Begegnungen mit der weltweiten Christenheit und die Bedeutung kleiner Leute
Als Kirchenmann ist er weit herumgekommen. In über vier Jahrzehnten kirchlichen Dienstes lagen ihm die Kontakte zur weltweiten Christenheit besonders am Herzen. Rolfs Chefbuch, Prälat im Ruhestand, erzählt anschaulich und kenntnisreich von seinen Begegnungen mit Christen in Afrika, Südamerika, Skandinavien und auch in Russland.
Von entscheidender Bedeutung ist für ihn dabei, was Gott in der Kirchen- und Missionsgeschichte getan hat – durch, wie er es nennt, große und kleine Leute. Mit besonderem Interesse verfolgt er die Spuren des christlichen Adels, sozusagen das blaue Blut, das von Gott geadelt wurde.
Üblicherweise hat die Regenbogenpresse mit Fürstenhäusern zu tun, vom Haus Windsor bis nach Monaco, und mit dem ganzen Glanz und Trubel drumherum – von kleinen Skandälchen bis zu größeren Skandalen. Die Gemeinde Jesu bestand jedoch von Anfang an aus kleinen Leuten. Es waren schwache Menschen, die normalerweise nicht im Rampenlicht standen. Doch sie hatten mit Jesus einen unüberbietbaren Herrn und König.
Jesus gibt jedoch auch eine Platzanweisung für Menschen, die als große Tiere gelten. Er kann sie richtig geschwisterlich in die Gemeinde der kleinen Leute einbauen. Wenn das geschieht, sind sie von Gott geadelt mit dem Würdetitel, Brüder und Schwestern Jesu zu sein – und auch untereinander Schwestern und Brüder im Geist Jesu.
Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Ein Adeliger als Bruder unter Brüdern
Die Gestalt des Grafen Nikolaus Ludwig von Zinzendorf zählt wohl zu den bedeutendsten und herausragendsten Wegbereitern der protestantischen Mission im achtzehnten Jahrhundert.
Zinzendorf wurde von Jesus bewusst an die Seite der kleinen Leute gestellt, obwohl er eigentlich von adeliger Herkunft war und seinem Blut nach dazu bestimmt schien, an Fürstenhöfen zu wirken. Das Besondere an Zinzendorf, das wahrscheinlich an seinem dreihundertsten Geburtstag kaum erwähnt wird, ist, dass er von Gott als Bruder unter Brüdern verstanden wurde.
Er hatte nicht nur blaues Blut, sondern tiefblaues Blut. Er gehörte zum höchsten europäischen Adel, war ein Grandseigneur, nobel, weltgewandt, geistreich und phantasievoll. Zudem war er ein gewandter Fechter, und selbst das wildeste Pferd konnte ihn nicht abschütteln. Er war ein Mann mit hinreißendem Auftreten. Doch das Wichtigste, noch wichtiger als all diese Eigenschaften, geschah dort, wo Zinzendorf Ernst nahm: nicht „Ich bin wichtig“, sondern „Er, Jesus, ist wichtig. Er hat das Sagen.“
Im Alter von zehn Jahren, also im Jahr 1710, kam Zinzendorf auf die Schule nach Halle zu August Hermann Francke, der großen Einfluss auf ihn ausübte. Jahre später gründete er hier zusammen mit anderen jungen Männern eine christliche Bruderschaft, den Senfkornorden. Das Ziel dieser Gemeinschaft war, wie sie es nannten, die ganze Menschheitsfamilie zu lieben und das Evangelium zu verbreiten.
Von Halle aus ging Zinzendorf nach Wittenberg, um Rechtswissenschaften zu studieren und sich auf eine Karriere im Staatsdienst vorzubereiten. Doch Zinzendorf sehnte sich danach, in den Dienst Christi zu treten.
