Der Vater
So erkläre ich es meinen Konfirmanden, liebe Gemeinde. Ich bin in einem Amtsgericht großgeworden. Mein Vater war Richter und bewohnte dort die Dienstwohnung im zweiten Stock. Der Gerichtssaal war nur einen Stock tiefer und deshalb habe ich auch an vielen Verhandlungen teilgenommen. Die meisten habe ich längst vergessen, aber an eine erinnere ich mich genau. Der blau befrackte Gerichtsdiener brachte einen jungen Mann herein, der sich leichenblass auf das Anklagebänkchen setzte. Vor lauter Scham wagte er gar nicht aufzusehen und vergrub seine Hände im Schoß. Vielleicht mag er 17 oder 18 gewesen sein, älter war er bestimmt nicht. Als der Staatsanwalt die Anklageschrift verlas, wurde es mäuschenstill, Selbst die abgebrühtesten Rentner auf der Zuhörerbank, die dort ihre Urteile austauschten, sprachen keine Silbe mehr. Was war geschehen? Die 16jährige Freundin dieses Angeklagten hatte von ihm ein Kind bekommen, und dieses Kind wollte er auf gar keinen Fall haben. Deshalb sann er darüber nach, wie er dieses unerwünschte Geschöpf beseitigen könnte. Dabei kam ihm ein schlimmer Gedanke, den er in die Tat umsetzte. Bei einem Besuch im Hause der Freundin nahm er in einem unbewachten Augenblick den vier Wochen alten Säugling aus der Wiege, presste ihn in seine Tasche, lief zum Haus hinaus, hinunter zur Brücke und warf alles in die Fluten.
Warum habe ich diesen Fall nicht vergessen? Warum weiß ich diesen Fall heute noch? Warum hat sich mir dieser Fall ganz tief ins Gedächtnis eingegraben? Doch einfach deshalb, weil Kinder von ihren Eltern weglaufen können, weil junge Männer ihre Mädchen versetzen können, weil Ehemänner ihre Ehefrauen sitzenlassen können, aber weil ein Vater nicht von seinem Kinde lassen kann. Und Gott ist Vater und Sie sind sein Kind. Er kommt nicht von Ihnen los. Sie mögen von ihm weggelaufen sein, weil Sie sich nichts mehr von diesem Gott versprachen. Sie mögen ihn versetzt haben, weil Sie sich von einer andern Religion angezogen fühlten. Sie mögen ihn sitzengelassen haben, weil Sie mit vielen andern Dingen und Problemen befasst waren. Gott lässt Sie nicht. Gott radiert Sie nicht aus. "Siehe, in meine Hände habe ich dich gezeichnet." Jochen Klepper, der schwerblütige Dichter und Schriftsteller, der unter dem Druck nazistischer Schergen mit 39 aus dem Leben schied, gab seinem breit angelegten Lebensroman den Titel: "Der Vater".
So könnte auch der Titel der ganzen Bibel lauten: "Der Vater". Jesaja verweist vor unserem Text auf die Hauptkapitel. Vom rettenden Vater ist die Rede, der sein Volk nicht in der Hitze Ägyptens verschmachten ließ, sondern mit Mose aus der Knechtschaft führte. Vom führenden Vater wird berichtet, der sein Volk nicht in der Tiefe des Meeres untergehen ließ, sondern das Meer teilte und einen Weg durchs Wasser bahnte. Vom schenkenden Vater wird erzählt, der sein Volk nicht in den Weiten der Wüste umkommen ließ, sondern ihm das gelobte, wunderschöne Land zuteilte. Schließlich wird in Evangelien und Briefen das Loblied vom barmherzigen Vater gesungen, der sein Volk in der Hoffnungslosigkeit besuchte und durch seinen Sohn Jesus Christus die Hoffnung schenkte. "Gelobt sei Gott der Vater, unseres Herrn Jesus Christus, der uns wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung." Heute nun soll mit diesen gewaltigen Psalmversen das Lob des Vaters erweitert werden.
