Liebe Freunde,
wir sechs Geschwister verdanken der Nachkriegszeit, jener hungrigen Zeit, dass wir sehr viele Choräle auswendig kennen. Das heißt, wir verdanken es unserer Mutter. Sie sagte: Wenn ihr einen Choral auswendig lernt, bekommt ihr einen kleinen Riegel Schokolade. Damals schmeckte die Schokolade eher nach Sand. Oder es gab einen Beutel Eismilch, furchtbar wie Gnet.
Aber vier Verse aus „Bei deinem Wort“ galten nicht. Es mussten mindestens zwei Verse von einem Paul-Gerhardt-Lied oder einem Hiller-Lied sein. Und wir hatten Hunger. Ich bin dankbar, dass unsere Mutter uns Lieder lernen ließ.
Ich frage mich heute, was ich für meine Enkel ausgeben müsste – zwanzig, dreißig Mark. Und selbst wenn ich es ausgeben müsste, warum ich es eigentlich nicht tue. Dabei hätten sie etwas, das ganz entscheidend für ihr Leben ist.
Von unserem Vater haben wir nur einen Vers gelernt. Dafür gab es keine Schokolade. Er hat ihn immer wiederholt, weil er ihn für sein eigenes Leben als leitender Ministerialbeamter und Parlamentarier wichtig fand. Er sagte immer wieder:
„Das seien alle meine Tage meine Sorge, meine Frage, ob der Herr in mir regiert, ob ich in der Gnade stehe, ob ich auf das Ziel zugehe, ob ich folge, wie er führt. Das seien alle meine Tage, meine Sorge, meine Frage, ob der Herr in mir regiert.“
Die Bedeutung des Liedes im Glaubensleben
Können wir es mal miteinander probieren? Das sei alle meine Tage meine Sorge und meine Frage: Ob der Herr in mir regiert, ob ich in der Gnade stehe, ob ich auf das Ziel zugehe, ob ich folge, wie er führt. Ob ich in der Gnade stehe, ob ich auf das Ziel zugehe, ob ich folge, wie er führt.
Liebe Freunde, wir haben so ein wunderbares neues Gesangbuch mit vielen schönen Liedern, bis hin zu dem Eidlingerlied „Herr, wenn mich festhält deine starke Hand“. Dieser tröstliche Ton ist in unserem neuen Gesangbuch enthalten. Aber mager geworden ist dieser ernste Ton: Ob ich in der Gnade stehe?
Michael Hahn schreibt: „Erlass mich deine Heiligung durch deinen Geist erlangen.“ Ich stehe immer in Gefahr, das Kleinod zu verlieren. Der Feind versucht mich immer da zu erreichen und will mich dir entführen.
Am liebsten würde ich sagen, ihr Gemeinschaftsleute, ihr müsst dafür sorgen, dass dieser ernste Ton in der Christenheit überwintert. Aber was heißt Gemeinschaftsleute? Wir alle müssen dafür sorgen. Es ist gar nicht selbstverständlich, dass wir bei Jesus bleiben.
Wir bräuchten an allen Orten Württembergs Gotteshäuser, fast so groß wie der Ulmer Münster. Wenn die alle noch da wären, die einst in der Kinderarbeit, Jungschar, in den Chören waren, in der Stunde. Aber plötzlich sind sie mal weggeblieben: „Na, ich habe nicht mehr so Interesse.“
Herausforderungen im Glaubensleben und Gemeinde
Und was mich am meisten betrübt: Wenn man als Gemeindepfarrer mit Leuten ins Gespräch kommt – ja, ich war früher auch mal dabei. Ich habe im Chor mitgesungen, war Posaunebläser und im CVJM aktiv.
Warum jetzt nicht mehr? In den seltensten Fällen liegt es an Glaubenszweifeln oder daran, dass sie die Bibel nicht mehr glauben oder das Gebet nichts hilft. In 99 Prozent der Fälle hat jemand komisch über mich geredet, jemand ist merkwürdig aufgetreten, oder jemand wollte Freizeit mit mir verbringen, war aber schon verplant.