Oft wird behauptet, der junge Reichsgraf habe sich mit neunzehn Jahren in Düsseldorf bekehrt, dort in einer Gemäldegalerie, als er vor dem Bild des leidenden Jesus, des gekreuzigten Jesus, stand. Doch das stimmt nicht ganz. Zinzendorf wollte seit seiner Jugend Jesus gehören. An jenem Tag in Düsseldorf schrieb er abends in sein Tagebuch: „Ich bat den Heiland, er möge mich mit Gewalt in die Gemeinschaft seiner Leiden hineinreißen, auch wenn mein Sinn nicht hinein wollte.“
Damals begann für den begabten jungen Grafen die Ahnung, dass große Dinge geschehen können, wenn er bereit ist, sich demütigen zu lassen. Nicht er selbst sollte groß herauskommen, sondern Jesus sollte als der große Herr und Gott erkannt werden.
Später konnte Zinzendorf in seiner für ihn typischen Diktion sagen: „Ich habe mich in heiliger Rigorosität entschlossen, alles im Licht des Mannes am Kreuz zu sehen.“ Weil er alles, was ihm wirklich wichtig war, in Reime fasste, dichtete er als Gebet und Bitte an Jesus:
„Er schüttere doch den trägen Sinn,
der nichts von Arbeit weiß,
und reiß ihn aus der Faulheit hin
zu deinem Kampf und Schweiß.
War zu der Herrlichkeit die Schmach,
dein ordentlicher Weg,
so geht dir seine Herde nach,
auch über diesen Steg.
Drum leid auf deiner Leidensbahn
uns selber bei der Hand.“
Dieser heilige Entschluss begann damals in Düsseldorf: „Jesus, reiß mich mit Gewalt in die Gemeinschaft mit einem Leiden, auch wenn mein Sinn gar nicht dort hinein will.“
Für heutige Ohren klingt das fremd, vielleicht sogar düster. Doch was hat Zinzendorf damit gemeint? Wie hat er diese Leidensgemeinschaft konkret erlebt?
Die Gründung von Herrnhut und die Begegnung mit kleinen Leuten
Damals, als Zinzendorf aus seinen großen, genialen Plänen herausgerissen wurde, wollte er das Zeitgefühl der damaligen Epoche ins Christentum übersetzen – auch das reichsherrliche. Er war im Pädagogium von Halle erzogen worden, zu Füßen von August Hermann Francke. Sein Ziel war es, auf seinen Gütern in der Oberlausitz eine christliche Kommandozentrale aufzubauen. Dieses Elitezentrum sollte pädagogische und Bildungseinrichtungen sowie ein christliches Schulungszentrum umfassen.
Von diesem Zentrum aus sollten weckende Impulse in eine verschlafene Christenheit ausgehen. Doch dann kam alles anders. Plötzlich tauchten genau dort, in der Oberlausitz, in Berthelsdorf, versprengte Gruppen von Flüchtlingen auf. Es handelte sich um übrig gebliebene Reste der böhmisch-mährischen Brüderkirche, einer evangelischen Kirche. In ihrer Heimat waren diese Menschen bis aufs Blut von der katholischen Kirche verfolgt worden.
Unter den Flüchtlingen waren Handwerker, Messerschmiede, Schneider und Zimmerleute. Sie kamen arm und abgerissen, von bitterem Schicksal gezeichnet. Zinzendorfs Verwalter auf dem Gut gestattete ihnen, primitive Flüchtlingshütten am Rand eines Hügels zu errichten, der den Namen „Hutberg“ trug. Der Zimmermann Christian David, der Anführer der Flüchtlinge, schlug seine Axt in den Stamm eines Baumes und sagte: „Hier haben wir Heimat gefunden, in des Herrenhut.“ Damit war nicht nur der Windschatten des Hutberges gemeint, sondern es entstand der Name „Herrnhut“.
Ob es Zinzendorf nun passte oder nicht – er musste Respekt vor diesen einfachen Leuten haben. Denn sie hatten alles andere als einen engen Kirchturmhorizont. Sie suchten nicht nur eine Nische oder eine geschützte Bleibe, in der sie endlich ihren evangelischen Glauben ungestört leben konnten. Nein, Herrnhut sollte für sie nichts anderes sein als ihr Basislager.
