Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.
Auch von meiner Seite ein herzliches Grüss Gott an diesem weihnachtlichen Sonntag Jubilate, an dem manche bereits mit der Schneeschaufel hier angekommen sind.
Wir haben heute ein Thema: Wir sehen nicht auf das Sichtbare, sondern leben und denken im Licht der Osterwirklichkeit.
Liebe Schwestern und Brüder, liebe Gemeinde,
im antiken Griechenland liebte man den großen Auftritt. Heute würden wir von einer Performance sprechen, im Neudeutschen. Das Drama war beliebt, ebenso der Glanz und der Glamour. Nur der fand Gehör in dieser antiken Welt, der Eindruck schinden konnte. Wer mit brillanten Gedanken, großen Gesten und einer bestechenden Persönlichkeit glänzte, wurde beachtet.
Auf der Agora, dem Markt- und Versammlungsplatz von Korinth – dieser großen antiken Hafenstadt in Griechenland auf der Peloponnes – boten Dichter und Denker ihre Weisheit als Bildungsangebot zum Kauf an. Daneben brillierten im Amphitheater Schauspieler mit ihrer Darstellungskunst. Bei den isthmischen Spielen, die alle zwei Jahre in dieser Stadt stattfanden, kämpften die besten Athleten Griechenlands mit muskulösen Körpern um den Siegeskranz – beim Lauf, beim Ringen oder beim Diskuswurf.
Man musste schon etwas draufhaben, um in Korinth Erfolg zu haben. Man musste brillieren, man musste performen, man musste glänzen.
Es war dieser Hintergrund, der für einen Aha-Moment in der noch jungen Kirchen- und Theologiegeschichte sorgte. Denn als im Jahr 49 nach Christus der Apostel Paulus mit seinem Evangelium von Jesus Christus in diese Stadt kam, kam es zu einer Begegnung zwischen zwei Welten. Diese Begegnung beschäftigt uns bis in die Gegenwart, weil sich diese zwei Welten immer wieder begegnen.
Von Anfang an sah sich Paulus mit korinthischen Erwartungen konfrontiert. Man fragte: Wo sehen wir bei dir, lieber Paulus, die Brillanz deiner Gedanken? Wann beeindruckst du uns endlich einmal mit einer grandiosen Rhetorik? Wann performst du mit einem herausragenden Auftritt? Wenn wir deiner Botschaft Glauben schenken sollen, dann müssen wir bei dir etwas Faszinierendes hören, etwas Beeindruckendes erleben, etwas Herausragendes sehen.
Auch in der Gemeinde, die sich in Korinth um das Evangelium gesammelt hatte, blieben diese Erwartungen lebendig. Dieses Denken sorgte immer wieder für Irrungen und Wirrungen. Paulus kämpft in den beiden Briefen nach Korinth immer wieder mit diesen Dingen.
Im ersten Korintherbrief schrieb er einmal: „Auch ich, liebe Brüder, als ich zu euch kam, kam ich nicht mit hohen Worten und hoher Weisheit, euch das Geheimnis Gottes zu verkündigen. Das war Absicht. Ich war bei euch in Schwachheit, in Furcht und mit großem Zittern. Mein Wort und meine Predigt geschahen nicht mit überredenden Worten menschlicher Weisheit, sondern in Erweisung des Geistes und der Kraft, damit euer Glaube nicht auf Menschenweisheit stehe, sondern auf Gotteskraft.“
Das Evangelium ist nach den Maßstäben der Korinther – oder darf ich sagen nach den Maßstäben dieser Welt – keine intelligente Botschaft. Es ist keine spontan überzeugende Botschaft, keine überwältigend beeindruckende Botschaft. Es ist keine Botschaft, die den Ohren schmeichelt oder den Spontanapplaus provoziert.
Aber nicht nur die Botschaft war in Korinth eigentlich nicht konkurrenzfähig, auch der Botschafter war es nicht. Paulus war offensichtlich kein Performer. Sein Auftritt war nicht der Brüller, und seiner Persönlichkeit fehlte offensichtlich der Wow-Effekt.
Im zweiten Korintherbrief zitiert Paulus, was ihm aus Korinth zu Ohren gekommen ist. Er zitiert Korinther: „Ja, Briefe schreiben konnte er, und die sind auch echt stark, aber wenn er selbst da ist, wenn er selbst anwesend ist, ist er schwach, und seine Rede ist kläglich.“
Wie soll man so einem Botschafter Vertrauen schenken?
