Unsere Kleider machen keine Leute, liebe Gemeinde, auch wenn dies zuweilen so aussieht. Gottfried Keller hat diese Wahrheit in seiner unvergessenen Novelle meisterhaft beschrieben. Ein bettelarmes Schneiderlein, das in Ermanglung irgendeiner Münze nur einen Fingerhut in seinen Fingern dreht, kam per Droschkenstop von Goldach nach Seldwyl. Aber weil ihn sein dunkelgrauer, mit schwarzem Samt ausgeschlagener Radmantel und seine polnische Pelzmütze so herausputzten, vermuteten sie in ihm einen geheimnisvollen Prinzen oder einen hochkarätigen Grafensohn. Der Wirt vom Gasthof Waage scheuchte sein Gesinde und tischte das Beste aus Küche und Keller auf. Die Herrenrunde von Seldwyl wollte sich auch nicht lumpen lassen und unternahm mit dem melancholischen Grafen eine Ausfahrt im Jagdwagen. Und der Herr Amtsrat witterte eine glänzen Partie und schob sein hübsches Töchterchen in den Vordergrund. Der Mann, der sonst nur Kleider machte, war ein gemachter Mann. Beim Verlobungsfest jedoch kam die Stunde der Wahrheit. Goldacher Bürger ließen sich durch Samt und Seide nicht bluffen. In dem großen Herrn erkannten sie den kleinen Gesellen. "Sieh da den Bruder Schlesier", riefen sie zur Bestürzung der Gesellschaft, "Seht hier den sanften Raphael, der freilich ein bisschen übergeschnappt ist". Aus dem Graf Strapinski ist wieder das arme Schneiderlein geworden.
Unsere Kleider machen keine Leute, auch wenn dies zuweilen so zugeht. Jakobus hat eine Szene in diesem Kapitel farbig erzählt. Eine hochgestellte Persönlichkeit, weil mit Brokat bekleidet und mit Gold beringt, betritt den Versammlungsraum. Da alle Plätze besetzt sind, eilt der Leiter zur Tür. Unter ständigen Verbeugungen und mit unablässigem Stammeln "Aber Herr Doktor! Aber Herr Direktor! Aber Herr Geheimrat!", bittet er ihn nach vorne auf einen schnell freigemachten Stuhl. Dann erscheint eine abgerissene Type unter der Tür. Die zerknitterten Hosen und das zerrissene Hemd lassen auf einen Wohnsitzlosen schließen. Sein Anzug riecht nicht nach Seifenpulver. Diesmal fuchtelt der Leiter nur mit der Hand und ruft durch den Saal "Bitte an der Wand stehenbleiben oder auf den Boden setzen!" Aber der Geist, der in alle Wahrheit leitet, lässt sich durch gestickte oder geflickte Kleider nichts vormachen. In dem Eingebildeten und Ungebildeten steckt der kleine Mensch und der lässt sich nicht hinter irgendwelchen Textilien verstecken. Unsere Kleider machen keine Leute, auch wenn dies zuweilen so angeht. Jeder hat seine Erfahrungen gemacht. Die gelbe Schülermütze macht aus dem elenden Lausbuben einen echten ABC-Schützen, aber doch keinen andern Kerl. Das lange Abendkleid macht aus der dummen Gans eine richtige Dame, aber doch keine andere Person. Die graue Uniform macht aus dem lässigen Jeansträger einen strammen Soldaten, aber doch keinen andern Mann. Der weiße Mantel macht aus dem gewöhnlichen Mediziner einen richtigen Doktor, aber doch keinen andern Zeitgenossen. Und der schwarze Talar macht aus dem munteren Nachbarn einen langweiligen Prediger, aber doch keine andere Persönlichkeit.
Gott, der die Person, wörtlich: die Maskierung und Kostümierung, nicht ansieht, lässt sich durch Kittel und Titel nicht blenden. Unsere Troddeln und Schnüre machen nichts her. Unsere Abnäher und Aufnäher machen keinen Eindruck. Unsere Kleider machen keine Leute. Aber, und das ist die Botschaft dieses Sonntags: Jesu Kleid macht Christenleut! An ihm entdecken wir den Schnitt des Reiches Gottes. Bei ihm lernen wir die Mode des Himmelreiches. Durch ihn gibt es eine herrliche Bekleidung. Jesu Kleid macht Christenleut. Lassen wir unsere Masken! Stecken wir unsere Kostüme! Geben wir unsere ganze Putzerei auf! Jesu Kleid macht Christenleut.
Wie es genauer aussieht, zeigt uns dies zweite Kapitel eines frühchristlichen Rundbriefes, der an Diasporachristen verschickt worden ist Aus den neun letzten Versen ergeben sich drei Hinweise, nämlich Jesu Kleid ist ein Armenkleid, ein Dienstkleid und ein Schutzkleid.