Menschliche Schwierigkeiten haben Menschen, die in der Nähe Jesu waren, abgestoßen. Das ist alle meine Tage meine Sorge und meine Frage: Regiert der Herr in mir? Wie viele habe ich durch meine Art vor den Kopf gestoßen und abgestoßen? Da denkt man als Pfarrer: „Da möchte ich nicht mehr dabei sein.“ Herr, hilf mir, dass ich keine Leute von dir wegtreibe!
Der Herr Jesus hat einmal in der großen Rede in Matthäus 24 gesagt: Schlimmer als Hunger, Kriege, Pest, Inflation, hungrige und teure Zeiten wird sein, dass viele abfallen werden. Das geschieht durch Verführung, aber auch, weil sie sagen: „Nein, mach nicht mehr mit.“ Sind wir denn noch richtig dabei? Sind wir mitschuldig daran, dass andere abgehängt wurden?
Man hat Gnade nicht einfach. Selbstverständlich wurde schon in der Begrüßung gesagt: Bei Pachten gibt es Erbpachtverträge, die auf 99 Jahre laufen – die erlebt man normalerweise nicht mehr.
Man kann sagen: Ich bin konfirmiert, ich bin getauft, ich bin christlich, und an Heiligabend gehe ich in den Gottesdienst, weil meine Eltern fromm waren. Aber Gnade kann man nicht pachten.
Die Geschichte von Mirjam als Vorbild
Es war auch für mich gestern sehr schön, einfach Geschichten erzählen zu dürfen – von Jakob zum Beispiel. Heute möchte ich von Mirjam erzählen. Dabei riskiere ich, dass viele die Geschichte schon gut kennen, aber alte Bekannte sieht man ja immer wieder gern.
Ich erzähle bewusst von einer Frau. In der Christenheit besteht oft die Gefahr, vor allem von Männern zu sprechen. Dabei garantiere ich Ihnen, dass bei jedem von uns die Impulse zu Jesus meist von Frauen kamen: Müttern, Großmüttern, Patentanten, Erzieherinnen. Unsere Diakonissen bedeuteten viel für unsere Orte als Seelsorgerinnen. Deshalb ist es schade, wenn wir nur von Jakob oder Abraham reden, ohne auch von Mirjam zu sprechen.
Schon der Name Mirjam erinnert an Maria, die Mutter Jesu. Auch bei Mirjam gilt: „Du Begnadete, du hast Gnade gefunden bei Gott.“ Die erste Erzählung, die wir von Mirjam in der Bibel hören, ist natürlich im Zusammenhang mit Mose.
Mose wurde in einer Verfolgungszeit geboren. Pharao hatte Angst vor den Israeliten, obwohl er nicht mehr wusste, was Joseph einst für Ägypten und den Vorderen Orient geleistet hatte. Joseph hatte die Hungersnot gesteuert, sodass das Volk überleben konnte. Doch jetzt bekam Pharao Ausländerangst, denn die Israeliten vermehrten sich stark. Eines Tages würde das Volk Israel stärker sein als die Ägypter.
Pharao befahl den Hebammen, alle neugeborenen Knaben bei den Hebräern zu töten. Mädchen durften leben, denn sie konnten als Dienstmädchen oder Salbenbereiterinnen dienen. Zwei Hebammen, Schifra und Pua, fürchteten sich vor Gott und ließen die Knaben am Leben. Als Pharao sie rief und fragte, warum sie die Kinder nicht getötet hätten, antworteten sie: Die hebräischen Frauen seien so kräftig, dass sie bereits geboren hätten, bevor die Hebammen eintreffen konnten.