In unserem heutigen Predigttext aus 2. Korinther 4, der gleichzeitig der Predigttext für diesen Sonntag Jubilate ist, geht es genau um dieses Thema. Es geht um die leibliche Erscheinung des Paulus, um seine Figur, seine Persönlichkeit und seine Ausstrahlung. Es geht um seinen Leib, der sicherlich kümmerlich gewesen sein muss.
Wenige Verse vor unserem Predigttext schreibt Paulus: „Wir Apostel tragen allezeit den Sterbevorgang Jesu an unserem Leib.“ Damit meint er den Prozess am Kreuz, bei dem Jesus zu Tode kam. Diesen Vorgang des Sterbens, des Dahinsiechens, tragen wir an unserem Leib, damit auch das Leben Jesu an unserem Leib offenbar werde. Denn wir, die wir leben, werden immer wieder dem Tod übergeben um Jesu Willen, damit auch das Leben Jesu an unserem sterblichen Fleisch sichtbar wird. An uns könnt ihr das Kreuz Jesu ablesen.
Die Erscheinung des Paulus muss erbärmlich gewesen sein. Doch Paulus erklärt, warum das seine sachliche Richtigkeit hat. Noch drei Verse vorher schreibt er: „Wir haben diesen Schatz des Evangeliums, das wir euch verkündigen, in irdenen Gefäßen, in einem zerbrechlichen Tontopf, in einem unansehnlichen Tontopf.“ Wir haben diesen Schatz, damit die überschwängliche Kraft von Gott sei und nicht von uns.
Gott verpackt sein Evangelium in altes Zeitungspapier, damit Menschen nicht von der Verpackung beeindruckt werden, sondern vom Inhalt verändert werden. Das Evangelium vom gekreuzigten Jesus Christus kommt auch in seiner Verpackung und in seinen Verkündigern kreuzförmig daher. Die Kraft des schwach gewordenen Gottessohnes verkörpert und verkörpert sich buchstäblich in schwach gewordenen Verkündigern.
Darum geht es in unserem heutigen Predigttext: Diese Schwachheit ist nicht Gottes letztes Wort. Diese Schwachheit ist nur eine Scheinwirklichkeit. Die Schwachheit unserer Körper und Leiber ist auch nur eine Verpackung für etwas Ewiges, für etwas Herrliches.
Ich lese den Predigttext 2. Korinther 4,14-18:
Denn wir wissen, dass der, der den Herrn Jesus auferweckt hat, auch uns mit Jesus auferwecken und vor sich stellen wird – zusammen mit euch. Dies geschieht alles um eurer willen, damit die Gnade durch viele wachse und die Danksagung zur Ehre Gottes noch reicher werde.
Darum werden wir nicht müde. Auch wenn unser äußerer Mensch verfällt, wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert.
Denn unsere Bedrängnis, die zeitlich und leicht ist, schafft für uns eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit. Wir sehen nicht auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Denn was sichtbar ist, ist zeitlich; was aber unsichtbar ist, ist ewig.
Ich möchte das in drei Punkten entfalten.
Das Erste: Unsere Auferstehung ist die Enthüllung der Verherrlichten. Dieser Tag, ein Gottesauferstehungstag, wird eine große Show sein. Nicht zuerst andere werden sehen, wer Gottes Kinder sind, sondern wir selbst werden erkennen, wer wir wirklich sind. Aus hässlichen Entlein werden weiße Schwäne, aus Aschenputtel werden Prinzessinnen, und aus Lahmen und Kranken werden Königskinder. Das wird ein großes Staunen hervorrufen.
Paulus schreibt an anderer Stelle im Kolosserbrief: „Denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist verborgen, verhüllt mit Christus in Gott. Wenn aber Christus, euer Leben, sich offenbaren wird an seinem großen Tag, dann werdet auch ihr offenbar werden mit ihm, und zwar im Modus der Herrlichkeit.“ (Kolosser 3,3-4)
In uns steckt das Leben Jesu. Wenn der Auferstandene sich offenbaren wird, werden auch wir offenbar werden – und zwar in der Form der Herrlichkeit, nicht mehr in der Erscheinungsform der Endlichkeit, Vergänglichkeit und Sterblichkeit. Das, was man dann an uns sehen wird, steckt heute schon in uns drin, an diesem Sonntagmorgen.
Paulus schreibt in diesem Predigttext: „Darum werden wir nicht müde, sondern auch wenn unser äußerer Mensch verfällt, so wird der innere von Tag zu Tag erneuert.“ (2. Korinther 4,16)
Was meint Paulus mit dieser merkwürdigen Unterscheidung zwischen äußerem und innerem Menschen?