1. Ein Armenkleid
Schon seine Eltern hatten nicht das große Geld. Bei der Darstellung im Tempel brachten Maria und Joseph nur zwei Tauben, das Opfer von Minderbemittelten. In einer galiläischen Schreinerei ist er groß geworden. Das bedeutete in den Augen von Zeitgenossen eine benachteiligte Position in einer unterentwickelten Region Palästinas. Für die Zeit seines Dienstes wurde ihm keine Dienstwohnung zur Verfügung gestellt. Schlechter als die Vögel mit ihren Nestern und einfacher als die Füchse mit ihren Gruben war er gestellt. Irgendwelche Bezüge wurden ihm nicht überwiesen. Eine Gruppe von großzügigen Leuten sorgten für seinen Lebensunterhalt. Mit seinem Aufzug war wahrlich kein Staat zu machen. Tuch und Sandalen wiesen ihn als kümmerlichen Wanderprediger aus. Und als sie ihm schließlich einen Purpurmantel verpassten und eine Krone aufs Haupt pressten, da war er bettelarm. Die Armut Jesu ist eine Tatsache. Alle vier Evangelisten berichten übereinstimmend davon. Jesu war arm. Jesus zählte zu den Armen. Jesus trug das Armenkleid.
Deshalb ist keiner mit seiner Armut allein. Der sozial Arme ist gemeint, dem die Kündigung seines Arbeitsplatzes ins Haus steht und der nicht weiß, wie in Zukunft der Mietzins und die Ölrechnung zu begleichen ist. Der körperlich Arme ist gemeint, der seit Jahren an einem unheilbaren Leiden trägt und der trotz vieler Medikamente unsagbare Schmerzen auszuhalten hat. Der geistig Arme ist gemeint, der die geforderte Leistung in der Schule und im Betrieb einfach nicht bringen kann und der deshalb immer das fünfte Rad am Wagen spielen muss. Und der geistlich Arme ist gemeint, der vor lauter Dreck am Stecken sich nicht mehr unter die Augen Gottes traut. Christoph Blumhardt hatte schon recht, wenn er einmal bemerkte: "Es gibt viel mehr Arme, als wir meinen". Es gibt viel mehr Kaputte, als wir denken. Es gibt viel mehr Ausgebrannte, als wir annehmen. Ja, gibt es überhaupt einen, der sich im Blick auf sein Leben nicht dazu zählen muss?
Hört also ihr zu, ruft der Apostel: Hat nicht Gott die Armen auf dieser Welt erwählt? Hat nicht Gott das erbärmliche Sklavengesindel zu seinem Volk geadelt? Hat nicht Gott einen schlichten Viehhirten zum bedeutendsten König Israels berufen? Hat nicht Gott ein schlichtes Mädchen zur Mutter seines Sohnes erwählt? Hat Gott nicht gerade den Armen das ganze Himmelreich versprochen? Er hat einen Zug nach unten, wo wir immer nach oben schielen. Er ist parteiisch für die Kleinen, wo wir nur für die Großen stimmen. Er paktiert mit den Armen, wo wir gerne die Reichen hofieren. Deshalb degradierte er seinen einzigen Sohn zum Bettelkönig, damit auch der Allerärmste merken kann: Einer geht mit mir, der mich versteht und liebt. Jesus trug das Armenkleid. Aber nun nicht so wie ein Vater, der sich aus Solidarität mit seinen heranwachsenden Söhnen an Jeanshosen und Lederjacken gewöhnt, oder so wie eine Mutter, die aus Liebe zur Tochter mit ihr den Partnerlook demonstriert. Jesus war nie nur wie die Armen, sondern immer für die Armen. Sein Armenkleid war von allem Anfang an, und das ist das Zweite:
2. Ein Dienstkleid
Als er zu Beginn seiner Tätigkeit in der Synagoge von Nazareth mit folgendem Zitat aus dem Propheten Jesajas eine neue Ara einläutete: "Der Geist des Herrn ist bei mir, darum weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen", da war das kein politischer Paukenschlag, der schnell wieder verebbte, sondern der erste Spatenstich, dem weitere Taten folgten. Jesus selber krempelte die Ärmel hoch und fasste an. Da wurden die Augenbinden der Blinden weggenommen. Da wurden die Krückstöcke der Lahmen auf die Seite gelegt, da wurden die Liegematratzen der Dauerkranken geschultert. Da wurden die Fingersprachen der Tauben überflüssig. Da wurden die Gittertore der Leprastation geöffnet. Da wurden die Tränen der Trauer und des Schmerzes getrocknet. Und als er dafür nicht Dank, sondern Prügel bezog und sogar sterben musste, da wurden die Augen der Jünger für seine Liebe aufgetan. Der, der an seinem Kreuz das Spottschild mit der Aufschrift: "Der Juden König" dulden musste, hat mit seinem ganzen Leben jene mosaische Verordnung zum königlichen Gesetz erhoben: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! Warum haben wir nur ein leergeklopftes Sprichwort daraus gemacht?
