagen), wurden auf ihr Drängen hin nach und nach 22 sogenannte Industrieschulen eingerichtet. Diese dienten als praxisbezogene Unterrichtsstätten für junge Leute, die keine weiterführenden Schulen besuchen konnten. Für Mädchen gründete sie eine Töchterschule, die bewusst christlich geprägt war – etwas, das damals überhaupt nicht selbstverständlich war.
All diese Einrichtungen waren so überzeugend, dass sie weit über den engen Bereich Kirchheim hinaus Wirkung zeigten und sich in ganz Württemberg verbreiteten. Deshalb wurde Herzogin Henriette in einer Darstellung der württembergischen Geschichte auch als die edle, fürsorgliche Mutter unseres württembergischen Landes bezeichnet.
Familie und Erziehung als Lebensaufgabe der Herzogin
Vor allem war sie die Mutter von vier Töchtern und einem Sohn. Ihre älteste Tochter, Maria Dorothea, war mit Erzherzog Josef von Österreich verheiratet. Die Tochter Amalie wurde als Herzogin von Sachsen-Altenburg eine der Stammmütter des Hannoverschen Königshauses. Pauline, die dritte Tochter, war an der Seite von Wilhelm dem Ersten Königin von Württemberg. Die vierte Tochter, Elisabeth, wurde Markgräfin von Baden.
Auch der Mann der Herzogin Henriette, Herzog Ludwig, brachte einen Sohn mit, Adam Karl. Auch ihm war Henriette eine liebevolle und verständnisvolle Mutter.
Der erst 37-jährigen Witwe, die ihren Mann im Alter von 18 und 17 Jahren verloren hatte, stand die Verantwortung vor Augen, die heranwachsenden Kinder zu verantwortungsvollen Menschen zu erziehen. Dazu gehörten der angenommene Sohn, der eigene Sohn und die vier Töchter. Sie wollte sie zu Menschen formen, die bereit und fähig sind, Verantwortung in dieser Welt zu übernehmen.
Diese Aufgabe empfand sie als Vorrecht, nicht als Last. In ihrer eigenen Kindheit hatte sie sehr früh Mutter und Vater verloren. Diese waren damals jung und starben, umgeben von einer Schar kleiner Kinder. Deshalb war es für sie ein Privileg, eigene Kinder zu haben und erziehen zu können.
Vor allem hatte sich bei ihr die Not im russischen Zarenhaus eingeprägt. Die russische Zarin Maria Fedorowna, übrigens eine Schwägerin der Herzogin Henriette, hatte durch die alte Katharina die Großen ihre beiden ältesten Söhne weggenommen bekommen. Dieser Schmerz begleitete die Zarin Maria Fedorowna stets: Sie durfte ihre eigenen Kinder nicht prägen.
Katharina, damals die Große, hatte erkannt, dass die kommenden Zaren nicht durch die bigottfromme Maria Fedorowna erzogen werden sollten. Das stimmte jedoch nicht ganz, aber Katharina wollte Menschen haben, die sie selbst bilden und prägen konnte.
Henriette hingegen wollte ihre Kinder im Geist Jesu prägen. „Gottvertrauen soll das Glaubensfundament der Kinder sein.“ Henriette durfte ihre Kinder um sich behalten, und das war ihr mehr wert als viel Ruhm und Ehre. Ihnen fürs Leben Bleibendes mitzugeben, war ihre Aufgabe.
Sie wollte nicht schuldig werden an ihren Kindern, denn in ihnen saß sie voll Sorge. Die Kinder lebten auch als Erbgut und Erblast in ihr.
Herausforderungen im persönlichen Umfeld und der Glaube als Gegenkraft
Das Wesen ihres heißblütigen, cholerischen Mannes war so, dass er von heute auf morgen all seine Überzeugungen auf den Kopf stellen konnte. Er war ein Weltmeister im Schuldenmachen. Als er starb, hatte er über eine Million Gulden Schulden angehäuft – eine unvorstellbare Summe. Gegen diese Erblast mussten andere Kräfte aufgeboten werden als ein wenig Etikette, Bildung und höfisches Wesen. Es brauchte einen echten Gottesglauben als Gegenkraft. Das hatte Henriette im Auge.
