Gottes Offenbarung und der Zorn über den Menschen
Ja, wir müssen jetzt fortfahren und zum nächsten Punkt kommen. Das Evangelium offenbart Gottes Herrlichkeit als Erstes. Es ist Gottes Evangelium, es geht von ihm aus. Es ist Gottes Kraft, Gottes Weisheit, Gottes Gerechtigkeit, die sich darin zeigen.
Der zweite Punkt ist das Gegenstück: der Mensch, der unter Gottes Zorn steht. Das Stichwort wird gleich gegeben: Römer 1,1-17. Man nennt diesen Abschnitt gewöhnlich die Einleitung des Briefes. Doch in dieser Einleitung stehen bereits wichtige Wahrheiten. Meistens nennt man sogar die Verse 16 und 17 als die Schlüsselverse des Römerbriefes, und das ist sicher auch angemessen.
Nach dieser Einleitung, Römer 1,1-17, folgt Römer 1,18-3,21, wo der Zorn Gottes offenbart wird. Es heißt dort: „Denn es wird geoffenbart Gottes Zorn vom Himmel her über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, welche die Wahrheit in Ungerechtigkeit besitzen, weil das, was von Gott erkennbar ist, unter ihnen offenbar ist, denn Gott hat es ihnen geoffenbart. Denn das Unsichtbare von ihm, sowohl seine ewige Kraft als auch seine Göttlichkeit, wird von der Schaffung der Welt an im Geschaffenen wahrgenommen, damit sie ohne Entschuldigung seien.“
Dann in Römer 2,5: „Nach deiner Sturheit und deinem unbußfertigen Herzen aber häufst du dir selbst Zorn auf am Tag des Zorns und der Offenbarung des gerechten Gerichts Gottes.“
In Römer 2,8 heißt es: „Denen aber, die streitsüchtig unter der Wahrheit ungehorsam sind und der Ungerechtigkeit gehorsam, wird Zorn und Grimm zuteil.“
Kapitel 3, Vers 5 fragt: „Wenn aber unsere Ungerechtigkeit Gottes Gerechtigkeit erweist, was sollen wir sagen? Ist Gott etwa ungerecht, der Zorn auferlegt?“
Römer 4,15 sagt: „Denn das Gesetz bewirkt Zorn.“
In Römer 5,9 lesen wir: „Vielmehr nun, da wir jetzt durch sein Blut gerechtfertigt sind, werden wir durch ihn gerettet werden vom Zorn.“
Römer 9,22: „Wenn aber Gott willens ist, seinen Zorn zu erzeigen und seine Macht kundzutun, hat er mit vieler Langmut die Gefäße des Zorns ertragen, die zubereitet sind zum Verderben.“
Römer 12,19 mahnt: „Rächt euch nie selbst, Geliebte, sondern gebt Raum dem Zorn; denn es steht geschrieben: Mein ist die Rache, ich will vergelten, spricht der Herr.“
Ich habe diese Stellen vorgelesen, damit wir einen Eindruck davon bekommen, wie wichtig es Paulus war, bei der Auslegung und Erklärung des Evangeliums Gottes Zorn zu lehren – die Tatsache des Zornes Gottes und die Ursache des Zornes Gottes.
Der Zorn Gottes ist begründet. Ich wiederhole jetzt ganz kurz diesen einen Punkt von vorhin: Wir tun den Geschwistern in den Gemeinden und auch unseren Mitmenschen Unrecht, wenn wir ihnen diese Wahrheit vorenthalten. Es genügt nicht, den Menschen zu sagen, ihr Leben sei leer und sinnlos, weil sie Gott nicht kennen und Christus nicht haben. Das stimmt zwar, aber Paulus sagt das nicht so. Er sagt nicht, das Problem des Menschen sei, dass ihm alles so sinnlos erscheint. Das Problem des Menschen ist, dass er unter Gottes Zorn steht.
Und zwar unter Gottes Zorn, weil er, wissend, dass ein Schöpfer existiert, diesen Schöpfer verworfen hat und darum diesen Zorn verdient – ohne Entschuldigung.
Beachten wir im Vers 18: „Es wird geoffenbart.“ Man könnte darüber stolpern und meinen, Paulus spreche hier von der Zukunft. Nein, es wird – das ist Gegenwart. Er sagt nicht „es wird geoffenbart werden“. Er spricht nicht vom kommenden Offenbarwerden des Zornes, sondern vom Zorn Gottes, der jetzt über den Menschen steht, weil sie Gott, den Schöpfer, verwerfen und so leben, als seien sie Herren ihrer selbst und verdankten Gott nichts.