Der äußere Mensch ist leicht zu erklären: Er ist der Mensch, den wir sehen, wenn wir in den Spiegel schauen. Unser äußerer Mensch ist identisch mit unserem vergänglichen und sterblichen Körper, in dem wir uns wahrnehmen. Er ist dieses irdene Gefäß, dieser unansehnliche Tontopf, in den Gott sein Evangelium hineingießt.
Der äußere Mensch ist der, an dem Paulus den Sterbevorgang an sich selbst erlebt, den Sterbevorgang Jesu an sich selbst erfährt. Er ist der Mensch, an dem wir oft leiden: Als junger Mensch, weil er vielleicht nicht so hübsch ist, wie wir es gerne hätten; als Studierender, weil der müde Leib den Geist beim Lernen bremst; als erfolgreicher Mensch, weil er Grenzen hat, die wir gerne überwinden würden; als Kranker, weil er uns Schmerzen bereitet; als Sterbender, weil das Sterben ein schwerer Weg sein kann.
Dieser äußere Mensch findet im Tod sein Ende.
Wichtig ist jedoch, dass Paulus diesen äußeren Menschen, der Schwäche, Krankheit, Alterung, Vergänglichkeit und Tod unterworfen ist, nicht negativ bewertet. Er ist nichts Schlechtes und erst recht nichts Böses. Er ist nicht das Gefängnis der Seele oder gar das irdische Grab des Geistes, aus dem diese mit dem Tod befreit werden müssten – wie das in der Antike und bis heute im deutschen Idealismus oft gedacht wird.
Dort gilt der Leib als das Negative, die Seele oder der Geist als das Positive, und wenn der Leib vergeht, wird die Seele befreit. So denkt Paulus jedoch nicht. Aus diesem antiken Menschenbild resultierte eine Geringschätzung des Leibes. Das wird hier nicht gesagt.
Wir sollten den Leib nicht verachten oder geringschätzen. Er ist nichts Schlechtes, sondern nur vergänglich.
Dem äußeren Menschen stellt Paulus nun den inneren Menschen gegenüber.
Wir sollten diesen inneren Menschen aber nicht mit der Seele, dem Geist oder dem Verstand verwechseln – das wäre ein Missverständnis. Dieser innere Mensch ist vielmehr das, was wir am Tag der Auferstehung sehen werden.
Deshalb spricht Paulus auch davon, dass es diesen inneren Menschen nur bei glaubenden Menschen gibt. Nur ein Christgläubiger besitzt diesen inneren Menschen, der Tag für Tag erneuert wird. Nur der Gläubige schaut nicht auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare.
Dieser innere Mensch ist das, was bleibt, wenn der glaubende Mensch stirbt. Er ist die Kontinuität zwischen diesem Leben und dem kommenden.
Für diesen inneren Menschen ist am Auferstehungstag Showtime. Dann wird dieser innere Mensch ins himmlische Jerusalem einziehen und dabei singen: „Oh, when the Saints go marching in.“
Aber wie wird dieser innere Mensch aussehen? Wie müssen wir uns das vorstellen? Wie werden wir einmal aussehen?
Im ersten Johannesbrief steht ein ganz ähnlicher Vers wie bei Paulus im Kolosserbrief, und gleichzeitig verrät er uns noch ein bisschen mehr:
„Meine Lieben, wir sind schon Gotteskinder, aber es ist noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir sind alle noch verhüllt, wie wir heute Morgen da sitzen. Wir wissen aber: Wenn es offenbar werden wird, werden wir ihm gleich sein, dann werden wir ihn sehen, wie er ist.“ (1. Johannes 3,2)
Was aber hatte Jesus für einen Leib nach seiner Auferstehung? Die zweite Auferstehung Jesu ist die Vorschau auf unsere eigene Auferstehung.
In den biblischen Osterberichten begegnet uns Jesus auf eine ganz besondere Weise. Zunächst wird er oft nicht erkannt. Maria Magdalena hält ihn am Ostermorgen für den Gärtner. Die Emmausjünger machen eine elf Kilometer lange Wanderung mit diesem Begleiter. Erst am Abend, als er das Brot bricht, erkennen sie, mit wem sie unterwegs waren.