Henriette von Württemberg stammte, wie bereits erwähnt, aus einem nassauischen Fürstengeschlecht. Es verwundert daher etwas, dass ihr Lebensweg sie ins beschaulich gelegene Kirchheim unter Teck geführt hat. Sie wurde 1788 in Kirchheim-Bohlanden im Schatten des Donnersbergs geboren. Die junge Geschwisterschar musste wegen der Revolutionskriege, die aus Frankreich hereinbrachen, nach Deutschland fliehen. Dabei starben die Eltern.
In Bayreuth hatte der von seiner ersten Gattin geschiedene württembergische Herzog Ludwig die reizende Henriette kennengelernt. Die hochgewachsene, schlanke Prinzessin mit ihren wachen blauen Augen und der schön gebauten Stirn wurde schnell geheiratet. Dieser Herzog Ludwig von Württemberg hatte einst als General in polnischen Diensten gestanden, dann die Front gewechselt und war zu den Russen übergegangen. Er diente anschließend als preußischer Generalfeldmarschall und zuletzt als russischer General sowie als Gouverneur von Riga.
All diese Kabriolen ihres unbeständigen Ehemanns musste Henriette ab ihrer Verheiratung mitmachen. Darunter litt sie seelisch und gesundheitlich schwer, besonders auch unter den finanziellen Affären ihres Mannes. Als ein weiteres Verbleiben in Russland nicht mehr möglich war, wies der württembergische König Friedrich seinem unzuverlässigen Bruder das alte Gemäuer des Kirchheimer Schlosses als Wohnsitz an.
Für Henriette muss es damals wie ein Herauskatapultieren aus den ersten, den höchsten Kreisen gewesen sein, als sie sich plötzlich im biederen Städtchen Kirchheim einleben musste. Sie war immerhin verbunden gewesen mit der Zarin Maria Fjodorowna und dann mit der jungen Zarin Elisabeth. Besonders verbunden war sie mit der späteren Königin Katharina, der damaligen Großfürstin – also fürstliches Blut um und um. Sie war in den höchsten Kreisen, und jetzt Kirchheim.
„Ich lieb ja schon von meines Vaters Tagen Herr Kirchheim von Herzen“, sagte sie. Darum mögen die Kirchheimer verzeihen, wenn ich feststelle: In gewissem Sinn war der Wechsel vom Zarenhof nach Kirchheim doch so etwas wie ein gesellschaftlicher Abstieg. Es ist erstaunlich, dass die Herzogin das selbst nie so empfunden hat. Für sie gab es keinen kleinen Winkel, von dem aus Gott nicht in die Welt hineinwirken kann, auch durch seine Leute.
Deshalb gab sie vom kleinen Kirchheim aus Würze in den großen Suppentopf des württembergischen Königreichs – aber weit darüber hinaus. In Welthandel wollte sie sich ganz bewusst nicht einmischen. „Dazu habe ich weder die Macht, noch getraue ich mir, die Zustände wirklich recht ermessen zu können“, so die Herzogin. Ging es unterdessen um religiöse Fragen und Probleme, dann konnte sie entschieden Partei ergreifen.
Glaube und Nächstenliebe als Fundament des diakonischen Handelns
Es wurde viel vom Adel getan, auch in Russland. Durch die Zarin Maria Fedorowna wurde der Gedanke der Auflösung der Leibeigenschaft in das russische Reich eingebracht.
Doch dass jemand sich zu einem schlichten, demütigen Bibelglauben bekannte, war selten. Man strebte viele große diakonisch-soziale Lösungen an. Bei Henriette war Nächstenliebe jedoch kein Alibi oder Ersatz für einen ganz einfachen Gebetsglauben und die Verbundenheit mit Jesus. Vielmehr war die phantasievolle Diakonie bei ihr ein Ausfluss und eine Frucht dieser wirklichen Verbundenheit mit Jesus.
Einer ihrer Seelsorger sagte einmal: Herzogin Henriette ist fürstlich außen und innen.
Wir wissen nichts von einer plötzlichen Bekehrung bei ihr. Vielmehr ist sie in diese Jesusverbundenheit hineingewachsen. Schon während ihrer frühen Jugend muss sie viele christliche Impulse erhalten haben. Später erhielt sie in der Umgebung der Zarin Maria Fedorowna neue Anstöße.