Gott segnete diese Hebammen, weil sie das Leben der Kinder bewahrten. In jener Zeit hatten Amram und Jochebed geheiratet und bekamen ein Kind. Im Bibeltext sieht es so aus, als wäre Mose der Erstgeborene gewesen, doch später wird von einer Schwester erzählt, die schon einige Jahre älter war – vielleicht sechs, sieben oder zehn Jahre alt. Diese Schwester war Mirjam, die Begnadete.
Mirjam war nicht nur begnadet, sondern auch clever. Als die Mutter merkte, dass sie den kleinen Mose nicht mehr verstecken konnte, weil er laut schrie – wer kleine Kinder kennt, weiß, wie durchdringend das sein kann –, baute sie eine kleine Arche aus Rohr, versiegelt mit Erdharz und Pech. Darin legte sie das Kind und versteckte es im Schilf am Nil.
Mirjam sollte aufpassen, dass das kleine Boot nicht wegtrieb und kein Tier herankam. Sie war hellwach und aufmerksam. Doch plötzlich tauchte die ägyptische Prinzessin auf, die Tochter des Pharao, mit ihrem Hofstaat. Sie planschte genau dort, wo das Kästlein lag. In diesem Moment begann Mose zu wimmern.
Die Prinzessin fragte, was das sei, und als sie hörte, dass es ein hebräisches Kind war, nahm sie es mit als ihr „Doggele“, ihre Puppe, die sie bei sich aufziehen wollte. Sie nannte ihn Mosche, weil sie ihn aus dem Wasser gezogen hatte.
Mirjam hätte sagen können: „Pech gehabt, wir haben alles versucht.“ Doch sie war klug und schlug vor, dass die Prinzessin doch eine Amme für das Kind brauchen würde. Die Prinzessin stimmte zu. Daraufhin lief Mirjam zu ihrer eigenen Mutter, die das Kind stillen durfte. So konnte Mose im königlichen Palast aufwachsen, bis er entwöhnt war. Danach sorgte die Tochter des Pharao dafür, dass er eine glänzende Bildung erhielt.
Mirjam sorgte sich in all den Jahren, als ihr Bruder am Hof des Pharao war. Sie hoffte, dass er nicht den ägyptischen Götzendienst übernehmen würde, sondern sich daran erinnern würde, dass er zum Volk Gottes gehörte, das Gott wie seinen Augapfel behütet. Sie betete: „Lieber Gott, sorg du dafür, dass er in deiner Hut bleibt, auch wenn er jetzt gut aufgehoben ist in des Kaisers Palast.“
Doch wie groß war ihre Sorge, als Mose als erwachsener Mann hinausging, die Leiden seines Volkes sah und einen ägyptischen Aufseher niederstreckte, der einem israelitischen Volksgenossen Gemeinheiten antat. Mose musste fliehen. Damals war er etwa vierzig Jahre alt.
Mose war dann vierzig Jahre lang für Mirjam verschollen, irgendwo am Sinai-Gebirge. Vier Jahrzehnte war er der begabte Mose, der eine Prinzenerziehung genossen hatte und in allen Künsten und der Weisheit der Ägypter gelehrt war. Doch nun war er Ziegenhirte.
Mit vierzig begann Gottes Wirken an Mose. Für die meisten Menschen gilt: Mit 64 geht man in den Ruhestand, mit 45 werden Offiziere oft in den Ruhestand versetzt, weil man ihnen keine guten Entscheidungen mehr zutraut. Mose aber war achtzig, als Gott mit ihm anfing. Wenn Gottes Gnade bei uns ist, spielt das Alter keine Rolle. Wichtig ist nur, ob Gott etwas durch uns tun kann.
