Liebe Gemeinde,
in meiner früheren Stuttgarter Heimatgemeinde hatten wir einen begnadeten, dichterisch begabten Gemeindepfarrer. Als junge Männer haben wir immer darauf gewartet, dass die Neujahrspredigt mit den Worten beginnt: „Wie ein weites, unberührtes Schneefeld liegt das neue Jahr vor uns.“ Unberührt von Spuren, aber einladend zu mutigen Schritten.
Es stimmt ja auch, dass uns das neue Jahr manchmal so vorkommt – unberührt wie ein weites Schneefeld ohne Spuren.
Jetzt sagt der Apostel Petrus – und er muss es wissen –, dass Jesus uns eine Spur hinterlassen hat, der wir nachfolgen sollen, dass wir seinen Fußstapfen folgen. Im Volk Gottes war es immer so, dass er vorausging, schon beim Auszug aus Ägypten.
Der Herr Jesus hat es genauso gehalten: Er ging seinen Jüngern voraus. Wenn wir ihm gehören wollen, dann ist vieles von dem, was wir noch gar nicht ahnen, vorbedacht und vorgeplant. Es ist in seinen Plan mit hineingenommen, dass wir seinen Fußstapfen nachfolgen sollen.
Die Spur Jesu als Leitlinie für das neue Jahr
Beim Apostel Petrus geht es weiter: Er wurde nicht zurückgeschmäht, sondern widerstand den Schmähungen. Als er geschmäht wurde, drohte er nicht, obwohl er litt. Stattdessen überließ er es Gott, der gerecht richtet.
Das ist wie ein Kommentar zu der Jahreslosung, die uns heute in der Christenheit für das Jahr 2011 gegeben ist, aus dem Römerbrief: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“
Man könnte erschrecken, wenn in einer Jahreslosung vom Bösen gesprochen wird, wo doch alle Neujahrsansprachen darauf ausgerichtet sind, dass Frieden herrscht und alles gut bleibt, dass wir bewahrt bleiben. Die Bibel ist nüchtern. Sie spricht vom Bösen, und wir brauchen davor nicht die Augen zu verschließen.
Der Pfarrer Otto Riedmüller, zuerst Pfarrer in Esslingen und später Leiter der evangelischen Mädchenarbeit in Deutschland, hat 1933 erlebt, wie man vom Bösen überwunden werden kann. Der dichterisch begabte Otto Riedmüller dichtete Lieder über den prophetisch geschenkten Adolf Hitler als Retter des Volkes.
Doch dann hat ihm der Herr Jesus geholfen, dass er sich nicht länger vom Bösen überwinden ließ. Er dichtete: „In die Wirrnis dieser Zeit fahre Strahl der Herrlichkeit, zeig den Kämpfern Platz und Pfad und das Ziel der Gute. In der Wirrnis dieser Zeit!“
In jenen Jahren gab er der evangelischen Mädchenarbeit die Losung: „Der Herr ist unser Meister. Der Herr ist unser Richter, der Herr ist unser König, der hilft uns, nicht unser neuer Reichskanzler.“
Da wurde das Böse vom guten Herrn Jesus überwunden, und er hat hineingegeben in die evangelische Jugendarbeit die Monatssprüche und die Jahreslosungen. So soll uns in diesem Jahr dieses Wort als Motto begleiten: „Lass dich doch nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde du das Böse mit Gutem.“
Die Realität des Bösen und die Kraft des Guten
Noch einmal: Wir dürfen nicht die Augen davor verschließen, dass es Böses gibt. Von Jesus, der in unsere Welt gekommen ist, wird berichtet, wie viel Entehrung und Hass er erlebt hat. Wie viel Einsamkeit, wie oft er von seinen engsten Freunden missverstanden wurde und wie oft seine guten Absichten fehlinterpretiert wurden.