Die Jünger treffen ihn am See Genezareth. Erst als sie mit berstenvollen Netzen ans Ufer kommen, dämmert ihnen, wer sie zum Fischzug motiviert hat – derjenige, der sagte, sie sollten die Netze noch einmal auf der rechten Seite auswerfen. Nachdem ihnen die Augen geöffnet wurden, können sie ihn eindeutig erkennen.
Der Auferstehungsleib Jesu ist licht und leicht. Er kann durch Wände und geschlossene Türen hindurchgehen und unterliegt nicht mehr der Schwerkraft. Es ist ein verwandelter Leib, ein unverweslicher Leib, der nicht mehr der Vergänglichkeit und Sterblichkeit unterworfen ist.
Gleichzeitig isst und trinkt der Auferstandene mit seinen Jüngern. So werden auch wir einmal in seinem Reich, zu dem viele kommen werden von Osten und Westen, von Süden und Norden, an einem großen Freudenmahl teilnehmen. Dort werden wir an reich gedeckten Tischen mit Jesus essen und trinken. Das bedeutet, wir werden einmal genießende Menschen sein – worüber ich mich besonders freue.
Im Johannesevangelium bittet Jesus den zweifelnden Thomas, seine Nägelmale und die Seitenwunde zu betasten. Es ist ein fassbarer Leib. Und es ist ein Leib, an dem wir noch die Spuren des Leidens sehen: seine Nägelmale und die Seitenwunde. Das ist interessant, denn Jesus bleibt auch als Auferstandener bis in Ewigkeit der Gekreuzigte.
Er will von niemandem anders erkannt werden als an seinen Wundmalen. Er bleibt auch als Auferstandener der Gekreuzigte. Das bedeutet für uns, dass wir nicht viel anders aussehen werden als in diesem Leben. Ich meine nicht so wie heute, sondern wie in diesem Leben.
An uns wird, wie es in diesem Predigttext heißt, eine ewige und über alle Maße gewichtige Herrlichkeit sichtbar werden. In dieser Herrlichkeit wird man vermutlich auch die Wunden sehen können, die wir in diesem Leben erlitten und erduldet haben. Man wird die Schrammen und Striemen unseres Lebens erkennen, doch sie werden herrlich verklärt sein.
Die Auferstehung ist nicht die Erlösung von meiner Leiblichkeit, sondern die Lösung meiner Leiblichkeit. All das Begrenzte, Schwache und Schmerzhafte wird nicht unsichtbar, sondern es wird gelöst, verwandelt, verherrlicht und verklärt.
Das Wort Verklärung meint dabei nicht eine Beschönigung im Sinne von Aufhübschen dessen, was vorher schmutzig war. Es geht nicht darum, etwas hübscher zu machen, als es ist. Nein, bei der Verklärung geht es um eine Verklarung.
In der Verklärung wird das Unklare klar. Das Eigentliche, Wahre und Wesentliche wird erst richtig wahrnehmbar und sichtbar.
Wir sind uns in diesem Leben oft selbst ein Rätsel. Wenn wir denken, wir wüssten, wer wir sind, dann liegen wir meistens falsch. Unser Leben ist uns oft ein Rätsel, und wie oft scheitern wir daran, uns selbst zu verstehen!
Wenn Gott mich einmal verwandelt, verherrlicht und verklärt, dann werde auch ich selbst für mich klar sein.
Ein drittes und letztes: Meine Auferstehung ist Gottes Ja zu meinem Leib. Dass die Bibel von der Auferstehung des Leibes spricht – und zwar nicht nur vor der Auferstehung und Verwandlung des Leibes Jesu, sondern auch von der Auferstehung und Verwandlung unseres Leibes – ist keine Selbstverständlichkeit. Es gibt nicht viele Religionen, die das tun.
Im christlichen Glauben ist der Leib nicht das Schlechte, nicht das Mangelhafte, nicht das niederziehende Element unseres Lebens. Ich sagte es schon: Wir werden nicht von der Leiblichkeit erlöst, sondern die Nöte unseres Leibes werden gelöst. All die Krankheiten, die Begrenzungen, die Schmerzen, die Wunden, ebenso wie die Bedürfnisse, das Begehren und Verzehren, werden gelöst sein.
„Gottes Ziel ist nicht die Auflösung unseres Leibes, sondern seine Verwandlung, seine Verherrlichung, seine Verklarung, denn der Ursprung dieses Leibes ist gut, ganz und gar gut, und das Ziel dieses Leibes ist noch etwas viel Besseres.“ Friedrich Christoph Oettinger, einer der Väter des württembergischen Pietismus, hat es einmal auf den Punkt gebracht: Die Leiblichkeit ist das Ende der Wege Gottes.