Für Mirjam aber war die Frage: Wo ist Mose? Eines Tages tauchte er neben einem Esel auf. Er zog als Befreier ein, von Gott berufen, sein Volk zu retten. Doch wer saß auf dem Esel? War es seine Frau, eine farbige Tochter eines Nomadenpriesters, eines Heiden? Mirjam konnte es kaum fassen und dachte: „Lieber Gott, das darf doch nicht wahr sein. Du hattest doch mehr mit Mose vor.“
Mose hatte von dieser Frau einen Sohn, Gerschom. Dann ging alles schnell: Mose und sein Bruder Aaron gingen zu Pharao und forderten: „Lass mein Volk los!“ Pharao lachte nur und unterdrückte Israel noch stärker. Die Sprecher Israels warfen Mose vor, er habe sie beim Pharao schlecht gemacht und sei schuld an ihrem Leid.
Trotzdem machte Mose weiter im Auftrag Gottes. Mirjam erlebte all das bis zum Tag des Auszugs, als Pharao endlich sagte: „Geht!“ Und der Zug begann.
Ich habe mal ausgerechnet, wie alt Mirjam war: Sie war bestimmt acht oder zehn Jahre alt, als Mose geboren wurde. Beim Auszug war Mose achtzig, Mirjam also schon in einem guten Alter. Aber sie war voller Kraft und zog mit dem Volk Gottes aus.
Sie gingen nicht auf dem geraden Landweg nach Israel. Die Wolkensäule führte sie in eine andere Richtung zurück zum Schilfmeer. Dort standen sie plötzlich vor den Wasserfluten. Hinter sich erhob sich die Staubwolke des ägyptischen Heeres, das sie verfolgte.
Mose schrie zum Herrn: „Hilf uns!“ Gott antwortete: „Was schreist du zu mir? Lass sie ziehen! Komm ins Wasser hinein, dann werdet ihr meine Wunder erleben.“ Israel zog trockenfuß durch das Meer, wo vorher Wasser war – dort, wo heute die großen Bitterseen sind.
Am anderen Ufer stiegen sie heraus, und die Wellen schlugen über der verfolgenden ägyptischen Armee zusammen. In der Bibel wird beschrieben, wie Mose einen Lobgesang anstimmt. Oft ist vom Lobgesang des Mose die Rede.
Mose rief: „Ach, Herr, was hast du getan! Du hast dein Volk geführt!“ Es war wie bei jemandem, der abends nicht aufhören kann zu singen, dessen Lied kein Ende findet.
Mirjam nahm eine Pauke, und Gott gab ihr das Herz, einen Refrain zu singen. Sie schlug Mann und Ross und Wagen. Die Töchter Israels stimmten ein, und das ganze Volk sang: „Lasst uns dem Herrn singen, er hat eine große Tat getan!“
Die Rolle der Gemeinschaft und der Gnade
Das ist das Geschenk Gottes an seine Gemeinde: Er beruft Frauen und Männer, damit sie ein Lied anstimmen, bei dem uns das Herz aufgeht. Nun danket alle Gott mit Herzen, Mund und Händen! Mein Herz ist voll Jubel!
Einige hier haben das miterlebt, 1946, am 1. Ulmer Posaunentag, wie über der zerstörten Stadt Ulm, vor dem Ulmer Münster, das Lied erklang: Jesus Christus herrscht als König. Seitdem weiß ich, wie es Mirjam und dem Volk Gottes zumut war. Das ist mit uns gegangen: Nicht Hitler regiert, nicht irgendwelche anderen, sondern Jesus herrscht.
Das ist prophetisch und wird immer wieder gesagt: Mirjam sei eine Prophetin gewesen. Prophetie ist nicht Kaffeesatzlesen, sondern, wenn man es auf einen Nenner bringt, die Erkenntnis, dass der Hintergrund alles Geschehens der ewige gnädige Gott ist.
Von der Gnade des Herrn will ich singen. Helmut Lampard war so ein Prophet, der das Morgenrot wecken wollte. Deine Gnade währt von Ewigkeit zu Ewigkeit, des Herrn Gnade und große Treue – sie hat kein Ende an dem langen Tag, auf die jeder sich verlassen mag. Wie mir dein mundgegebenes Können Gnade schenkt, du ohne Massen!