Die Realität von Gottes Zorn und die menschliche Verantwortung
Und so müssen wir schon vorsichtig sein, wenn wir den Menschen immer einfach sagen: Gott liebt die Menschen. Gott hat die Welt geliebt und es bewiesen in der Hingabe seines Sohnes. Ja, aber beachten wir, dass dies in der Vergangenheit formuliert ist. Man könnte es auch so übersetzen: Gott hat einen solchen Erweis der Liebe gezeigt. Das ist der gigantische Liebesbeweis Gottes.
Gott hat bewiesen, dass er seiner Natur nach Liebe ist. Aber der Mensch, der Gott und dem Evangelium trotzt, von dem sagt der Herr Paulus: Gottes Zorn steht über ihm. Das ist ja die furchtbare Wirklichkeit. Paulus ist nicht der Einzige, der das sagt. Das sagt auch Johannes der Täufer, und zwar gerade in Johannes 3, in diesem wunderbaren Kapitel, wo der Herr davon redet, dass er als Menschensohn auf die Erde kam, um, wie damals die Schlange erhöht wurde, erhöht zu werden. Damit jeder, der ihn sieht und glaubt, errettet werde.
Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt. Dort hat er bewiesen, dass er die Welt liebt, dort hat er bewiesen, dass er Liebe ist, dass er seinen Sohn dahingab. Aber im gleichen Kapitel, Johannes 3, steht in Vers 36: Wer an den Sohn glaubt, hat ewiges Leben. Wer aber dem Sohn nicht glaubt, wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt auf ihm.
Er sagt nicht, der Zorn Gottes kommt auf ihn, sondern: der bleibt auf ihm. Er ist jetzt schon auf ihm und bleibt auf ihm. Und ich befürchte, dass wir die Tatsache des Zornes Gottes als bloße Tatsache fast vollständig in den Hintergrund gedrängt haben. Ja, in den Hintergrund haben wir es gedrängt, aber fast unter den Tisch gekehrt.
Das muss man am Rand so ein bisschen noch kurz sagen: Wenn du nicht glaubst, dann kommst du in die Hölle. Aber schnell gehen wir weiter. Es ist uns irgendwie in unserer Zeit schwierig geworden, darüber zu reden. Ich habe auch Schwierigkeiten. Ich sage auch lieber: Ja, Gott will ja nur unser Bestes. Das sage ich auch lieber und verschweige dann, dass Gottes Zorn über uns steht.
Das, was Paulus hier sagt, und dann begründet er es, müssen wir sehr gut beachten: Gottes Zorn ist nicht willkürlich, Gottes Zorn ist begründet. Begründet in der Wahl und in der Gesinnung des Menschen.
Vorhin habe ich gesagt, die Errettung ist begründet, die Errettung, das ewige Leben, in der Gnadenwahl Gottes. Das ist in Gott begründet, die Errettung. Aber die Sünde und der Zorn, der ist in uns begründet, den haben wir verdient. Und darum ist niemand entschuldigt. Damit sie ohne Entschuldigung seien, weil sie Gott kennen, aber ihn nicht als Gott verherrlichen (Römer 1,20-21).
Die Folgen der Verwerfung Gottes und die Verniedlichung der Wahrheit
Hier werden wir daran erinnert, dass beim Evangelium und bei allen Werken Gottes die Herrlichkeit Gottes das Oberste ist. Diesen Satz sollten wir uns gut merken: Der Mensch, der Gott nicht durch Glauben und Gehorsam verherrlicht, kommt deshalb in die Hölle, steht unter Gottes Zorn und wird ewig unter diesem Zorn bleiben, weil er Gott nicht verherrlicht.
Wir neigen dazu, das alles ein wenig zu verniedlichen und denken, der Mensch sei halt ratlos, ein armer Tropf. Natürlich hat Gott Erbarmen, das weit über unser menschliches Erbarmen hinausgeht. Wir lesen auch davon, dass es den Herrn – in der Sprache Luthers – „jammerte“, als er die Menschen sah, das Volk Israel, zerstreut wie Schafe ohne Hirten. Es jammerte ihn.
Doch dieser gleiche Herr, den es jammerte, hat auch mehr über die Hölle gesprochen als alle übrigen Bücher der Bibel zusammen. In den Evangelien hören wir am häufigsten und am meisten von der Hölle. Sie ist die Vollendung von Gottes Zorn, bereitet für den Teufel und seine Engel. Jesus sagt: „Geht von mir, ihr Verfluchten!“ Das sind Worte aus dem Mund des Herrn selbst, dessen Herz voller Liebe für uns ist – eine Liebe, die wir kaum begreifen können.
Der Zorn Gottes ist begründet. Womit? Weil die Menschen Gott kennen und sich weigern, ihm die Ehre zu geben. Sie verweigern die Anerkennung, dass er alles erschaffen hat, dass sie ihm alles verdanken und ohne ihn nichts sind und nichts haben.