Es ist bekannt, dass zur Lektüre dieser Zarin abends wahres Christentum gehörte und dass ihr Seelsorger der Schweizer Lafater war.
All diese Eindrücke, auch vom russischen Zarenhaus, wurden für Henriette zu einer selbständigen Gewissheit – besonders angesichts ihrer immer schwieriger werdenden Ehe mit ihrem manchmal wirklich unausstehlichen, bärbeißig kriegerischen Mann.
Deshalb konnte Henriette aus eigener Erfahrung sagen: In dieser Welt regen sich finstere Kräfte. Darum war sie darauf angewiesen, dass Jesus als der Sohn Gottes, wie es in der Bibel heißt, die Werke des Teufels zerstört. Der Ungeist sollte nicht das Sagen haben.
Kirchheimer Wirken und geistliche Gemeinschaft
In Kirchheim gehörte Herzogin Henriette zu den treuesten Besuchern der Gottesdienste. Sie verzichtete bewusst auf einen Ehrenplatz in einer Loge, weil sie lieber unter den anderen Mitchristen sitzen wollte. Darüber hinaus suchte sie nach Glaubensstärkung und Impulsen durch andere Christen.
Deshalb lud sie regelmäßig gezielt solche Seelsorger zu sich ins Schloss ein. Ein Schloss mit offenen Türen und eine Schlossherrin mit einem weiten Herzen für Mission und Diakonie – Herzogin Henriette war es wichtig, dass ihr Christsein natürlich blieb. Besonders in der religiösen Erziehung ihrer Kinder legte sie darauf großen Wert.
Die fürstliche Mutter zwang ihre Kinder nie zum Kirchgang, auch nicht zum Lesen frommer Bücher. Sie kontrollierte auch nicht, ob die Kinder abends ihr Gebet sprachen. Die tägliche Morgenandacht gehörte zwar selbstverständlich zum Tagesablauf, aber sonst wurden die Kinder nie gezwungen, fromme Veranstaltungen zu besuchen.
Henriette sorgte jedoch dafür, dass Gottes Reich in Gestalt von überzeugenden Christen in ihrem Haus erfahrbar wurde. Warum sollte es solche Begegnungen nur an Fürstenhöfen, in Dichterhäusern oder bei geistreichen Gesellschaftstreffen am Nachmittag oder Abend geben – bei Teegesprächen, Salons oder Circles, wie man auf Französisch sagte?
Die Kirchheimer Schlossherrin übertrug phantasievoll diese Einrichtung der Salons auf die Gegebenheiten der Kirchen, sodass unter christlichen Bedingungen Hilfreiches entstehen konnte. Dabei wurde nicht einfach über tiefe Glaubensfragen diskutiert oder spekuliert.
Henriettes Sohn hatte jeweils Christen ins Haus eingeladen, die anschaulich und packend berichten konnten. So erzählte etwa der Pfarrer Doktor Christian Gottlob Barth, was Jesus in Indien wirkte. Aus Südafrika brachte er ein echtes Löwenfell mit.
Der Herrnhuter Reiseprediger Weiz, den man heute wohl als Evangelisten bezeichnen würde, stellte anschaulich dar, wie im badischen Bereich um den katholischen Pfarrer Hennhöfer herum plötzlich ein geistlicher Aufbruch geschehen war.
Der Dichterpfarrer Albert Gnapp las sein Manuskript einer neuen Erzählung vor und zeigte engagiert, wie man alte Kirchengesänge modernisieren kann, ohne dabei den Inhalt zu verwässern.
Dekan Doktor Bahnmeier – Henriette hatte diesen ehemaligen Theologieprofessor als Dekan nach Kirchheim geholt – kam kaum nach, immer wieder von den erfinderischen Gründungen seines Schwagers Spittler zu erzählen: von Missionen, Diakonie oder auch davon, wie er den frommen Friedrich Silcher als Musiker entdeckt hatte und dafür sorgte, dass dieser als Universitätsmusikdirektor nach Tübingen kommen konnte.