Man hat Gnade, man hat Frieden, was alles übersteigt. Mein Erbarmer, sprich mir dies in allen Nöten zu! Mirjam ist das geschenkt worden. Es war, als wenn eine Staumauer bricht – die Staumauer der Sorge. Plötzlich ist mein Herz voll Jubel: Gott, was du kannst!
Wohl uns, wenn wir solche Lieder haben, die uns erinnern. Es ist nicht selbstverständlich, dass wir die Gnade gepachtet haben, aber es ist auch nicht selbstverständlich, dass Gott nahe ist und seine Wunder tut. Jetzt dürfen die Bläser jubeln: Jesu Friede sei mit uns allen!
Aus dieser Freude ist Israel so oft wieder herausgefallen, obwohl die Wolkensäule da war, die Feuersäule – Zeichen der Gegenwart Gottes. Obwohl Gott sie in der Wüste speiste, mit einer Dürre Felsen spaltete, damit sie Wasser hatten. Der Erlöser Mose war mit ihnen, das Manna bekamen sie täglich als Nahrung.
Und da heißt es immer wieder: Sie murrten gegen Mose und gegen Gott. „Ach, warum sind wir aus Ägypten raus? Da gab es Kürbisse, Knoblauch und Fische. Und hier jeden Tag Manna, uns ekelt vor der mageren Speise.“ Immer bloß Chorrel, immer bloß moderne Lieder. Immer bloß um halb zehn Gottesdienst.
Kennen Sie dieses Murren? Wo wir Halleluja sagen sollten, wenn wir denken: In Russland haben sie siebzig Jahre lang überhaupt keine Gottesdienste halten dürfen. Gibt es überhaupt ein Ziel? Jetzt marschieren wir schon so lange durch die Wüste. Wann kommen wir endlich ans Ziel?
Es wird sogar das Schreckliche erzählt, dass der Bruder Moses, Aaron, sich eines Tages mitreißen ließ vom Wunsch des Volkes: „Ach, den Gott, an den wir geglaubt haben, den gibt es nicht. Schaff uns einen Götzen!“ Aaron macht mit.
Was mich bei dem, was uns gestern bewegt hat, immer zutiefst beeindruckt hat: Die Bernhäuser ließen sich damals 1937 nicht mitreißen, als der Religionsunterricht umfunktioniert werden sollte. Die größte Gefahr für das Volk Gottes ist immer, dass es verführt wird – auch zum Murren.
Bloß eine hat nicht mitgemacht: Es wird an keiner Stelle erzählt, dass Mirjam mitgemacht hat. Ihr Herz war voll Jubel: Unser Gott ist da, und ach, er hilft uns! Ach, was ich erlebt habe mit all meinen Sorgen, wie der Herr sie weggewischt hat – bis jener schreckliche Tag kam, von dem 4. Mose 12 erzählt.
Die Herausforderung der Gemeinschaft und die Gefahr des Stolzes
Ich lese einfach und kommentiere ein bisschen.
Da redeten Mirjam und Aaron gegen Mose, um seiner Frau willen, der Farbigen, der Kuschiterin, die er genommen hatte. Mose hatte sich nämlich eine farbige, kuschitische Frau genommen.
Plötzlich ging es gar nicht mehr um die Frau, sondern sie sprachen: „Redet denn der Herr allein durch Mose? Redet er nicht auch durch uns?“ Was wäre denn gewesen, wenn ich nicht die Pauke genommen hätte? Da ist das Volk Gottes mitgegangen. „Mose, du bist ja nicht der Leiter, Herr Pfarrer, der alles bestimmt. Wir haben schließlich auch noch etwas zu sagen.“ Und der Herr hörte es.
Aber Mose war ein sehr gedemütigter Mensch, mehr als alle Menschen auf Erden. Er war ein Vorbild für die allerverachtetsten und unwertesten Menschen.