Christian David etwa durchzog von Herrnhut aus noch einmal seine böhmisch-mährische Heimat. Er evangelisierte im katholischen Schlesien, bis er auch dort wieder vertrieben wurde. Er missionierte unter Studenten in Jena, zog nach Livland, dann nach Holland und schließlich sogar nach Grönland und Nordamerika.
Sein Bekenntnis, das er in typisch herrnhutischem Stil dichtete, lautete: „Muss ich die Welt durchgehen, wenn du mit deinem Nahen mir stets nur tröstlich bist, so will ich dich bekennen und stets den Namen nennen, der mir der liebste Name ist.“
Das war es, was Zinzendorf überwältigte: dieser geradezu unwiderstehliche Drang, Jesus bei verschlafenen Christen zu verkündigen und dort bekannt zu machen, wo Jesus noch gar nicht bekannt war.
Die Sendung der Apostel und die Rolle von Jesus
Zinzendorf schrieb im Blick auf Christian David und andere Herrnhuter Geschwister, die, angesteckt von David, ebenfalls in die weite Welt gesandt wurden, um Apostel Jesu zu sein – Jesu Gesandte in der weiten Welt. Apostel zu sein, ist von Natur aus eine schrecklich harte Sache. Es braucht dazu Menschen, die von Jesus dafür bestimmt sind. Es erfordert Jesu Gnade und seine besondere Führung, seine Aperte. Wer sich nicht dafür eignet, wird kein rechter Apostel.
Es wird nichts, wenn man Boten Jesu erst ermuntern, anregen oder aufwecken muss. Wenn der Heiland jemanden als Boten schicken will, dann macht er ihm ganz deutlich, dass er ein Bote sein soll.
Kleine Leute ganz groß – staunend erkannte Zinzendorf: „Ich muss ja gar nichts tun, um Herrnhut zu einem geistlichen Zentrum zu machen. Jesus selbst hat eingegriffen. Er hat mir die Leute zugeführt, mit denen er in die weite Welt hineinwirken will.“ Er hatte mit der ganzen Sache nicht viel mehr zu tun, als jemand, der sich nicht dagegen stemmt, wenn eine Tür aufgeht. Na ja, manchmal musste er schon ein wenig mehr tun.
Ohne seine verwandtschaftlichen Beziehungen, etwa zum dänischen Königshaus, wäre es gar nicht möglich gewesen, die jungen Missionare aus Europa hinauszubringen – bis hinauf nach Grönland und Labrador oder hinüber in die Karibik.
1727 schrieb Graf Zinzendorf in sein Tagebuch: „Sie stehen jeden Augenblick bereit, unseren angenehmen Ort Herrnhut zu verlassen, um den Namen des Herrn herzlich und munter zu bekennen. Ja, sie sind auch bereit, wenn es erforderlich sein sollte, ihrem Herrn auch in Banden, ja, bis zum Tode zu dienen.“
Vielleicht kommt das manchem heute etwas pathetisch vor. Aber wer einmal die einsamen Küsten von Grönland und Labrador gesehen hat, kann sich kaum vorstellen, wie man dort jahrelang aushalten kann – dazu in der endlos langen Polarnacht. Wie man dort überleben kann.
Ein aus Württemberg stammender Missionar hat ohne jeden Heimaturlaub dort oben siebenundvierzig Jahre ausgehalten und missionarisch gewirkt. Nur einmal im Jahr kam das Postschiff, die Harmonie. Als schließlich der Missionar seine kleine Eskimo-Missionsstation Okak verlassen musste, war er total schneeblind geworden. Da brach ihm der Abschiedsschmerz fast das Herz. Immer wieder murmelte er: „Mein geliebtes Okak.“
Die Wirkung der Herrnhuter Mission und die Haltung Zinzendorfs
Dieses selbstlose Wirken der Herrnhuter Missionare beeindruckte sogar den deutschen Bildungsbürger. Theodor Fontane übernahm in einem seiner großen Romane die gesamte Geschichte von der Bekehrung des ersten Grönländers namens Kajernak.