Gottes Zorn äußert sich folgendermaßen: Dass der Zorn Gottes über den Menschen steht, zeigt sich darin, dass Gott die Herzen der Menschen der Torheit und Verfinsterung übergibt. Das ist schon ein Ausdruck von Gottes Zorn.
Wenn ich bedenke, dass seit einigen Generationen – besonders in den letzten Jahrzehnten – in nahezu hemmungsloser Weise überall in den Medien, Schulbüchern und Zeitungen beständig behauptet, gelehrt und gesagt wird, Gott sei kein Schöpfer, wir seien nicht seine Geschöpfe und Gott habe die Welt nicht erschaffen, dann müssen wir das in diesem Licht sehen. Es ist ein Ausdruck dafür, dass Gottes Zorn in besonderer Weise über uns steht und dass er uns in seinem Zorn dahingegeben hat.
Dass solche Gedanken heute von vielen geglaubt, vertreten und verkündigt werden, ist ein Ausdruck von Gottes Zorn. In Vers 23 heißt es als zweite Begründung, warum Gottes Zorn über ihnen steht: „Sie haben die Herrlichkeit des unverweslichen Gottes verwandelt in das Gleichnis eines Bildes von einem verweslichen Menschen und von Vögeln, von vierfüßigen und kriechenden Tieren.“
Statt Gott, dem Schöpfer, die Ehre zu geben, haben sie andere Kräfte und Mächte als Urheber des Lebens und aller Dinge proklamiert. Das ist auch der Kern des Evolutionsglaubens. Dann sind Materie, Zeit, Zufall und ungesteuerte Energie Gott. So wird die Herrlichkeit des lebendigen Gottes verwandelt in Gedanken, die Menschen sich zurechtlegen.
Die Folge davon ist, dass Gott sie dahingegeben hat in die Gelüste ihrer Herzen, sodass sie in Unreinigkeit ihre Leiber untereinander schänden. Das ist ein auffälliger Zusammenhang. Paulus sagt, eine Folge davon ist, dass Gott die Menschen dahingegeben hat, sich selbst und ihre Leiber zu schänden.
Die Jahrzehnte seit dem Zweiten Weltkrieg – eigentlich begann es schon nach dem Ersten Weltkrieg, aber nach dem Zweiten Weltkrieg in völlig hemmungsloser Weise – sind die Zeit, in der der Glaube an den Schöpfer ganz ersetzt wurde durch den Glauben an Materie, Energie, Zeit und Zufall. Das ist auch die Zeit, in der Gott die Menschen dahingegeben hat, alle Hemmungen zu verlieren, sich und ihre Leiber zu schänden und sich dessen sogar noch zu rühmen.
Das ist ein Ausdruck von Gottes Zorn, von Gottes verdientem Zorn. Es ist kein Unglück oder das Schicksal bemitleidenswerter Geschöpfe, dass ihnen so etwas passiert ist. Nein, es ist bewusst gewählter Unglaube, trotz allem gegen Gott, so sagt es Paulus.
Die Folgen der Lüge und der Ablehnung Gottes
Und dann eine dritte Begründung: Sie haben die Wahrheit Gottes in Lüge verwandelt (Vers 25) und dem Geschöpf mehr Verehrung und Dienst dargebracht als dem Schöpfer. Der Mensch wird alles, und Gott ist nichts.
Als Folge davon hat Gott sie dahingegeben in schändliche Leidenschaften. Hier wird das angesprochen, was gerade in den letzten Jahren, in den letzten wenigen Jahren, eine geradezu entsetzliche Aktualität bekommen hat. Sowohl ihre Frauen haben den natürlichen Gebrauch in den unnatürlichen verwandelt, als auch die Männer haben gleichermaßen den natürlichen Gebrauch der Frau verlassen. In ihrer Wollust sind sie zueinander entbrannt und haben Männer mit Männern Schande getrieben.
Schließlich gibt es eine vierte Begründung: Sie fanden es nicht für gut, Gott in Erkenntnis zu haben. Sie wollten nicht nach Gott und seiner Erkenntnis trachten. „Nach was soll das?“ – so dachten sie. Darum hat Gott sie dahingegeben in einen verworfenen Sinn.
Wir sehen, es geht schrittweise vor sich. Gott ist immer der barmherzige und geduldige Gott, langsam zum Zorn. Aber langsam zum Zorn bedeutet nicht, dass Gott nicht zürnt. Und es bedeutet auch nicht, dass dieser Zorn nie offenbar wird. Er wird offenbar werden.
Der Mensch steht wegen der Sünde unter Gottes Zorn. Das müssen wir voll und ganz anerkennen. Wir dürfen diese kantigen Wahrheiten nicht abschwächen oder beschönigen, nur weil sie uns unbequem sind.