Sogleich sprach der Herr zu Mose und zu Aaron und zu Mirjam: „Geht hinaus, ihr drei, zur Stiftshütte, zum Zelt der Begegnung.“ Und sie gingen alle drei hinaus. Da kam der Herr hernieder in der Wolkensäule und trat in die Tür der Stiftshütte und rief Aaron und Mirjam. Die gingen beide hin.
Und Gott sprach: „Hört meine Worte! Ist jemand unter euch ein Prophet des Herrn? Dem will ich mich kundmachen in Gesichten, will mit ihm reden in Träumen. Aber so ist es nicht stets mit meinem Knecht Mose. Ihm ist mein ganzes Hauswesen anvertraut. Ich rede mit ihm von Mund zu Mund, nicht durch dunkle Worte oder Gleichnisse. Er sieht mich, den Herrn, in seiner Gestalt.
Warum habt ihr euch denn nicht gefürchtet, gegen meinen Knecht Mose zu reden?“ Es geht nicht bloß um Mose. Es heißt auch nicht: „Warum habt ihr euch nicht gefürchtet, gegen euren Bruder zu reden?“ Sondern: „Warum habt ihr euch nicht gefürchtet, gegen meinen Knecht, meinen Segensträger, zu reden?“
Und der Zorn des Herrn entbrannte gegen sie, und Gott wandte sich ab. Sehen Sie, Gnade kann man nicht pachten. Wenn Gott sagt, gut, dann können Sie schreien: „Ob ich in der Gnade stehe!“ Ich kann dennoch auf das Ziel zugehen.
Auch wich die Wolke, das Zeichen der Gegenwart Gottes, von der Stiftshütte. Und siehe, da war Mirjam aussätzig, weiß wie Schnee. Aaron wandte sich zu Mirjam und wurde gewahr, dass sie aussätzig war. Er schrie zu Mose: „Ach, mein Herr, lass die Sünde nicht auf uns bleiben, mit der wir töricht gehandelt und uns versündigt haben. Lass Mirjam nicht sein wie ein Totgeborenes, das von seiner Mutter Leib kommt, von dem schon die Hälfte seines Fleisches geschwunden ist.“
Mose schrie zum Herrn: „Ach Gott, heile sie!“ Da sprach Gott zu Mose: „Wenn ihr Vater ihr ins Angesicht gespien hätte, müsste sie sich nicht sieben Tage schämen. Lass sie abgesondert sein sieben Tage außerhalb des Lagers. Danach soll sie wieder aufgenommen werden.“
So wurde Mirjam sieben Tage abgesondert außerhalb des Lagers. Und das Volk zog nicht weiter, bis Mirjam wieder aufgenommen wurde.
Die Bedeutung von Versöhnung und Gnade in der Gemeinde
Ein paar Anmerkungen: Die gesegnete, in der Gnade stehende Miriam befindet sich in unbeschreiblicher Gefahr, aus der Gnade herauszufallen. Deshalb wich man von ihr. Warum? Hat Mose nicht mehr vollmächtig gepredigt? Waren sie mit Gott nicht einverstanden? Nein, welch eine Familiengeschichte! Man hätte auch eine gescheitere Frau für Mose wählen können. Das ist eine uralte Geschichte, die ja schon vierzig Jahre zurückliegt.
Aber wir Menschen vergessen nicht so schnell, gerade bei Erbschaftsgeschichten, wie lange solche Dinge nachhängen. Ähnlich ist es in der Gemeinde: Diese kleinen Spannungen und Schwierigkeiten bleiben haften. Und plötzlich sind wir schuld daran, dass kein Segen mehr auf der Gemeinde liegt.
Liebe Brüder und Schwestern, wenn wir in unseren Gemeinschaften – in unseren CVHM, in unseren Hauskreisen, in der Gemeinde – nicht mehr wissen, dass wir alle ganz verschieden sind, dann entsteht Unfrieden. Wir sind verschieden in unserer Erfahrung, in unserer Herkunft, mit unserer Bildung, mit unseren Emotionen und unseren Geschmacksrichtungen. Wir werden nur zusammengehalten, weil es uns um eine Sache gemeinsam geht: um den Herrn Jesus Christus.