Wenn diese Menschen erzählten, sprühten sie vor Lebendigkeit. Das wurde auch für die herzoglichen Kinder beim Zuhören ansteckend. Zusammen mit den anderen Zuhörern wurde ihnen deutlich, welche Horizonte der christliche Glaube hat und wie er hellwach macht – auch für die Herausforderungen der Gegenwart.
Impulse für heutiges christliches Leben und Erziehung
Wir müssen heute von Henriette lernen, dass wir die Möglichkeiten, die uns gegeben sind, auch nutzen sollten – besonders wenn ein Evangelist oder ein besonderer Redner zu einem Vortrag kommt. Wo ist die christliche Familie, die sagt: „Kommen Sie nicht schon um 18 Uhr zum Abendessen?“, lädt die Kinder dazu ein und fragt auch: „Was haben Sie in den letzten vier Wochen erlebt?“
Wir sollten nicht nur die christlichen Redner am Pult oder auf der Kanzel erleben, sondern auch im normalen häuslichen Alltag. Genau das hat Henriette uns vorgemacht. Für die heranwachsenden Kinder war es zudem hilfreich, dass Christsein für Henriette nicht in erster Linie daraus bestand, was man nicht tun darf. Bei ihr gab es eine fröhliche Weite des Glaubens.
Ihre Kinder zum Beispiel erhielten Klavierunterricht vom alten Hausfreund Karl Maria von Weber, dem großen Komponisten. Obwohl Henriette etwas allergisch gegen Tabakgeruch war, schenkte sie dem Kirchheimer Dekan Doktor Bahnmayr eine wertvolle Tabakspfeife mit der Bemerkung: „So liebe ich meine Freunde, dass ich sogar noch ihre Schwächen unterstütze.“
Im Alter wurde sie etwas matronenhaft und fülliger als in ihrer Jugend. Sie war auch kurzsichtig geworden. Wenn sie dann zu ihrer Stilbrille griff – ihrer Lorgnette – und jemanden fest ansah, mit dem sie sich gerade unterhielt, konnte man sicher sein, dass ein mit Humor gewürzter, treffender Satz folgen würde.
Das Erbe der Herzogin Henriette und ihre Nachkommenschaft
Was ist aus den Kindern der Herzogin geworden? Konnte Henriette ihnen etwas von ihrer tiefen christlichen Überzeugung mit auf den Weg geben? Oder ist sie nur wegen ihres blauen Blutes die Großmutter vieler europäischer Fürstenhäuser?
Es wäre reizvoll, all die Querverbindungen zu den Fürstenhäusern und der Nachkommenschaft Henriettes aufzuzeigen. Doch das würde zu weit führen. Schließlich reichen die Blutsverbindungen bis in die Königs- und Fürstengeschlechter von Habsburg, Belgien, Modena, Toskana und, wie bereits erwähnt, zu den Winzers in England.
Die älteste Tochter, Maria Dorothea, war verheiratet mit Josef, dem Erzherzog von Österreich und König-Stellvertreter von Ungarn. Die zweite Tochter vermählte sich mit dem Herzog von Sachsen-Altenburg. Die dritte Tochter, Pauline, wurde Königin von Württemberg an der Seite von Wilhelm I. Die jüngste Tochter, Elisabeth, war verheiratet mit dem Markgrafen von Baden.
Wichtiger als all diese adligen Querverbindungen sind jedoch zwei Dinge. Erstens hielt die Mutter fürsorglich Kontakt mit ihren Töchtern in ihren oft schwierigen Situationen. So war etwa Königin Pauline von Württemberg immer die ungeliebte Frau ihres königlichen Mannes.
Henriette war weise genug, sich nicht als besserwisserische Schwiegermutter in die Ehen ihrer Töchter einzumischen. Dennoch sorgte sie dafür, dass der Seelsorger, der Herrnhuter Reisebruder Weiz, regelmäßig die Residenzen besuchen konnte. Er sollte den Fürstinnen seelsorgerlich beistehen. Nach einem dieser Besuche schrieb die österreichisch-ungarische Erzherzogin: „Was mir bisher unerträglich schien, ist mir nun leichter.“
Zweitens ist mir wichtig, dass der im Glauben verwurzelte diakonische Pioniergeist Henriettes auch in ihren Töchtern weiterwirkte – in Baden, in Sachsen, in Württemberg und auch in Ungarn. Gerade in Ungarn setzte sich die Erzherzogin Marie für die Anliegen des benachteiligten Protestantismus ein. Sie förderte die Bibelverbreitung in Ungarn und war bei der Bevölkerung als selbstlose Wohltäterin beliebt.