Diese Wahrheiten waren damals in der heidnischen Welt genauso anstößig und aufregend für die Menschen wie heute.
Die Dringlichkeit der Erkenntnis von Gottes Zorn
Nun, warum ist es so wichtig, dass wir erkennen, wie Paulus oder durch Paulus Gott den Menschen darstellt?
Erst dadurch erkennen wir, woraus der Mensch errettet werden muss. Wenn wir einfach denken, der Mensch wisse nur noch nicht Bescheid und darum sei sein Leben so sinnlos, dann irren wir. Man könnte meinen, man müsse ihm nur sagen, wie es richtig ist, und dann würde er von selbst das Richtige wählen. So würde es ihm wieder besser gehen. Doch mit diesem Denken und Reden gehen wir an der Wirklichkeit vorbei.
Die Menschen sind Sünder. Sie haben die Sünde gewählt. Wegen der Sünde sind sie Knechte, Sklaven der Sünde geworden. Sie stehen unter Gottes Zorn. Das verleiht der ganzen Sache eine völlig andere Dringlichkeit.
Es zeigt auch, dass der Mensch völlig hilflos ist und ganz auf Gottes Erbarmen angewiesen ist. Auf das Erbarmen eines Gottes, den er durch seine Sünde herausgefordert hat. Gott schuldet niemandem Erbarmen.
Auch das ist ein Denken, das wir hier haben: „Gott wird mir schon vergeben, denn das ist sein Geschäft.“ Das ist der böse Spruch von Heinrich Heine: „Die me pardonera, car c’est son métier.“ Er sagte das, als Leute ihn auf sein Lebensende hin ansprachen. „Gott wird mir schon vergeben, denn das ist sein Metier, das ist ja sein Geschäft.“
Gott schuldet dem Menschen keine Barmherzigkeit. Er schuldet uns gar nichts. Zu Recht ist Gottes Zorn über uns. Das soll uns lehren, dass wir uns vor diesem Gott niederwerfen. Denn er ist Gott. Und wir sind bloße Geschöpfe. Und erst noch verdrehte, böse Geschöpfe.
Gottes Zorn im Alten Testament und die Lage Israels in Ägypten
Paulus hat das verkündigt. Stellt euch vor: In Athen, dieser vornehmen Metropole der Kultur und der Denker, wo die Philosophenschulen einander den Rang abliefen, hat Paulus gepredigt. Er predigte vor diesen Snobs, den intellektuellen und kulturellen Snobs.
Und was hat er ihnen gepredigt? Den Schöpfer und den Richter. In Apostelgeschichte 17 predigt er dort vom Schöpfer, vom Richter und vom Tag des Gerichts. Das waren natürlich sehr deutliche Wahrheiten für diese kultivierten Denker und für diese verwöhnten Menschen.
Woran zeigt sich nun Gottes Zorn? Das haben wir bereits in Römer 1 gesehen. Jetzt wollen wir das auch in 2. Mose 1 noch einmal betrachten. In 2. Mose 1 wird die Lage Israels in Ägypten beschrieben. Sie ist gekennzeichnet durch zweierlei: Knechtschaft und Tod.
Ich lese die Verse 13 und 14: „Die Ägypter hielten die Kinder Israel mit Härte zum Dienst an. Sie machten ihnen das Leben bitter durch harten Dienst in Lehm und in Ziegeln.“ Also Knechtschaft.
Und dann Vers 22: „Da gebot der Pharao all seinem Volk und sprach: Jeden Sohn, der geboren wird, sollt ihr in den Strom werfen; jede Tochter aber sollt ihr leben lassen.“ Das bedeutet Tod – ein Beschluss zur Ausrottung. Knechtschaft und Tod.
Man hört ja manchmal von verschiedenen theologischen Systemen. Es gibt auch die sogenannte Theologie der Befreiung, die anhand des Zweiten Mosebuches eine Theologie aufgebaut hat. Ein Aufruf zur Befreiung von allen Drückern und Unterdrückern. Man könnte den Eindruck gewinnen, es handele sich hier um den heroischen Widerstand eines geschundenen und zu Unrecht getretenen Volkes.
Natürlich hat der Pharao gesündigt und Böses getan. Aber die Geschundenen und die Geknechteten – das war nicht einfach ihr Pech oder ein unglückliches Schicksal, das sie ereilt hatte. Die Knechtschaft und dieser furchtbare Beschluss, der durch den Pharao erlassen wurde, waren der Ausdruck von Gottes Zorn über dieses Volk.
Woher nehme ich das? Und warum Zorn über dieses Volk? Der einzige Prophet, der uns dazu etwas sagt, der einzige Schreiber überhaupt, der das beleuchtet, ist Hesekiel. Er sagt dazu etwas in Hesekiel Kapitel 20.