Wenn wir das nicht mehr wissen, machen wir uns gegenseitig verrückt. Wir ärgern uns darüber, wie der andere sich verhält, dass er zu laut singt oder zu leise, dass er zu schwäbisch schwätzt oder nicht hochdeutsch genug spricht. Jeder hat seine Vorstellung davon, welche Art von Liedern man singen sollte, dass man viel zu lang oder zu kurz betet. Man kann den ganzen Katalog aufzählen, was in der Gemeinde Jesu üblich ist, wo wir einander kritisieren: Könnte man das nicht auch anders machen?
Jeder denkt, dass er mit seiner Überzeugung natürlich Recht hat. Die ganzen Briefe im Neuen Testament – ich möchte mich auf die Spur begeben von Römer, 1. Korinther, Philipper, Kolosser, Galater – sind voll von diesen Nöten, dass wir einander nicht richten sollen. Haltet euch nicht selbst für klug, richtet lieber euch selbst! Wisst nicht, was für den anderen besser ist, sondern überlegt euch, was für euch gut ist.
Das ist im Grunde genommen ein permanentes Durchkonjugieren des Befehls Jesu: Richtet nicht! Das steht uns gar nicht zu! Stattdessen sollen wir fragen: Was kann Gott segnen? Und dabei geht es nicht nach unserer Brille oder nach unserer Vorstellung. Gott konnte die 92-jährige Miriam segnen und wahrscheinlich den noch genauso alten Mose.
Ich weiß nicht, warum es immer so alte Leute sind und warum gerade Erzieher. Aber Gott kann segnen. Gott kann einen Menschen zum Segensträger machen. Wir müssen es in der Gemeinde ernst nehmen mit der Gnade. Ich brauche vor Gott Gnade. Er muss viel bei mir in seiner Barmherzigkeit zudecken – und auch beim anderen.
Und jetzt will ich diese Rechenweise Gottes gelten lassen in der Gemeinde: Dass wir nicht alles aufdecken, von dem wir wissen, dass es aufgedeckt werden müsste; dass wir nicht weitertratschen, sondern zudecken. Lasst die barmherzige Anschauung der Dinge jetzt wichtig sein. Dass wir nicht bloß in der Gnade stehen, sondern auch mit der Gnade rechnen.
Aufruf zur Bewahrung der Gnade und Versöhnung
Bloss ein paar Worte: Lasst euch nicht abwenden von dem Gott, der euch berufen hat, in die Gnade Jesu. Sorgt dafür, dass niemand Gottes Gnade versäume und eine bittere Wurzel aufwachse.
Billige Streitigkeiten sind ein zentrales Thema in der Bibel. Sorgt dafür, dass euch die Gnade Jesu Christi miteinander wichtig ist. Natürlich hat der andere einen anderen Geschmack oder eine andere politische Auffassung. Der eine sagt, homöopathische Tröpfchenhälften seien richtig, der andere meint, man müsse zum Arzt gehen. Das sind sehr verschiedene Auffassungen.
Aber hoffentlich sind wir gemeinsam in Bernhausen darin einig, dass uns die Gnade Jesu hält. Und sie zogen nicht weiter, bis Mirjam wieder aufgenommen wurde. Dort steht ein hartes Wort: Wenn ihr Vater ihr ins Angesicht gespien hätte, dürfte sie sich sechs Tage lang nicht mehr in der Öffentlichkeit zeigen.
Gott ist es, der so handelt. Man darf sich vorstellen, wie Gott reagiert, wenn er unsere Kinkerlitzchen-Streitigkeiten in der Gemeinde sieht. Es heißt sogar in der Offenbarung, wenn das nicht anders wird, will ich dich ausspucken aus meinem Mund.