Doch noch bevor Jesus auch nur ein Wunder vollbracht hatte, war da der Versucher, der ihn von Gott wegziehen wollte. Er wollte einen Keil zwischen den Vater im Himmel und Jesus treiben. Jesus wusste genau, was er meinte. Wenn er seine Jünger lehrte zu beten: „erlöse uns vom Bösen“, dann war damit nicht nur das Übel gemeint, das uns manchmal das Leben schwer macht oder uns krank werden lässt. Es ging nicht nur darum, dass der Böse da ist.
Wenn wir sagen, es ist „wie vom Teufel leibhaft“, dann ist der Teufel manchmal tatsächlich leibhaftig da. Vielleicht sind wir oft viel zu harmlos oder viel zu euphorisch. Der Apostel Paulus bezeugt in Römer 7: „Ich weiß, dass in mir, das heißt in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt.“ Er sagt nicht „wenig“, sondern „nichts“. Das Gute, das ich will, tue ich nicht; das Böse, das ich nicht will und vor dem ich ekle, das tue ich. Er ruft aus: „Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen?“
Wir müssen die Augen nicht davor verschließen, dass auch im neu begonnenen Jahr Böses existieren wird und existieren kann. Vielleicht erschrecken wir zuerst, wenn wir uns selbst im Spiegel betrachten. Wer bin ich, dass ich so reagiere? Dass ich so am Geld hänge? Dass ich mich von Sorgen so überrennen lasse?
Wir dürfen die Augen nicht davor verschließen, dass Jesus gesagt hat: „Der Fürst dieser Welt ist der Teufel, der Durcheinanderbringer, der Böse in Person.“ Selbst in unserer Gemeinde werden wir erleben, dass er versucht, Zwiespalt und Unruhe hereinzubringen. Er versucht, uns zu überwinden und in seine Klauen zu bekommen.
Davon spricht die Jahreslosung in großer Nüchternheit. Noch einmal: Wir dürfen die Augen nicht davor verschließen. Aber und das ist das Wichtige: Wir müssen nicht aufgeben, nicht kapitulieren und nicht resignieren.
Hoffnung und Möglichkeiten des Guten in einer bösen Welt
In dieser Welt, in der es so viel Böses gibt, kann unendlich viel Gutes bewirkt werden.
In den nachnapoleonischen Zeiten herrschte großes Elend. Viele württembergische Schultheißen schickten die weißen Kinder einfach auf die Straße und sagten: „Wir haben kein Geld in unserem Dorf, bettelt!“ Die Not der Straßenkinder, wie sie heute in Nairobi und Rumänien zu finden ist, gab es damals auch in Württemberg und Baden.
Doch es gab einige Christen in Beugen, Korntal, Tempelhof, Kirchheim und in Stuttgart-Lichtenstern, die in den Hungerjahren damals, obwohl selbst blutarm, Geld spendeten, damit die Kinder eine Heimat finden konnten. Es entstanden Kinderrettungsanstalten.
Man kann also in einer bösen Welt, in der viel Arges geschieht, unheimlich viel Gutes bewirken.
Vor wenigen Wochen wurde daran erinnert, dass Henri Dunant, der Schweizer Gründer des CVdM und des Roten Kreuzes, bittere Jahre durchlebt hat, als ihn Stuttgarter Freunde an der Hasenbergsteige aufgenommen haben.
Er hatte zuvor in Solferino die unvorstellbar grauenvollen Schrecken des Krieges erlebt – zwischen Österreich und Napoleon. Das Schreien und Stöhnen der Sterbenden und Verwundeten war allgegenwärtig. Viele sagten, man könne nichts machen. Doch er packte an: Er mobilisierte einige Mägde aus den Dörfern um Solferino, richtete in Scheunen Lazarette ein und rief dann zum Roten Kreuz auf.
Bis heute tut diese Organisation segensreichen Dienst. Man kann also in einer bösen Welt unheimlich viel Gutes bewirken.