Ursprünglich hatte der durchschnittlich gebildete Europäer überheblich gemeint, ein solches missionarisches Unterfangen sei geradezu hirnrissig. Doch bald wurde deutlich, dass auch die Inuits, die Eskimos, sich nach Erlösung sehnten.
Damals dichtete einer der Grönlandmissionare, typisch hernhutisch, im Versmaß:
Die Welt mag immer lachen bei unsern Sachen
und fragen, was wir Schwachen hier draußen tun.
Wir wollen unsern Nachen nicht lassen ruhen
und vor der List des Drachen das Haus bewachen
und Heiden selig machen.
Sie wollten nun...
Die ersten Abgesandten Zinzendorfs stürmten nicht einfach planlos irgendwo in die weite Welt hinaus. Am 10. Februar 1728 hatte Graf Zinzendorf in sein Herrenhaus eine Versammlung der Gemeinde einberufen. Die gesamte Elite Hernhuts war versammelt.
Zuerst hielt Zinzendorf eine Andacht. Man sang viel, wie das in Herrnhut üblich war, und man betete. Dann ging man zum Wesentlichen über. In den Protokollen heißt es, man ließ sich unterrichten über entfernte Länder – über die Türkei, das Moorenland, Grönland, Labrador und weitere.
Man sprach darüber, dass es doch unmöglich sei, dorthin zu gelangen. Der Vorsteher, also Zinzendorf, sagte jedoch: „Ich glaube fest daran, dass der Herr Jesus Gnade und Kraft geben kann, diese Länder zu besuchen.“
Das Protokoll erwähnt nicht, was mir wichtig zu sein scheint. Zinzendorf war seiner ganzen Natur nach ein Weltbürger. Schon während seiner Schulzeit im Pädagogium von Halle hatte er einen weiten Horizont für Gottes ganze Welt bekommen.
Doch er konzentrierte sein Interesse speziell auf Gebiete unserer Erde, in denen die Ärmsten der Armen lebten. Gerade Entrechtete und Dahinvegetierende sollten erfahren, dass Gottes Liebe auch ihnen gilt. Gottes Liebe nimmt keinen Stamm, keinen einzigen Menschen aus – auch nicht die irgendwo im Norden Sibiriens lebenden Samojeden, auch nicht die in der Karibik leidenden Negersklaven.
Erst recht nicht die Inuits, die Eskimos in Grönland und auf Labrador, die von Seefahrern wie Robben totgeprügelt wurden.
Dabei machte sich Zinzendorf keinerlei Illusionen über den, wie man damals meinte, edlen Charakter der unverbildeten Wilden. Er konnte sagen – gut, es klingt brutal, aber es war ernüchternd gemeint:
Angesichts der humanistischen Träumereien seiner Zeitgenossen sagte Zinzendorf: „Die Grönländer stehlen wie die Raben, die Indianer saufen wie die Bestien, sie sind Sünder wie wir alle auch.“
Von Gott, dem Schöpfer, müsse man ihnen nicht viel erzählen. Dass es ein höheres Wesen, einen Schöpfer gebe, das wüssten alle Menschen. Aber dass es für uns Sünder einen Erlöser gebe, den Heiland Jesus Christus, das sollten ihnen die Missionare sagen.
Also keine Spur von kolonialistischem Welteroberungsdenken, das der Mission heute oft unterstellt wird.
Wenn es nach der menschlichen Natur des Reichsgrafen gegangen wäre, hätte es ihn sicher auch gereizt, Mission mit Absatzmärkten und politischer Einflussnahme zu verbinden. Doch Zinzendorf ließ sich durch Jesus auf dem Boden halten.
Er dachte nicht in Kategorien von christlicher Welteroberung oder der Christianisierung der Kontinente. Er blieb davor bewahrt, überheblich vom christlichen Abendland zu denken, dass Menschen in anderen Teilen der Welt christliche Zivilisation einzutrichtern hätten.