Wir ziehen nicht als gasförmiges Luftgemisch durchs himmlische Jerusalem, sondern als leibhafte Menschen. Die österreichische christliche Religionsphilosophin Hanna Barbara Gerl-Falkowitz formuliert es so: Der Leib ist der Lieblingsweg der Gnade. Die Auferstehung ist Gottes Ja zu meinem Leib. Nicht nur meine Seele wird erlöst, sondern auch mein Leib wird erlöst, verwandelt und verklärt.
Was bedeutet das für unser Verhältnis zu unserem Leib?
Heute erleben wir eine eigenartige Spannung in Bezug auf unseren Körper. Auf der einen Seite gibt es eine gewisse Vergötzung des Leibes. In der Erotikindustrie wird der Leib angeboten und verkauft – allerdings meist nur der schöne, junge Frauenleib. In der Fitnessindustrie wird der Körper trainiert, um immer neue Ziele zu erreichen. Er wird optimiert, selbst optimiert, damit er unseren Zielen nicht im Wege steht und sie möglichst wenig behindert.
In der geriatrischen Medizin wird der Leib so lange wie möglich am Leben erhalten, weil das Leben in der Zeit für den modernen Menschen alles ist. Eine Ewigkeit kennt er nicht mehr.
Auf der anderen Seite erleben wir eine Verachtung des Leibes. Zum Beispiel die Verachtung des ungeborenen Leibes, wenn Abtreibung zum Grundrecht erklärt wird – so wie es in Frankreich vor wenigen Wochen geschehen ist und wie es kürzlich vom Europäischen Parlament gefordert wurde.
Wir erleben auch die Verachtung des geschlechtlichen Leibes, wenn wir aufgrund des neuen Selbstbestimmungsgesetzes selbst bestimmen sollen, welches Geschlecht unser Leib haben soll.
Dabei ist der Leib das, was immer schon vor unserem Sehen, Denken und Reden da war. Unser Leib war da, bevor wir ihn sehen konnten, er war schon da, bevor wir über ihn nachdenken konnten, und er war da, bevor wir über ihn reden konnten – bevor wir irgendetwas über ihn bestimmen konnten.
Unser Leib ist uns immer einen Schritt voraus. Er spricht zu uns, noch bevor wir es können. Er sagt uns, wer wir sind und übrigens auch, wer wir in Ewigkeit sein werden.
Deshalb ist es eine trügerische Illusion, wenn das neue Selbstbestimmungsgesetz festlegt, dass wir jetzt seine Identität bestimmen dürfen, so als seien wir ein unbeschriebenes Blatt, das wir jetzt beschreiben könnten. Vielmehr ist es so, dass der Leib immer schon zu uns spricht.
Er gibt uns eine Prägung und eine Aufgabe, nämlich entweder die der Zeugung oder der Empfängnis. Er erwartet von uns Respekt und Achtung. Und wir können ihn nur zu unserem eigenen Schaden ignorieren. Als Herzinfarktpatient weiß ich, wovon ich spreche.
Wir werden nicht dann zu uns selbst finden, wenn wir unsere Identität selbst bestimmen. Wir werden zu uns selbst finden, wenn wir die Botschaft hören, die uns Gott durch die Schöpfung unseres Leibes zuspricht.
Unsere Freiheit besteht nicht darin, die Dinge so zu bestimmen, wie sie uns passen, sondern darin, sie als Gabe und als Aufgabe in der Schöpfung anzunehmen.
Gott hat zum ersten Mal Ja zu unserem Leib gesagt. Und wenn Gott in der Auferstehung meinen Leib lösen, verwandeln und verklären wird, dann sagt er noch einmal Ja zu ihm. Deshalb darf auch ich zu meinem Leib Ja sagen.
Das ist das Evangelium dieses Sonntags. Es ist das Evangelium für diejenigen, die unter ihrem Leib leiden – sei es, weil er nicht hübsch genug ist, sei es, weil er nicht kräftig genug ist, sei es, weil er nicht leistungsfähig genug ist oder weil er nicht gesund genug ist.
Am Kreuz hat Christus an seinem Leib für unseren Leib gelitten, und am Ostertag hat er mit seinem Leib eine Vorschau gegeben auf das, was seine Kinder einmal werden sollen.
Wir sehen nicht auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare, denn das Sichtbare ist zeitlich, das Unsichtbare aber ist ewig.