1. Gelobt sei Gott, dieser bleibende Vater
Zu Mark Twain, dem schreibenden Globetrotter und tiefgründigen Beobachter, kam eines Tages ein siebzehnjähriger Sohn. Er war von daheim weggelaufen und schüttete diesem Mann sein Herz aus. Traurig und bitter brach es aus ihm heraus: "Ich verstehe mich mit meinem Vater nicht mehr. Er ist so rückständig und hat es immer mit der Vergangenheit. Er ist so gesetzlich und erteilt mir dauernd Vorschriften. Er ist so vernagelt für moderne Ideen. Ich laufe aus dem Haus. Ich halte es daheim nicht mehr aus. Ich kann ihn nicht mehr Vater nennen." So kommen viele Söhne und Töchter auf dem Weg in die vaterlose Gesellschaft und beschweren sich: "Ich verstehe mich mit meinem Vater nicht mehr. Er ist so fossil und redet nur von gestern. Er ist so autoritär und weiß alles besser. Er ist so blind für morgen. Ich laufe aus dem Haus. Ich halte es daheim nicht mehr aus. Ich kann ihn nicht mehr Vater nennen."
So kommen auch viele Gotteskinder und beklagen sich: "Ich verstehe mich mit dem Vater nicht mehr. Er passt einfach nicht mehr in unsere antiautoritäre Denkstrukturen. Gott als Vater ist für mich out. Natürlich gibt es so etwas wie einen Gott, nur nennen wir das anders: Schicksal, oder Vorsehung, oder Urgrund, Abgrund, Hintergrund des Seins. Und überhaupt gehört diese Rede vom 'Vater, Sohn und Co' in die zum Glück überwundene Zeit des Patriarchats. Ich kann ihn nicht mehr Vater nennen." So oder anders oder noch auf weitere hundert Arten suchen Kinder nur dies eine: Diesen Vater mit seiner freien und darum fordernden Liebe, mit seiner schenkenden und darum verpflichtenden Gnade, mit seiner intimen und darum persönlichen Nähe abzuschütteln. Ein väterlicher Gott ist nicht mehr gefragt. "Ewig-Vater, Friedefürst", nein danke.
Und dieser Gott kündigt die Vaterschaft nicht auf. Und dieser Gott straft die Aufmüpfigen nicht mit eiskalter Verachtung. Und dieser Gott verlässt nicht den Saal unserer Existenz und schlägt die Tür hinter sich zu. Dieser Gott hört nicht auf, hat nie aufgehört und wird in Ewigkeit nicht aufhören, Vater dieser emanzipierten Kinder zu sein. Sie mögen auf Umwegen gehen, die am Vater vorbeigehen sollen. Sie mögen auf Irrwegen herumstolpern, die im religiösen Nebel herumführen. Sie mögen auf Abwege geraten sein, die im Nichts enden, auf allen Wegen denkt der Vater an Sie und bleibt Ihr Vater. Erst beim Jüngsten Tag kann dieses schreckliche Wort zu hören sein: "Ich kenne euch nicht". Bis dahin gibt es nichts, was dieses Vater-Kind-Verhältnis außer Kraft setzen könnte. Auch im Unglück, in der Krankheit, im Todeskampf, kann ich sagen: "Du bist doch mein Vater." Gelobt sei Gott, dieser bleibende Vater!
2. Gelobt sei Gott, dieser hörende Vater
Mark Twain hörte sich damals den siebzehnjährigen Sohn an. Er ließ ihn ausreden. Dann gab er ihm folgende Antwort: "Junger Freund, ich kann Sie gut verstehen. Als ich 17 war, war mein Vater genauso ungebildet. Es war kein Aushalten. Es war zum Davonlaufen. Es war Dauerstreit im Haus. Aber haben Sie Geduld mit so alten Leuten, sie entwickeln sich. Nach 10 Jahren, als ich 27 war, hatte er schon so viel dazugelernt, dass man sich schon vernünftig mit ihm unterhalten konnte. Und was soll ich Ihnen sagen? Heute, wo ich 37 bin, ob Sie es glauben oder nicht, wenn ich keinen Rat weiß, dann rede ich mit meinem Vater und frage ihn sogar. So können die sich ändern." Der junge Mann hat diesen hintergründigen Ratgeber verstanden. Natürlich ändert sich der Vater nicht, aber der Sohn kann sich so verändern, dass er wieder mit dem Vater spricht. Mark Twain wollte auf seine Weise unterstreichen, was Jesaja schon sagt: Mit dem Vater kann man reden.