Im Gegenteil, fast erschreckend konnte er sagen: „Vielleicht kommt die Stunde, da alle Länder, in denen jetzt Christen wohnen, wieder ganz zum Heidentum werden. Alsdann wird die Stunde Afrikas, Asiens und Amerikas kommen, da sie in die unzähligen Nationen hineinwirken werden.“
Wenn man daran denkt, erschrickt man; man kann es sich einfach nicht vorstellen. Vermutlich ist diese von Zinzendorf geahnte Stunde längst angebrochen.
Was verdanken wir Europäer heute an Impulsen den afrikanischen Christen und den indischen Predigern? Sie bringen uns das Evangelium unverfälscht, pulsierend vor Vitalität. Sie bringen es uns, den müde gewordenen Europäern.
Die Würde der Entrechteten und Zinsendorfs Gebet
Adel verpflichtet – noblesse oblige. Die Reichskraft hat auch darin ein Zeichen gesetzt. Im fieberverseuchten westindischen São Tomé hatten weiße Plantagenbesitzer und Sklavenhändler eine Christin, eine Mulattin, ins Verlies geworfen. Zinzendorf ließ sich zu ihr führen. Eine befehlende Handbewegung genügte, damit die Sklavenhalter das Verlies öffneten.
Zinzendorf ging gebückt in den stinkenden Verschlag. Dann grüßte der europäische Reichskraft die Entehrte so, wie man an Fürstenhöfen edle Damen mit einem Handkuss grüßte. Damit hatte die Entehrte ihre Würde wiederbekommen. Von Einkerkerung war danach keine Rede mehr.
Meinen Sie, Zinzendorf hätte auch nur einen Augenblick lang auf diese Weise dort im fernen Land den großen Max spielen wollen? Was trieb ihn? Das hat er in einem Gebet ausgesprochen, das uns erhalten ist:
„O du lebendiger Gott, die ganze Erde ist dein Acker. Du lässt Funken deines Lebens auf die Erde fallen, wohin du willst. Du hast unzählbare Staatsgebiete, die wir noch gar nicht kennen. Du sähst vielen guten Samen, der erst an deinem großen Ehrentag offenbar werden wird. Aber sähe doch auch hier Funken deines göttlichen Feuers! Lass die Schweißtropfen deines Sohnes, die er auf dieser Erde vergossen hat, auch diesen Fleck Erde heiligen, damit hier Früchte erwachsen zum ewigen Leben.“
B.
Die Abhängigkeit von Jesus und die Herausforderungen der Mission
Der eigentlich unabhängige, seinem natürlichen Wesen nach souveräne Reichsgraf machte sich bewusst total abhängig von Jesus. Besonders eindrücklich zeigte sich dies in den Jahren 1732 und 1733. In dieser Zeit waren die ersten Missionare in die Karibik entsandt worden, zu den Sklavencamps der Negersklaven.
Die Brüder Stach waren zusammen mit Christian David nach Grönland aufgebrochen. Monatelang kam keine Nachricht von den ausgesandten Missionaren. Vor sich hatten diese Missionare unbekanntes Gebiet, unabsehbare Gefährdungen, alle nur denkbaren Krankheiten und Widerstände.
Darum dichtete Zinzendorf für diese Missionare das Lied „Jesu, geh voran auf der Lebensbahn, und wir wollen nicht verweilen, dir getreulich nachzueilen, führ uns an der Hand.“ Es ist nicht ganz richtig verstanden, wenn dieser Choral bei Hochzeiten gesungen wird. „Führst du uns durch raue Wege, gib uns auch die nötige Pflege“ – das passt für Missionare und nicht für Ehepaare.
Jesus, der vorangeht, den sollten die Missionare bei sich wissen. Und hinter sich hatten die Missionare den ganzen Spott des sich so gelehrt gebenden Europas. Man versuchte wissenschaftlich zu belegen, dass es weder hilfreich noch schicklich sei, das Christentum solchen Wesen zu bringen, die den Tieren näher stünden als den Menschen.
Aber das sollte nicht das Einzige sein, was die Missionare im Rücken hatten. So richtete Zinzendorf in Herrnhut das Vierundzwanzig-Stunden-Gebet ein, das von immer wieder sich abwechselnden Betergruppen gestaltet wurde.