Hesekiels Deutung von Gottes Zorn über Israel
Hesekiel Kapitel zwanzig, ab Vers 5: So spricht der Herr Yahweh: An dem Tag, da ich Israel erwählte und meine Hand dem Samen des Hauses Jakob erhob, offenbarte ich mich ihnen im Land Ägypten. Ich erhob meine Hand und sprach: „Ich bin Yahweh, euer Gott.“
An jenem Tag schwor ich ihnen, dass ich sie aus dem Land Ägypten führen würde in ein Land, das ich für sie erspart hatte. Dieses Land fließt von Milch und Honig und ist die Zierde unter allen Ländern. Ich sprach zu ihnen: „Werft ein jeder die Scheusale seiner Augen weg und verunreinigt euch nicht mit den Götzen Ägyptens. Ich bin der Herr, euer Gott.“
Doch sie waren widerspenstig gegen mich und wollten nicht auf mich hören. Keiner warf die Scheusale seiner Augen weg, und von den Götzen Ägyptens ließen sie nicht ab. Deshalb gedachte ich, meinen Grimm über sie auszugießen und meinen Zorn an ihnen zu vollenden – mitten im Land Ägypten.
Hier sehen wir, dass Israel in Ägypten dem Götzendienst verfallen war, ähnlich wie es im Römerbrief Kapitel 1 beschrieben wird. Dieser Götzendienst brachte Gottes Zorn über sie.
So war es ein Ausdruck von Gottes Zorn, dass er dieses Volk einem furchtbaren Bedrücker übergab. Knechtschaft und Tod waren ein Zeichen von Gottes gerechtem und verdientem Zorn.
Im Vers 9 heißt es jedoch: „Aber ich handelte um meines Namens willen.“ Um seines Namens willen ist Gott gnädig und wirkt Heil. Nicht weil Israel besser war oder es verdient hätte, sondern um seines Namens willen tut er es.
Die Sklaverei der Sünde als Ausdruck von Gottes Zorn
Nun, ich habe diesen Gedanken ein bisschen weitergeführt. Letzten Dezember war ich in Haiti und hielt dort an drei Abenden Vorträge über die Rettung und das Heil. An einem Abend war das Thema genau der Zorn Gottes.
Dabei ist mir erst richtig aufgefallen, dass wir der Sklaverei der Sünde verfallen sind und Knechte der Sünde sind. Dass wir sterben müssen, ist jedes Mal ein Ausdruck davon, dass wir unter Gottes Zorn stehen. Wir haben uns einfach daran gewöhnt: Ja, Menschen sind Menschen, nobody is perfect und so weiter. Keiner ist vollkommen, und ja, sterben tut jeder.
Wir haben uns daran gewöhnt, aber wir sollten nicht vergessen: Das ist ein Beweis dafür, dass Gottes Zorn über uns ist. In Römer 6,23 heißt es: Der Lohn der Sünde ist der Tod.
Mose sah ein ganzes Geschlecht in der Wüste wegsterben. Das bewegte ihn zu einem Gebet, das wir im Psalm finden. Psalm 90, Verse 1 und folgende sagen: „Herr, du bist unsere Wohnung gewesen von Geschlecht zu Geschlecht. Ehe die Berge geboren waren und du die Erde und den Erdkreis erschaffen hattest, ja, von Ewigkeit zu Ewigkeit bist du Gott.“
Weiter heißt es: „Du lässt den Menschen zum Staub zurückkehren, du sprichst: Kehrt zurück, ihr Menschenkinder!“ (Vers 3-4)
„Du schwemmst sie hinweg, sie sind wie ein Schlaf. Am Morgen sind sie wie Gras, das aufsprosst. Am Morgen blüht es und sprosst auf, am Abend wird es abgemäht und verdorrt. Denn wir vergehen durch deinen Zorn, und durch deinen Grimm werden wir hinweggeschreckt.“ (Vers 5-7)
Mose erkannte das Ausmaß unseres Zustands: „Du hast unsere Ungerechtigkeiten vor dich gestellt, unser verborgenes Tun vor das Licht deines Angesichts. All unsere Tage schwinden durch deinen Grimm.“ (Vers 11)
„Wer erkennt die Stärke deines Zornes und deiner Furcht gemäß deinem Grimm?“ (Vers 11)
Wenn das wahr ist – dass die Knechtschaft der Sünde von uns selbst verursacht ist, weil der Mensch die Sünde gewählt hat – und dass diese Knechtschaft ein Beweis dafür ist, dass wir unter Gottes Zorn stehen, dann begreifen wir, dass wir auf Gottes Gnade und Erbarmen angewiesen sind. Sonst gibt es keine Rettung.