Jesus trug ein Dienstkleid. Deshalb kann sich auch keiner mit seinem Armenkleid zufriedengeben. Kierkegaard, der dänische Religionsphilosoph, sagte einmal, dass es zwei Arten von Christen gebe, einmal die Nachfolger und dann die billigere Ausgabe davon, die Bewunderer. Einmal die Mitarbeiter, dann die billigere Ausgabe davon, die Mitläufer. Einmal die Genossen, und dann die billigere Ausgabe davon, die Genießer. Es ist doch billig, seine Hände in den Hosentaschen zu wärmen. Es ist doch billig, seine Hände in den Schoß zu legen. Es ist doch billig, seine Hände nicht schmutzig zu machen. Ja, wie können wir es uns überhaupt so billig machen, wo er es sich so viel kosten ließ? Ist denn ein Telefonanruf in jener Altenwohnung zu teuer, wo fast nie eine Glocke klingelt und der Tag so unendlich lang wird? Ist denn die Briefmarke zu für jene Zeilen zu kostspielig, die dem ausgezogenen Kind Versöhnungsbereitschaft signalisiert? Ist denn die Straßenbahnkarte ins Krankenhaus zu aufwendig, wo ein Kranker auf ein aufmunterndes Wort wartet. Ist denn ein Päckchen nach drüben nicht mehr zu bezahlen, wo viel weniger als bei uns ist? Ist denn mit dem schlichten Gebot der Nächstenliebe zu viel verlangt? Jeder noch so kleine und beschiedene Schritt bring uns dem Herrn näher, der selber das Dienstkleid getragen hat. Schließlich darf nicht übersehen werden, dass dieses von Gott dem Sohn verliehene Armen- und Dienstkleid auch, und das ist das Dritte
3. Ein Schutzkleid ...
... ist. Erinnern Sie sich: Ein aufgebrachter Mob konnte ihn eines Tages bis an den Abgrund zerren, aber kurz vor der Schlucht ging er mitten durch sie hinweg. Eine skrupellose Miliz konnte ihm unbarmherzig den Rücken gerben, aber seine Barmherzigkeit war nicht auszupeitschen: "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun." Eine verrohte Soldateska konnte am Fuß des Schandholzes seine Fetzen verwürfeln, aber ihm jenen letzten Schutz nicht nehmen, der ihn durch Tod und Hölle trug. In schwersten Stunden erfuhr Jesus selber die Verheißung seines Vaters: "Und wenn du durch Wasser gehst, werde ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht ersäufen sollen; und wenn du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme soll dich nicht versengen". Jesus trug ein Schutzkleid.
Deshalb muss keiner dem Kommenden schutzlos preisgegeben sein. Warum ist denn so viel Angst und Furcht unter uns? Es gibt einen Stoff, der für alles Widrige undurchlässig ist. Es gibt einen Überwurf, der auch bei Minusgraden uns genug Wärme schenkt. Es gibt eine Bekleidung, die auch bei Sturm wind- und wetterfest ist. Ja, es gibt einen Mantel, der selbst im letzten Feuer nicht in Flammen aufgeht, denn, und das sagt Jakobus, die Barmherzigkeit rühmt sich wider das Gericht.
Liebe Freunde, wer von uns wollte diesen Stoff nicht haben? Wer von uns wollte diesen Überwurf nicht besitzen? Wer von uns wollte diese Bekleidung nicht sein eigen nennen? Dann sähen wir anders aus. Dann könnten wir uns sehen lassen. Dann könnte der Winter kommen. Aber uns geht es wie jenen Leuten vor der Kleiderboutique in der Fußgängerzone, die ein Nobelstück bewundern, dann aber das Preisschild lesen und wissen: nicht für uns. Diese Mode ist für jene, die am Laufsteg sitzen. Aber Jesus ging doch nicht über den Laufsteg, sondern über den Kreuzweg. Jesus steht doch nicht hinter dem Schaufenster, sondern vor unserer Tür. Jesus will doch nichts verkaufen, sondern alles verschenken. Vor uns packt er dies aus. Ein Sonderangebot von einmaliger Qualität. Für euch, sagt er, für euch: ein Armen-, Dienst- und Schutzkleid. Das ist die Größe, die passt. Das ist die Nummer, die sitzt. Das ist die Mode des Reiches Gottes.
Wer Jesus trägt, ist zwar nicht modisch gekleidet, aber modern, das heißt der Zukunft zugewandt. Nur zugreifen müssen wir. Jesu Kleid macht Christenleut.
Amen
---- [Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]