Mit Abraham kann man das nicht. Der ist schon längst in der Höhle von Machpela bestattet. Mit Isaak kann man das auch nicht. Der ist schon längst in Kirgat-Auba beerdigt. Mit Jakob kann man das auch nicht. Der ist schon längst in den Acker von Efran gelegt worden. Mit niemand kann man das, auch nicht mit andern Gottheiten. Zeus wohnt auf dem hohen Olymp. Buddha thront in ferner Entrücktheit. Allah ist nicht zu sprechen. Es gibt gar keine andere Religion, die ihren Gott als Vater bezeichnet, deshalb ist jede Weltreligion vaterlos, kinderlos, trostlos. "Du Herr, bist unser Vater", können wir Christen sagen und wissen: Er hört. Er hat ein gutes Ohr. Krieg und Krach, Klamauk und Krawall haben ihn nicht schwerhörig gemacht. Auch in einer laut gewordenen Welt hört er seine Kinder. Er hat ein offenes Ohr. Selbst die ewigen Klagen und Anklagen haben sein Ohr nicht verschlossen. Er ist offen für unsere verzweifelten Anfragen, die in uns fressen wie der Krebs. Er hat ein feines Ohr. Durch alle vordergründigen Geräusche hindurch hört er das flehentliche Weinen seiner Kinder. Er hört die Untertöne, Zwischentöne und Obertöne. Wenn Sie also nur noch leise reden können, weil Ihnen die lauten und vorlauten Töne zuwider geworden sind, er hört Sie. Wenn Sie nur noch klagen können, weil Ihnen die Last zu groß geworden ist, er leiht Ihnen sein Ohr. Wenn Sie nur noch weinen können, weil der Schmerz zu groß ist, er lässt mit sich reden. Gelobt sei Gott, dieser hörende Vater!
3. Gelobt sei Gott, dieser kommende Vater
Ob dem 17jährigen Sohn bei Mark Twain ein Licht aufging? Ob ihm die Lebenserfahrung eines Älteren ein Stück weitergeholfen hat? Ob es zu einem neuen Verhältnis in seinem Elternhaus kam? Wir wissen nicht, wie diese Geschichte zwischen Vater und Sohn ausgegangen ist, aber wir könnten wissen, wie die Geschichte zwischen uns und Gott ausgeht.
Dieser Ewig-Vater hat es sich in seiner heiligen, herrlichen Wohnung nicht gemütlich gemacht und wartet, bis sich das Herrensöhnlein eines Besseren besinnt und nach Hause trollt. Unsere Fremde geht ihm ans Herz. "Da jammert Gott in Ewigkeit mein Elend übermaßen." Deshalb zerreißt er den Himmel. In seinem Sohn kommt er auf die Erde. Die Engel wissen: "Fürchtet euch nicht, siehe ich verkündige euch große Freude, denn euch ist heute der Heiland geboren." Das ist Weihnachten. Deshalb zerreißt er den Vorhang im Tempel. Seither gibt es freien Zugang zum Heiligen. Der Apostel sagt: "Lasst uns herzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade." Das ist Karfreitag. Deshalb zerreißt er den Felsen am Grab. Als Auferstandener hat er dem Tod die Macht genommen. "Ich lebe und ihr sollt auch leben!" Das ist Ostern.
Und einmal wird er auch jene hauchdünne Wand zerreißen, die uns jetzt von der unsichtbaren Wirklichkeit trennt. Er wird vor uns stehen in Herrlichkeit und Heiligkeit. Auch der letzte Zweifler und Skeptiker muss dann bekennen: "Herr, du bist unser Vater." Das ist Advent. Warten auf den Vater, der seine Kinder nicht lässt. Gelobt sei Gott, dieser kommende Vater, dieser hörende Vater, dieser bleibende Vater.
Mir ist dabei wieder jenes Bild des französischen Malers Burnand in den Sinn gekommen. Es ist nicht besonders bekannt und wohl auch nicht besonders bedeutend. Als Kunstwerk hat es sich keinen Namen gemacht. Aber für mich ist es tief eindrücklich geblieben: "Der Vater auf der Suche nach dem Sohn." Ganz weit im Hintergrund steht sein Haus. Von dort ist er über Berge und Täler gegangen, um seinen Sohn zu suchen, von dem er nicht los kommt. Jetzt steht er auf einer kleinen Anhöhe. Die Hand hat er über die Augen gelegt. Angestrengt sucht er den Horizont ab. Seine ganze Erscheinung ist Sehnsucht, Erwartung, Liebe. Wissen Sie, dass Gott so nach Ihnen ausschaut? Jesaja hat recht: "Kein Ohr hat je gehört, kein Auge hat je gesehen, einen Gott außer dir, der so wohl tut."
Amen
[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]