Vorgestern wurde ein Kassenkamerad beerdigt. Dabei wurde auch an Norbert Helmes aus Lehenberg erinnert. Es hieß, immer dort, wo der Dreck im Gassenzimmer am schlimmsten war, wo Orangenschalen auf dem Boden lagen und die Kreide unaufgeräumt war, war Norbert da, um diese unwürdigen Zustände zu beseitigen. Er war der gute Geist unserer Klasse mitten im Durcheinander.
Das Papier auf dem Boden und die Orangenschalen waren nebensächlich. Norbert wollte Gutes bewirken – angefangen bei kleinen Dingen.
Als im Remstal der Alkoholismus zu einer Volksnot wurde – ähnlich wie heute in Russland und manchmal auch bei uns, besonders bei jungen Leuten – begannen ein paar Christen, ihre Weinberge umzugraben und Johannisbeer- sowie Stachelbeersträucher anzupflanzen. Sie gründeten Saftfabriken, die christlichen Saftereien unseres Landes, wie die der Familie Kumpf und anderer.
In den Jünglingsvereinen begann man, nur Sprudel zu trinken. Sie nahmen es auf sich, als „Zuckerwasser-Club“ zu gelten. Sie tranken kein Bier, sondern ihre Säfte.
Damit setzten sie eine Bewegung in Gang, die in der Not des Alkoholismus, die viele Familien zerstört hatte, etwas Neues entstehen ließ.
Der Bruder Wittek könnte uns lange erzählen, wie auch im Remstal heilsame Spuren entstanden sind – mitten in einer bösen Welt.
Man kann also in einer Welt, in der viel Arges geschieht, Mut schöpfen, das Böse zu überwinden.
Die Herausforderung, das Gute zu tun trotz eigener Schwächen
Aber als ich einmal einem Gemeindeglied, das furchtbar geklagt hatte, wie böse die Menschen um sie herum seien, gesagt habe: „Diese Jahreslosung – lass dich doch nicht vom Bösen überwinden, werd doch nicht bitter, sieh doch nicht nur Feinde um dich –, soll heißen: Überwinde das Böse mit Gutem“, da ist aus diesem Menschen etwas herausgebrochen, das nicht von dieser Welt war.
Die Not sind doch nicht nur die Menschen um uns herum. Es geht nicht darum, dass wir nicht wüssten, was das Gute ist, sondern dass wir es oft nicht tun können. So wie es der Apostel Paulus sagt: „Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen finde ich nicht.“ Mit dir, du starker Heiland, muss uns der Sieg gelingen.
Deshalb wird in der Jahreslosung nicht nur vom Guten gesprochen, tatsächlich vom Guten, sondern auch davon, dass der Herr gut ist. Kein Elend ist so groß, dass er nicht die Kraft und Neigung hätte, uns zu schützen. Der gute Herr kann uns auch vor uns selbst schützen, vor Ängsten und vor dem Bösen. Und vor dem, was uns fertig machen will, vor Ärger. Der Herr ist gut.
Im Neuen Testament wird uns eine Geschichte erzählt, die mit den Worten von Jesus endet: „Bei den Menschen ist es unmöglich, aber bei Gott sind alle Dinge möglich.“ Es ist der Bericht von jenem reichen jungen Mann, den wir als den reichen Jüngling bezeichnen.
Er war zu Jesus gekommen und hatte ehrfürchtig gesagt: „Guter Meister.“ Jesus unterbrach ihn fast schroff, erstaunlich schroff: „Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als Gott allein.“ Davon hat Jesus gelebt, als er vom Bösen angefochten wurde. Auch in der Versuchung, wie das Wort Gottes sagt: „Gott allein sollst du dienen.“ An diesem Wort hat sich Jesus orientiert.
Und der Jesus, der gesagt hat: „Vater, befehle meinen Geist in deine Hände“, konnte auch sagen: „Vater, vergib ihnen, sie wissen nicht, was sie tun.“ Er hat in der Verbundenheit mit seinem Vater die Welt überwunden.