Wir verstehen auch, dass Gott uns keine Errettung schuldet. Niemand von uns hat es verdient. Niemand kann sagen: „Ich bin doch auch ein bisschen anständig gewesen, so kannst du doch nicht mit mir sein.“ Niemand.
Das lehrt uns erst, wie gewaltig und groß Gottes Gnade ist.
Die Gnade Gottes als Antwort auf die menschliche Verdorbenheit
Wir haben hier in diesem Liederbuch ein sehr schönes Lied. Dieses Lied drückt das auch wunderbar aus: „Ich hatte nichts als Zorn verdient“ von Philipp Friedrich Hillern.
Mir ist Erbarmung widerfahren,
Erbarmung, deren ich nicht werde.
Das zähle ich zu dem Wunderbaren,
mein stolzes Herz hat's nicht begehrt.
Nun weiß ich das und bin erfreut,
und ich rühme die Barmherzigkeit.
Und dann in der zweiten Strophe:
Ich hatte nichts als Zorn verdient,
und soll bei Gott in Gnaden sein?
Gott hat mich mit sich selbst versöhnt
und macht durchs Blut des Sohns mich rein.
Wo kam dies her, warum geschieht's?
Erbarmung ist's und weiter nichts,
Erbarmung ist's und weiter nichts.
Nun stellt Paulus in Römer, also in Römer Kapitel 2 und 3, die Sündhaftigkeit, das Ungenügen und die totale Verdorbenheit des Menschen dar. Er zeigt dies für Juden wie für Griechen, für die Soliden wie auch die Soliderlichen – wie es jemand einmal sagte: alle gleich, die anständigen Bürger und die Prasser, alle gleich, kein Unterschied.
Wir wollen uns das einmal ansehen, anhand der Ausdrücke, die Paulus hier verwendet. In Römer 3, Vers 9 heißt es:
„Was nun, haben wir einen Vorzug? Durchaus nicht, denn wir haben sowohl Juden als Griechen zuvor beschuldigt, dass sie alle unter der Sünde seien.“
Der Mensch ist eben unter der Sünde. Das heißt, er hat keine Gewalt über sich in dieser Frage, die Sünde hat ihn. Der Mensch steht nicht über der Sünde, dass er einfach so darübersteht und sich eines Tages losreißen könnte davon. Er kann es nicht. Wir sind unter der Sünde.
Wie geschrieben steht – und jetzt zitiert Paulus lauter Stellen aus dem Alten Testament:
„Da ist kein Gerechter, auch nicht einer“, also ohne Ausnahme.
„Da ist keiner, der verständig sei, alle sind in ihrem Denken, ihrem Verstand verfinstert.“
„Da ist keiner, der Gott suche.“
Das ist nun wirklich niederschmetternd.
Natürlich reden wir davon, dass wir suchen, und es gibt auch Verheißungen: „Klopft an, es wird euch aufgetan werden“, „Sucht, ihr werdet finden“. Das stimmt, und das sollen die Menschen auch sagen.
Und doch merken wir, wenn wir zum Herrn gekommen sind, dass es der Herr war, der mich suchte. Er war es, der anfing, er war es, der zu mir kam, er war es, der anfing, an mir zu wirken, und er zog mich. Dann begann ich zu suchen.
So sagt Paulus: „Da ist keiner, der suche.“ Von sich aus sucht niemand Gott. Das heißt auch: Der Wille ist befallen. Suchen, also ertrachten, etwas begehren mit seinem Willen – keiner begehrt mit seinem Willen Gott, das höchste Gut. Nein, niemand.
Alle sind abgewichen. Sie sind allesamt unheimlich geworden. Da ist keiner, der Gutes tue, auch keine Taten, die gut sind, auch nicht einer.
Nun sind manche hier versucht zu sagen: Das ist doch übertrieben. Es gibt doch auch Wohltäter unter den Menschen, Leute, die Spitäler eröffnen und so die Armen pflegen, die nicht einmal überzeugte Christen sind oder vielleicht nicht einmal ein Bekenntnis des Christentums haben.
Hier geht es nicht um solches Gutes, sondern um Gutes im höchsten Sinne, nämlich Gott fürchten und Gott lieben. Dieses Gute tut niemand. Alle suchen nur sich, auch mit guten Werken sich, ihre Ehre.
„Keiner, der Gutes tue, auch nicht einer“ – das ist so radikal.
Und dann kommt Paulus zum Mund:
„Ihr Schlund ist ein offenes Grab, die Worte sind sündig, mit ihren Zungen handeln sie trüglich, Otterngift ist unter ihren Lippen, ihr Mund ist voll Fluchens und Bitterkeit, ihre Füße sind schnell, Blut zu vergießen, aktiv Böses zu tun, Verwüstung und Elend ist auf ihren Wegen, den Weg des Friedens haben sie nicht erkannt, keine Furcht Gottes vor ihren Augen.“
Niemand fürchtet Gott. Das ist niederschmetternd.
