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Nur wenn der Spiegel zum Träger eines Ebenbildes wird, erfüllt er seinen Sinn. Und nur wenn der Mensch zum Träger seines Ebenbildes wird, erfüllt er seinen Sinn. Deswegen kommt der Mensch von Gott, deswegen ist er in Gott und deswegen geht er zu Gott. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart


Ein alter Herr beschließt, seine Kinder zu besuchen. Er zieht den Mantel an, greift nach dem Stock und steigt in die Straßenbahn. Als er aber am Schlossplatz umsteigen will, weiß er nicht mehr, wo er hinwollte. Totaler Gedankenschlag. Ratlos geht er an der Haltestelle auf und ab. Schließlich fällt ihm ein, woher er kommt. Er geht in die nächste Telefonzelle und fragt zuhause an, ob die ihm bittschön mal sagen könnten, wo er eigentlich hinfahren wollte. So etwas kommt vor, wenn der Mensch alt wird. Und da konnte der alte Herr noch von Glück sagen, dass er sich wenigstens noch an seine Herkunft erinnerte. Es ist durchaus möglich, dass er eines Tages auch das vergisst. Ja, überhaupt nicht mehr weiß, wo und wer er ist. Altersverkalkung nennt man so etwas. Das ist nichts, worüber wir uns amüsieren sollten. Wissen wir denn, was uns noch blüht, wenn wir alt werden? Wissen wir denn, ob wir heute noch alles wissen? Wissen wir denn, woher wir kommen, wo wir sind und wohin wir gehen? Über diese drei Grundfragen herrscht eine ganz große Unsicherheit. Der alte Herr namens Mensch im stattlichen Alter von vielen tausend Jahren hat die Orientierung verloren. Seit ihm Kopernikus klargemacht hat, dass er nur ein Stäubchen auf einem Staubkorn im Weltall und damit ein bedeutungsloses Wesen sei, seit ihm Darwin kundgemacht hat, dass er nur Nachfahre von Gorillas und Schimpansen im Tierreich und damit ein würdeloses Wesen sei, seit ihm Sig­mund Freud weisgemacht hat, dass er nur von Trieben und Süchten aus dem Unterbewussten gesteuert und damit ein verantwortungsloses Wesen sei, weiß dieser alte Herr über Woher und Wohin gar nichts mehr. Bin ich Halbgott, wie Jean Paul meinte, bin ich Herr der Natur, wie Friedrich Schiller meinte, bin ich Schatten eines Traumes, wie Shakespeare meinte, bin ich welkendes Baumblatt, wie Homer meinte, oder bin ich nach Herodot doch nur das Elend selbst? So geht der ratlose Mensch an der Haltestelle Leben auf und ab und sieht die Linien, die aus der Geschichte herkommen und irgend­wohin verlaufen. An der einen Linie steht A wie Aberglaube, an der nächsten B wie Buddhismus, an der nächsten C wie Christentum, an der nächsten N wie New Age, an der nächsten O wie Okkultismus. Woher kommt denn der Zug? Wohin geht denn die Fahrt? Für was und für wen sollen wir uns entscheiden? Und dann wünschen wir uns in diesem Dilemma, dass es auch solch ein Telefonhäuschen gäbe, in das man hineingehen könnte, das Telefonbuch aufschlagen, eine Nummer wählen und die Auskunft fragen könnte: Woher kommen wir? Wo sind wir? Wohin gehen wir? Liebe Gemeinde, seit einer halben Stunde befinden wir uns in dieser Zelle. Wir haben das Buch aufgeschlagen und die Nummer gelesen: 1,1-4a etc.

Nun hören wir auf die erste Grundfrage, woher wir kommen, die biblische Antwort: Von Gott.

1. Von Gott

Von Gott kommen wir. Die Germanen zum Beispiel waren anderer Ansicht. Sie sagten, wir kommen vom Ur-Riesen. Am Anfang war nicht Wüste und Leere, sondern Eis und Reif. Eine Kuh leckte mit ihrer warmen Zunge eine Menschengestalt namens Umir aus dem ewigen Eis und füllte sie mit Leben. Dieser Riese wurde jedoch später von einem anderen Riesen, Odin, besiegt: Aus seinem Fleisch wurde die Erde, aus seinem Skelett die Steine, aus seinem Blut die Meere, aus seinem Atem die Winde und aus seinem Gehirn die Wolken. Wir kommen vom Ur-Riesen, und die Bibel sagt: Wir kommen von Gott. Auch die Babylonier zum Beispiel waren anderer Ansicht. Sie sagten, wir kommen vom Ur-Ei. Am Anfang war das Tohu, zu deutsch: das Gefährliche und Verderbenbringende, und das Bohu, zu deutsch: das Grausige und Unheimliche. Und zwischendrin schwebte ein befruchtetes Ei, das plötzlich zersprang und die Menschenwelt zur Welt brachte. Wir kommen vom Ur-Ei, und die Bibel sagt: Wir kommen von Gott. Auch die Wissenschaftler verschiedenster Denk­richtungen sind anderer Ansicht. Sie sagen: Wir kommen vom Ur-Feuer, das die Erde ins Weltall hinausgeschleudert hat, oder wir kommen vom Ur-Nebel, aus dem sich ein Konzentrat gebildet hat, oder wir kommen vom Ur-Schleim, aus dem die ersten Lebewesen hervorkrochen. Aber die Bibel sagt: Wir kommen von Gott. Am Anfang war nicht Etwas, sondern Jemand. Ich glaube an Gott, den Vater, den Schöpfer des Himmels und der Erde.