Daher kommt ja auch das Wort „überwunden“, das der Apostel Paulus aufgreift: Er erinnert an den Kampf, den Herr Jesus in der Kraft seines Vaters durchgestanden hat. Zu den Jüngern hat Jesus gesagt: „Ihr werdet mich alle allein lassen, es kommt der Fürst dieser Welt.“ Meint er damit den Teufel? „Aber ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir.“
Vertrauen auf Gottes Beistand im neuen Jahr
Liebe Schwestern und Brüder, das soll uns heute Morgen gewiss gemacht werden: Wir sind Leute des Herrn Jesus. Wir gehen hinein in ein neues Jahr. Vielleicht kommt viel Schweres auf uns zu, aber der Vater ist bei uns.
Wir sind eingeladen zu einem ganz neuen Zutrauen zu Gott, dem frommen Gott, dem Brunnenquell guter Gaben. Es gibt so viele Chöre und Gesangbuchlieder, die ehrfürchtig und zugleich dankbar bekennen: Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut, dem Vater aller Güte, dem Gott, der alle Wunder tut, dem Gott, der mein Gemüt mit seinem reichen Trost erfüllt.
Deiner Güte Morgentau, fall auf unser mattes Gewissen! Denn manchmal ist unser Gewissen matt, und wir haben gar keinen Mut mehr für den neuen Tag, wenn wir erschrocken sind über uns selbst. Deiner Güte Morgentau, fall auf unser mattes Gewissen!
„Gott ist das Größte, das Schönste und Beste, Gott ist das Süßeste und Allergewünschteste, von allen Schätzen der edelste Hort.“ Ich empfinde es immer so, dass das ein ganz anderer Klang ist, als wenn heute, so wie es immer mehr zur Sitte wird, Gebete in der Christenheit mit „guter Gott“ beginnen. Das klingt, als hätte mein Klassenlehrer unter meine Arbeit geschrieben: „Zwei plus“ – zwar nicht sehr gut, aber auch nicht ganz schlecht.
Der Apostel Paulus sagt von Gott, der allein weise ist und der allein Unsterblichkeit hat. So müsste ich auch sagen: Gott ist der allein Gute, allein gut, nicht wir. Deshalb, wenn diese Jahreslosung mich durch das Jahr begleiten soll, möchte ich sie immer so hören: Du brauchst dich nicht vom Bösen überwinden lassen.
So darfst du damit rechnen, dass du das Böse überwinden kannst – mit ihm, dem guten Gott, der allein gut ist. Es ist mein Gebet, dass wir das miteinander erfahren.
Gebet und Fürbitte angesichts weltweiter Herausforderungen
Auch heute Morgen gab es wieder einen Anschlag auf die Kirche in Ägypten. Christen sind angefochten und erleben Verfolgung.
In wenigen Tagen finden die Wahlen im Sudan statt. Es besteht die Sorge, ob der christliche Süden vom stark muslimisch geprägten Norden verdrängt werden soll. Es wird auch befürchtet, dass es im Norden, in Khartum, keine christliche Gemeinde mehr geben wird, weil die Christen möglicherweise vertrieben werden.
Diese Ängste stellen die Frage: Wie sollen wir abstimmen? Was wird richtig sein? Wird es nicht erneut Streit um die Ölquellen im Mischgebiet zwischen Nord und Süd geben?
Es gibt so viel grauenvoll Böses, und niemand weiß, wie eine politische oder ökonomische Regelung aussehen soll. Doch welches Vorrecht ist es, dass wir wissen, wem wir vertrauen dürfen!
Sei Lob und Ehr dem Höchstengut, dem Vater aller Güte! Er ist auch jetzt noch da. Ihm dürfen wir unsere Geschwister in Ägypten und im Sudan anvertrauen – ebenso wie uns selbst in unseren Häusern und Gemeinden.
Wir befehlen sie dem Gott an, der alle Wunder tut und auch den Bösen überwinden kann. Amen.