Nun, das soll es ja auch sein. Der Prophet – Paulus ist in dem Sinn ja auch ein Prophet, ein Schriftprophet – tut genau das, was Gott Jeremia sagte: Er hatte ihn gesetzt zu tun, niederzureißen, dann aufzubauen.
Alle sind unter der Sünde.
Und was das heißt, wird in Römer 3,10 und den folgenden Versen einzeln erklärt:
„Da ist kein Gerechter, auch nicht einer“, das heißt, das ganze Wesen ist böse, nicht gerecht, sondern ungerecht sind wir. Das ganze Wesen ist böse.
„Da ist keiner, der verständig sei“, das heißt, der Verstand ist böse.
„Da ist keiner, der Gott suche“, das heißt, unser Wille ist von Gott abgewandt, also böse.
„Da ist keiner, der Gutes tue“, das heißt, unsere Taten sind böse.
„Mit ihren Zungen handelten sie trüglich“, das heißt, unsere Worte sind böse.
„Die Füße sind schnell, Blut zu vergießen“, das heißt, unsere Wege sind böse.
Und all das beweist: Es ist keine Furcht Gottes vor ihren Augen.
Ja, man spricht im Zusammenhang mit der biblischen Lehre vom Menschen von der totalen Verderbtheit des Menschen.
Die Bibel kennt diesen humanistischen Gedanken nicht, dass der Mensch eigentlich einen guten Kern habe, er sei nur falsch erzogen und man müsse ihn nur richtiger erziehen.
Nein, er ist böse, wirklich böse. Und das ist so radikal, was die Bibel sagt.
Das hat ja damals auch die Reformatoren bewegt. Der Krasseste war ja immer Luther, der hat das dermaßen krass ausgedrückt in seiner polternden Art. Aber auch Johannes Calvin in seiner ruhigeren und überlegteren Art.
Die Schrift bezeugt vielfach, dass der Mensch ein Knecht der Sünde ist. Das will besagen, dass sein Geist der Gerechtigkeit Gottes derart entgegengesetzt ist, dass er nichts planen, begehren und unternehmen kann, was nicht böse, verderbt, gottlos und unrein ist.
Denn das mit Sünde bis zum Rand gefüllte Herz kann nichts als die Früchte der Sünde aus sich hervorbringen.
Nun, das mussten sie damals natürlich so krass auch ausdrücken. Es ist erstens biblisch, aber zweitens auch, weil das ja die Zeit war, in der die Renaissance diesen vornehmen Gedanken in die Welt setzte, dass der Mensch eben edel sei und ein Herr und ein Schöpfer seines Lebens und seiner selbst.
Und jetzt zwei Bibelzitate dazu:
1. Mose 6,5:
„Der Herr sah, dass des Menschen Bosheit groß war, und alles Dichten und Trachten seines Herzens, also seines Kerns, war nur böse den ganzen Tag.“
Und da sehen wir, Calvin übertreibt nicht. Die Schrift bezeugt es.
Der Herr Jesus hat es wiederholt bezeugt. Wir lesen das in den Evangelien zweimal, in Markus und in Matthäus.
Aber der Herr hat es auch auf andere Weise deutlich gemacht, mit Vergleichen von Bäumen, die nur schlechte Früchte und Dornen bringen usw.
Und hier das Herz:
„Denn von innen, aus dem Herzen des Menschen, kommen hervor die bösen Gedanken, Unzucht, Mord, Diebstahl, Ehebruch, Geiz, Bosheit, Betrug, Üppigkeit, Neid, Lästerung, Hoffart, Unvernunft. Alle dies Böse kommt von innen heraus und verunreinigt den Menschen.“
Ja, das ist die totale Verderbtheit des Menschen.
Und das hängt zusammen: Dieses Wissen und die Erkenntnis des Menschen, wie er ist, wie Gott ihn sieht, und die Erkenntnis der Gnade.
Erst das macht ja die Gnade verständlich. Erst auf diesem dunklen Hintergrund und Untergrund der menschlichen Natur leuchtet uns das Wesen der freien, der überwältigenden, der göttlichen Gnade auf.
Die Notwendigkeit der Demut und die Abhängigkeit von Gottes Gnade
Wie lange geht diese Stunde? Noch sechs Minuten. Luther hat das, wie er mich vorhin belehrte, teilweise sehr lebendig und deutlich ausgedrückt.