All das zeigt den großen Ernst dahinter: Man hat die Gnade nicht gepachtet. Man kann sie über Dinge verlieren, von denen wir meinen, sie seien Kleinigkeiten. Und das Volk zog nicht weiter, bis Mirjam wieder dabei war.
Beispiel aus der Gemeindearbeit und persönliches Zeugnis
In einer der Gemeinden, in der ich als Pfarrer tätig war, schloss sich ein Mitarbeiter des Kindergottesdienstes plötzlich einer merkwürdigen Sekte an. Damals gab es in diesem Ort einen recht strengen Dekan im Kirchenkampf. Er sagte: „Eo, so heißt es im Kirchenbuch. Eo Ipso aus der Kirche ausgeschlossen. Das bedeutet, wenn jemand dorthin geht, braucht er keine Austrittserklärung mehr abzugeben. Für mich ist er dann tot, aus der Kirche ausgetreten, ausgeschlossen.“
Der Mitarbeiter merkte schnell, in welchen Saftladen er geraten war. Er hätte gern wieder zurückkommen wollen, aber niemand sagte zu ihm: „Walter, du fehlst uns.“ Dann kam der Dekan Paul Lutz. Er sagte zu Walter: „Du gehörst zu uns, und du übernimmst wieder die Gruppe im Kindergottesdienst.“ Wenn ich daran denke, was Walter in der Gemeinde geleistet hat: Er konnte kaum laufen wegen seiner Hüftprobleme, war aber eine Säule der Gemeinde. Jesus!
Es muss uns beschäftigen, dass diejenigen, die durch irgendwelche dummen Geschichten, Missverständnisse, harte Worte oder Streitigkeiten hinausgedrängt wurden – ich kandidierte damals für den Kirchenvorstand, und das war ohnehin von Streit und Neid geprägt – dass sie wieder hineingewachsen sind. Das Volk zog nicht weiter.
Mein lieber, väterlicher Seelsorger und Freund, Doktor Wilhelm Jung, sagte einmal: „Es gibt viele Leute, die gehen mir auf die Nerven. Aber wenn ich schon eine Ewigkeit mit ihnen im Himmel aushalten muss, dann möchte ich mich jetzt auch mit ihnen verstehen.“ Wenn wir wirklich miteinander berufen sind durch die Gnade Jesu Christi, dann müssen wir uns auch jetzt aushalten.
Ich bin einer von denen, die die Gnade nicht gepachtet haben. Und wenn ich eingeladen bin, bei Ihnen diesen Vortrag zu halten, dann fühle ich mich genau an diese Stelle geführt.
Gebet um Bewahrung und Versöhnung
Herr, entdecke mir mein Verderben, so hat es Michael Hahn gesagt. Mach mich mir stets offenbar, denn ich stehe immer in Gefahr, die Kleidung zu verlieren.
Bewahre mich davor, dass ich andere abstöße. Lass mich hellwach werden, damit ich andere wieder hineinbegleiten kann, entdecken kann und hinführen kann in die Gnade Jesu.
So wollen wir auch darum bitten, Herr Jesus: Um uns herum sind Menschen, die enttäuscht worden sind – auch durch uns, durch die Gemeinde, in Chören, im CvdM, in Gemeinschaften. Gib uns ein geschmeidiges, liebevolles Herz, damit wir sie um ihrer ewigen Seligkeit willen und um unserer Seligkeit willen finden und wieder aufnehmen.
Gib uns einen heiligen Ernst, damit wir nicht wegen Kleinigkeiten, wegen Herummoserns an Nebensächlichkeiten bittere Wurzeln aufwachsen lassen – Unkraut in deiner Gemeinde.
Lass uns wachsen in der Gnade. Dies sei alle unsere Tage unsere Sorge, Herr, unsere Frage: Ob du selbst in uns regierst, ob wir in der Gnade stehen, ob wir auf dein Ziel zugehen, ob wir folgen, wie du führst.
Amen.