Ein Steinhauer braucht einen Stein, um schöpferisch hauen zu können. Ein Holzschnitzer braucht ein Holz, um schöpferisch schnitzen zu können. Ein Kunstmaler braucht eine Leinwand, um schöpferisch malen zu können. Jeder Künstler braucht Material für seine Schöpfungen. Nur der Schöpfergott braucht nichts. Seine creatio ex nihilo, seine Schöpfung aus dem Nichts ist einzigartig. Das bedeutet, dass wir kein fluchbeladenes Genmaterial eines Ur-Riesen mit uns herumtragen, das uns wie ein grausiges Schicksal bestimmt. Das bedeutet auch, dass wir keine negative Erbanlage eines Ur-Eis mit uns herumschleppen, die uns trotz allen guten Vorsätzen böse beeinflusst. Das bedeutet weiter, dass wir auf keinen Fall mit unheimlichen Ur-Chromosomen befrachtet sind. Unsere vorgeburtliche Mitgift ist einzig und allein seine Liebe. Liebevoll hat er den Himmel geschaffen, damit wir ein Dach überm Kopf haben. Liebevoll hat er die Erde geschaffen, dass wir Boden unter die Füße bekommen. Liebevoll hat er das Licht erschaffen, dass wir nicht im Dunkeln munkeln müssen. Liebevoll hat er alles installiert, damit wir ein Zuhause haben und nicht unbehaust vegetieren müssen. Das Menschengeschöpf ist kein unerwünschtes Kind. Er hat Ja gesagt zu unserem Dasein. Und wenn mein Vater mich nicht gewollt hat, und wenn meine Mutter mich nicht gewollt hat, und wenn ich mich selber nicht mehr will, dann gilt es erst recht: Gott hat mich gewollt. Gott hat dich gewünscht. Jeder ist Gottes Wunschkind. Von Gott kommen wir.

Nun hören wir auf die zweite Grundfrage, wo wir sind, die biblische Antwort:

2. In Gott

In Gott sind wir, in seinem Machtbereich, in seiner Schutzzone, in seiner Hand. Und in seiner Hand sind wir als etwas Besonderes, als etwas Einzigartiges, als etwas Unverwechselbares. Am sechsten Tag nämlich, als er seiner Schöpfung die Krone aufsetzte, sagt er nicht: Lasset uns Menschen machen, ein intelligentes Tier, das von ewigen Instinkten getrieben ist. Oder: Lasset uns Menschen machen, eine liebliche Puppe, die nach himmlischer Melodie tanzen wird. Oder: Lasset uns Menschen machen, eine herrliche Marionette, die die göttliche Komödie spielt. Die Aussage lautet vielmehr: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei. Wem dabei nicht der Atem stockt: Gottes Bild sind wir? Wem dabei nicht die Luft wegbleibt: Gottes Ebenbild sind wir? Wem dabei nicht das Herz stehenbleibt: Gottes Ebenbildlichkeit ist unsere Lebenswirklichkeit? Wer kann diese steile Imago-Dei-Aussage fassen? Erlauben Sie mir ein unzulängliches Bild. Denken Sie an einen Spiegel zuhause. Das ist ein materielles Ding. Irgendeiner hat ihn gemacht. Irgendwo ist er platziert. Irgendwie erfüllt er seinen Sinn. Wenn Sie nun in diesen Spiegel hineinschauen, und sicher haben Sie das schon einmal heute Morgen getan, dann sehen Sie Ihr Bild. Egal, ob es ein großer Wandspiegel oder ein kleiner Taschenspiegel ist, egal ob er einen teuren Goldrahmen oder einen billigen Plastik­rahmen besitzt, egal ob er aus wertvollem Kristall oder einfachem Quarz gearbeitet ist, er zeigt immer Ihr Ebenbild, aber eben nur, solange Sie reinschauen. Ein Spiegel, in den keiner reinschaut, ist sinnlos und hängt nur herum. Nur wenn der Spiegel zum Träger eines Ebenbildes wird, erfüllt er seinen Sinn. Und so ist das beim Menschen auch. Er ist ein materielles Ding. Der Schöpfer hat ihn gemacht, stellt ihn an einen ganz bestimmten Platz und will, dass er einen Sinn hat. Und diesen Sinn bekommt er nur dadurch, dass er ihn ansieht. Egal, ob er ein großes Haus oder ein kleiner Marschierer ist, egal ob er in weitem Rahmen oder in engen Verhältnissen lebt, egal ob er als Begabter oder Minderbemittelter eingestuft wird, es muss zu einem Sichtkontakt kommen. Ein Mensch, bei dem Gott wegsieht, ist sinnlos. Ein Mensch, in den Gott nicht hinein­sieht, hängt nur herum. Ein Mensch, durch den Gott nicht hindurchsieht, hat kein Leben in sich. Nur wenn der Mensch zum Träger seines Ebenbildes wird, erfüllt er seinen Sinn.