Als dann das königlich-dänische Missionskollegium in Kopenhagen die Frage aufwarf – in einer überaus hämischen Stellungnahme –, ob die Negersklaven überhaupt eine Seele hätten, wollte Zinzendorf im ersten Augenblick wie gelähmt sein.
Aber dann, so berichtet er selbst, habe er sich besonnen und sich in seiner ganzen Ohnmacht an seinen großen Herrn Jesus gewandt. „Den Brief habe ich genommen, ich habe ihn vor dem Heiland ausgebreitet, ich habe gebetet: Heiland, nun antworte du selbst auf dies.“
Zu Herbst kam die Antwort, nämlich die Nachricht von der Bekehrung und Taufe der ersten Sklaven.
Die Sichtungszeit im Leben Zinsendorfs und sein Vermächtnis
Sogar Menschen fürstlichen Geblüts können zu Gottes Segensträgern werden, wenn sie sich von Gott klein machen lassen. Das geschieht, wenn sie alles Große und Hilfreiche von Jesus erwarten.
Zinzendorf wurde klein gemacht, ganz zerschlagen. Das geschah in den Jahren zwischen 1743 und 1757, also etwa zehn bis fünfzehn Jahre vor seinem Tod. Rolf Scheffbruch spricht hier von der sogenannten Sichtungszeit im Leben des Grafen Zinzendorf. Was genau darunter zu verstehen ist, erklärt er folgendermaßen: Er nimmt das Wort Jesu auf, dass der Teufel sogar treue Nachfolger Jesu versucht, sie zu sichten – so wie Jesus sagte, den Weizen von der Spreu herauszusieben, um sie in seinen Besitz zu bekommen. Genau das hat der fromme Graf erlebt.
Er hat aber auch erfahren, was Jesus damals ergänzend gesagt hatte: „Ich habe für dich gebetet, dass dein Glaube nicht aufhöre.“ Diese Sichtungszeit begann mit einer fulminanten Hochstimmung, voll charismatischer Begeisterung. Im fürstlich blauen Blut Zinzendorfs war die Sehnsucht angelegt, auch Siege zu erleben, Aufbrüche, allgemeine Beachtung, Zustimmung und Begeisterung.
Das Gebet „Zieh mich hinein in die Gemeinschaft mit deinen Leiden“ war damals fast vergessen. An der Tagesordnung waren ekstatische Freudenausbrüche in den mit bunten Stoffbahnen geschmückten Schlosssälen, die mit Hunderten von Kerzen illuminiert waren. Alles, was das Gemüt und die Gefühle ansprechen konnte, hatte Zinzendorf aufgeboten: Musik, feierliche Lichterprozessionen, festliche Gewänder. Es war wie ein einziger großer Rausch!
Mit einem Mal erhörte Jesus das Düsseldorfer Gebet: „Auch wenn mein Sinn auf ganz anderes gerichtet ist, dann zieh mich, oh Jesus, mit Gewalt in die Gemeinschaft mit deinen Leiden hinein.“ Plötzlich erkannte Zinzendorf erschrocken, dass das totaler Nonsens war, eine Verirrung, ein Abweg und Ungehorsam.
Das Pochen des eigenen Blutes hatte ihn verführt – gerade das Pochen des blauen Blutes. Damals bekannte Zinzendorf, stellvertretend für die ganze durch ihn mitgerissene Gemeinde: „Wir haben den verlassen, das wiederhole ich, der Eigenblut gelassen, für mich, ach ja, für mich. Ich kann von mir nicht reden, mir gehen die Sinne zu. Decke, Jesus, du die Schäden mit deinem Blute zu.“
Am Ende seines Lebens war dies das Vermächtnis des großen Adligen, des großen Blaublütigen: „Mein ganzer Adel besteht darin, dass Jesus für mich am Kreuz gestorben ist, für mich Sünder, und dass er mich Unwürdigen als Helfer dabei haben will bei seinem großen königlichen Schaffen.“
Rolf Scheffbruch, Prälat im Ruhestand, über Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf, den Grafen und die kleinen Geschwister Jesu.