Er beschreibt, wie der Mensch eben geknechtet ist, insbesondere in seiner Schrift über den geknechteten Willen, „de servo arbitrio“. Dort erklärt er, dass der Wille von der Sünde gefangen ist. Die ganze Natur des Menschen, sowohl Satan als auch Mensch, ist gefallen und von Gott verlassen. Sie können nicht das Gute wollen, also das, was Gott gefällt oder was Gott will. Stattdessen sind sie ständig ihren Lüsten zugewandt und können nicht anders, als ihr Eigenes zu suchen.
Der Gottlose ist, gleich seinem Fürsten Satan, ganz auf sich und das Seine gerichtet. Er sucht Gott nicht, noch kümmert er sich um das, was Gottes ist. Vielmehr strebt er nach seiner eigenen Macht, seiner Ehre, seinen Werken, seinem Wissen und Können – kurzum nach seinem eigenen Reich, das er in Ruhe genießen will. So ist der Mensch, der geknechtet ist, der die Sünde wählt und liebt.
Ich möchte das kurz, aber richtigstellen, weil man das leicht missversteht: Luther sagte nicht, der Mensch habe keinen Willen oder keinen eigenen Willen. Nein, der Mensch wählt mit seinem Willen, aber weil er ein Sünder ist, wählt er immer das, was ihm gefällt, und nicht das, was Gott gefällt. In diesem Sinn ist sein Wille geknechtet.
Dieses Schlagwort wurde oft falsch verstanden und falsch gebraucht. „Der Mensch hat keinen freien Willen“ – ja, dann wäre er ein Roboter. Nein, das hat Luther nie gelehrt. Die Bibel lehrt das nicht. Der Mensch hat einen Willen, einen eigenen Willen, und er hat einen Bereich, in dem er frei ist und wählen und entscheiden kann.
Bei Berufswahl und anderen Entscheidungen sind wir natürlich nicht ganz frei, oft müssen wir nehmen, was kommt. Aber bei alltäglichen Dingen, wie der Kleidung, haben wir Wahlfreiheit. Und wir wählen auch selbst die Sünde. Wir wählen die Sünde, wir wählen das eigene Leben, wir wählen den Unglauben – das wählen wir selbst.
Doch unser Wille ist durch die Sünde so verbogen, dass wir nie das Gute neben Gottes Willen wählen, sondern immer das, was wir wollen. Darum muss unser Wille befreit werden, frei werden für Gott und loskommen von der Sünde. Ja, wir sind wirklich auf Gottes Eingreifen angewiesen.
Deshalb ist das nicht einfach ein Schlagwort, sondern Wirklichkeit. Ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn es ist Gotteskraft. Gott muss hier eingreifen, Gott muss hier ein Werk tun. Es ist Gotteskraft zum Heil für jeden, der glaubt.
Luther wurde dafür von Erasmus kritisiert. Erasmus von Rotterdam warf ihm vor, das sei ja ganz gottlos, was er da lehre. Was solle man von solchen Lehren halten? Die Lehren, die Luther predige, würden Menschen nur dazu bringen zu sagen: „Ich kann ja nichts dafür, und Gott ist an allem schuld.“ Erasmus verdrehte bewusst Luthers Aussagen und Anliegen.
Luther antwortete darauf Folgendes: Ein Zweifaches fordert, dass solches gepredigt wird. Erstens, damit unser Stolz gedemütigt und die Gnade Gottes erkannt werde. Zum anderen fordert es der christliche Glaube selbst, also die Glaubenslehre.
Gott hat seine Gnade allein den Gedemütigten gewiss zugesagt, das heißt den Aufgegebenen und Verzweifelten. Das ist natürlich auch die Autobiographie Luthers. Er ist in Abgründe der Verzweiflung gekommen, weil er merkte: „Ich habe keine Gewalt über Gott, Gott hat Gewalt über mich, und ich kann mir Gottes Gnade auch nicht verdienen.“ Er suchte einen gnädigen Gott, einen Gott, der dem Sünder gnädig ist.
Gott hat seine Gnade allein den Gedemütigten gewiss zugesagt, das heißt den Aufgegebenen und Verzweifelten. Der Mensch aber kann nicht bis ins Innerste gedemütigt werden, bevor er nicht weiß, dass seine ganze Seligkeit ganz und gar außerhalb seines eigenen Vermögens, Planens, Eiferns, Wollens und Wirkens steht. Sie hängt ganz und gar am Gutdünken, Planen, Wollen und Wirken eines anderen – nämlich Gottes allein.
Das demütigt uns vor Gott und treibt uns zu Gott. Gott muss mich retten, ich kann mich nicht retten. Ich bin auf Gottes Gnade angewiesen. Ich lasse meine Hände fallen und ergebe mich.
So steht die Tatsache der Wirklichkeit, die Paulus darstellt, der Wirklichkeit der Verdorbenheit des Menschen, der Wirklichkeit der Gnade – der mächtigen, wirksamen und rettenden Gnade Gottes – gegenüber.