„Global denken, lokal handeln“ – diesen Slogan aus unseren Tagen hat Henriette von Württemberg ohne viele Worte praktiziert. Zum einen im, wie sie es nannte, Nahbereich, also im Dienst am Nächsten, zugleich aber auch auf dem weiten Feld der Weltmission.
Kirchheim als Ausgangspunkt weltweiter Mission
Vor einigen Jahren wurde in Kirchheim eine Ausstellung veranstaltet, die sich etwa mit dem Thema „Kirchheim und der Rest der Welt“ beschäftigte. Der genaue Titel war natürlich ein anderer. Dabei wurde deutlich, wie unvorstellbar viele Frauen und Männer aus Kirchheim und der Umgebung als Missionsärzte, Missionshandwerker, Missionslehrer und Missionarinnen in alle Erdteile gezogen sind.
Die Fenster zu diesem weiten Welthorizont christlicher Verantwortung hatte Dekan Doktor Bahnmeier zusammen mit Herzogin Henriette aufgestoßen. In manchen Gesangbüchern ist noch das Missionslied von Bahnmeier zu finden: „Auf zur Ernte in alle Welt, weithin wogt das reife Feld. Klein ist noch der Schnitterzahl, viel der Garben überall. Herr der Ernte, groß und gut, weg zum Werke, Lust und Mut, lass die Völker überall schauen deines Lichtes Strahl.“
Das ist die Atmosphäre Kirchheims jener Zeit. Wenn ich schon beim Zitieren von Liedstrophen bin, darf der Vers des Kirchheimer Pfarrers Albert Knapp nicht fehlen: „Heiland, deine größten Dinge beginnest du still und geringe. Was sind wir Armen vor dir, aber du wirst für uns streiten.“
Das war es, was Herzogin Henriette im kleinen Oberamtsstädtchen Kirchheim erlebt hat.
Abschied und Nachruf auf Herzogin Henriette
Sie starb im Alter von 77 Jahren nach einem schmerzhaften Magen- und Darmleiden im Jahr 1857. Es war ihr herzlicher Wunsch, in der Gruft der Stuttgarter Stiftskirche an der Seite ihres Mannes – ihres schwierigen Mannes – beigesetzt zu werden.
Doch vielleicht sollten wir auch hören, was der seelsorgerliche Familienfreund, Reiseprediger Weiz, als Nachruf auf Herzogin Henriette schrieb. Obwohl Herzogin Henriette außerhalb Württembergs geboren wurde, hatte sie sich im Laufe eines halben Jahrhunderts vollständig im württembergischen Vaterland eingelebt. Sie wurde zu einem hervorragenden Glied im Kreis der Gläubigen Württembergs.
Der Umgang mit Mitchristen war ihr ein tiefes Bedürfnis. Dabei machte sie keinen Standesunterschied. Sie erbaute sich sowohl mit Leuten aus dem Volk als auch mit Gebildeten. Mit warmem Interesse verfolgte sie den Gang des Reiches Gottes hier und in aller Welt. Es war ihr wichtig, immer neue Werkzeuge Jesu im In- und Ausland kennenzulernen.
Nie fand sich bei ihr auch nur eine Spur von gesuchter Geistlichkeit. Stattdessen zeigte sie ungezwungene Freundlichkeit und bewahrte bei allem Ernst eine solche Heiterkeit, dass man sich richtig zurückhalten musste, um die durch den Standesunterschied gezogene Grenze nicht mutwillig zu überschreiten.
So beschrieb der Herrnhuter Reiseprediger Weiz in seinem Nachruf auf Henriette von Württemberg eine Frau, der es entschieden darum ging, den Bedürftigen ein Nächster zu werden – eine Nächste zu sein.
Rolf-Chefbuch-Prilat aus dem Ruhrgebiet zeichnete das Porträt einer ungewöhnlichen Frau: blaues Blut, von Gott geadelt.