Liebe Freunde, so ist es doch. Wenn wir morgens in die Zeitung schauen, Streit, Mord, Blutvergießen, dann schaut uns das heulende Elend an. Und wenn wir mittags in das Büro schauen, Stress, Hektik, Eifersücht­eleien, dann blickt uns die ganze Mühsal mitten ins Gesicht. Und wenn wir abends in den Fernseher schauen, Bilder, Meldungen, Geschichten, Serien, dann springt uns oft genug nur Menschliches und allzu Menschliches in die Augen. Und wenn wir nachts an die Decke schauen, viereckig, rissig, fahl wie der Tod, dann schaut uns überhaupt nichts und niemand mehr an und wir sind wieder einmal mutterseelenallein. Nur wenn wir in die Bibel schauen, in sein Wort, in seine Verheißungen, in seine Tröstungen, dann schaut uns Gott an, liebend wie ein Vater, tröstend wie eine Mutter, stärkend wie ein guter Freund: Ich seh dich. Ich mag dich. Ich führe dich. Ich, der Herr halte dich wie ein Spiegel in meiner Hand und will dich nicht aus meinen Augen lassen. In Gott sind wir.

Nun hören wir auf die dritte Grundfrage, wohin wir gehen, die biblische Antwort:

3. Zu Gott

Zu Gott gehen wir, obwohl wir kaputtgehen. Man muss nur zwei Seiten in der Bibel weiterlesen. Der Adam ist unzufrieden mit seiner Bestimmung. Gott hat ihn zwar gemacht, aber er macht sich nichts daraus. Er will Gott nicht ebenbildlich, er will ihm ebenbürtig sein. Er will nicht mehr Spiegel in Gottes Hand sein, er will selber Gott sein. Er will hoch hinaus und stürzt tief hinab. Denn bei diesem titanischen Versuch zu sein wie Gott ist der Mensch aus der bergenden und schützenden Hand Gottes herausgefal­len und auf den Boden gefallen. Sündenfall nennen das die Theologen. Seitdem ist keiner mehr heil, weil durch jedes Menschenleben mittendurch ein Sprung geht. Erbsünde nennen es die Theologen. Und auf jedem hinuntergefallenen Geschöpf liegt ein Haufen Dreck von dreckigen Reden, schmutzigen Fantasien, klebrigen Kompromissen, schmierigen Gewohnheiten. Tatsünden nennen es die Theologen. Zur gefallenen Schöpfung gehören wir alle. Ein ganzer Schmutzfilm hat sich über uns gelegt. Auf uns lastet so viel Dunkles und Schweres und Undurchdringliches. Trotzdem hat sich der Vater ein Bild von seinem Kind bewahrt. Egal, wieviel Schmutz auf unserem Leben liegt, wie entstellt unsere Ebenbildlichkeit durch eigene oder fremde Schuld auch ist, egal was sich die Leute für ein Bild von uns machen oder was ich selber für ein schlechtes Bild von mir habe, wichtig ist, welches Bild Gott von uns hat. Er sieht in jedem vor uns auf jeden Fall sein Kind. Er hat uns ja geschaffen. Er sagt zu jedem Hingefallenen und Reingefallenen: Komm doch wieder! Das ist der tiefe Sinn des letzten Schöpfungstages, nicht dass wir überall hingehen, sondern dass wir zum Vater gehen und ihn bitten: Wasch mich rein von meiner Sünde. Sonntag ist Waschtag und nicht Schlaftag oder Besuchstag oder Ausflugstag. Er will verdreckten Menschenbilder mit seinem Blut abwaschen, damit sie wieder zu denen gehören, die wissen: “Nun aber spiegelt sich bei uns allen die Herrlich­keit des Herrn mit unserem aufgedeckten Angesicht und wir werden verklärt in sein Bild.” Einmal wird alles zu seinem Ende kommen. Der Schöpfer wird sein Werk mit einem neuen Himmel und einer neuen Erde glanzvoll vollenden. Dieser letzte Tag steht noch aus, an dem wir alle vor ihm stehen werden. Wie sehen wir dann aus mit unserem Riss, der quer durch unser Leben geht? Wie hoffen wir dann noch, Gott würde seine Ewigkeit mit uns kaputten Scherben tapezieren? Wie können wir noch glauben, zerbrochene Spiegel landeten nicht im Feuer? Wohl dem, vor den sich Jesus stellt mit seinen ausgebreiteten Armen und den Riss verdeckt. Heil dem, der sich hinter diesem zweiten Adam verstecken kann und weiß: Ich hab ihm meine Schuld und er hat mir seine Vergebung gegeben. Selig, glückselig ist der, der um Jesus Christus willen leben, ewig leben wird.

Amen

[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]