Der Predigttext an diesem Morgen stammt aus Johannes 1. Die Priester und Leviten wurden zu Johannes gesandt, um ihn zu fragen: Wer bist du?
Er bekannte und leugnete nicht: Ich bin nicht der Christus.
Sie fragten ihn weiter: Was dann? Bist du Elija? Er antwortete: Nein, das bin ich nicht. Bist du der Prophet? Wieder verneinte er.
Daraufhin sagten sie zu ihm: Wer bist du dann? Wir möchten eine Antwort geben denen, die uns gesandt haben. Was sagst du von dir selbst?
Er sprach: Ich bin die Stimme eines Predigers in der Wüste, der den Weg des Herrn ebnet, wie es der Prophet Jesaja gesagt hat.
Die Identitätsfrage und die Rolle des Johannes
Liebe Gemeinde, Jesus ist da – der lang angekündigte Retter der Welt ist da! Das wollte Johannes hinausrufen. Dabei ist es zweitrangig, wer Johannes selbst ist oder wie er sich einschätzt. Das ist gar nicht wichtig. Entscheidend ist, dass die Menschen es erfahren: Ich bin die Stimme, die sie hinausruft: „Wacht doch auf, Jesus ist heute da!“
Das darf man nicht verschweigen. Es ist der unüberbietbare Trost, den Jesusleute weiterzugeben haben.
Mir ist das vor 14 Tagen aufgegangen, und zwar bei einer Tagung von kirchlichen Mitarbeitern. Wir haben uns klug und diskutierend überlegt, ob es nicht psychologisch und seelsorgerlich angemessener ist, Schwerkranke nicht mit Bibelworten und geistlichem Trost zu überfallen. Es sei doch viel mehr im Sinne der Menschenfreundlichkeit und des Jesusglaubens, wenn man eine Hand nehme, ein Lächeln schenke oder durch eine Blume deutlich mache, wie viel Liebe wir für den Kranken haben.
Die Balance zwischen Trost und Glaubensbotschaft
Und da ist einer in unserer Mitte explodiert, dem stand die Zornesröte richtig ins Gesicht geschrieben. Er hat gefragt: „Woher wisst ihr das denn? Wurde euch das gesagt?“
Vor drei Jahren hat er uns erzählt, wurde er von einem Schlaganfall ereilt. Er war ein großer Manager in einem großen Industriebetrieb Württembergs, zuständig für tausend Mitarbeiter. Im nächsten Augenblick war er gelähmt durch den Schlaganfall. Sein Sprachzentrum war ausgefallen, und er konnte keinen Finger mehr rühren.
Da seien viele Besucher gekommen, liebe Leute, mit Blumen. Sie seien geblieben, aber man hat richtig gemerkt, sie wussten gar nicht mehr, wie sie die Kurve zum Aufstehen kriegen sollten. Er hat gedacht: „Merkt ihr denn nicht, dass ich so schwach bin, dass ich es gar nicht mehr aushalte, eure Anwesenheit?“
Dann seien sie aufgestanden und hätten schließlich gesagt: „So, wie du gebaut bist, wirst du es auch wieder schaffen. Ich meine, du wirst wieder packen. Ich glaube, es wird schon wieder recht werden.“ Ebenfalls haben sie noch gesagt: „Ich denke an dich.“
Dann hat er uns gesagt, es wäre doch ganz egal gewesen, was sie sagen, ich, ich, ich, was sie von mir halten. Warum hat nicht einer gesagt: „Jesus ist da, ganz gewiss.“ Das hätte mir geholfen. Darauf habe ich gewartet. Ich konnte ja selber kaum mehr glauben, dass einer, der das weiß, mir zuspricht: „Christ, der Retter ist da.“
Die Bedeutung der Verkündigung des Glaubens
Plötzlich hat uns dieser eine Mitarbeiter klargemacht, was für ein törichtes, läppisches Entweder-oder das ist: Entweder ein Bibelwort oder ein Blumenstreusel, entweder ein Gotteswort oder ein bisschen Handstreicheln. Das gehört doch zusammen!
Was helfen alle Blumen, was helfen alle Blumen und alle Sandstreicheln, wenn ich nicht sagen kann, dass der lebendige Gott auch in diesem Zimmer ist? Jesus ist in diese Welt gekommen – mit ihrer großen Jammerlast, die kein Mund aussagen kann. Er ist da, der dich kennt und versteht.
Diese Stimme wollte Johannes erheben, damit das in unserer Welt bekannt gemacht wird: Der Helfer ist da, schaut auf uns, auf ihn, nicht auf uns.
Ich möchte anfangen, das mit Ihnen zu begreifen. Ich möchte anfangen, ein ganz falsches Wort im Deutschen ernst zu nehmen. Ich möchte es froh nehmen, dass Jesus da ist – nicht erst heute Abend, nicht bloß in besonderen Stunden, sondern dort, wo wir ganz leer sind, wo kein Glaubensfunke mehr in uns ist.
Er erhöht die Erniedrigten, haben wir vorher miteinander gebetet, die am Ende sind.
Johannes als Stimme in der Wüste
Johannes wollte die Stimme Gottes sein. Er sagte: „Ich bin die Stimme, die auch in der Wüste ausruft: Der Herr ist nahe.“
In unserem Gesangbuch haben wir den Kanon „Gottes Stimme“. Lasst uns selbst diese Stimme sein und in die Welt hinausrufen: Jesus lebt.
So leicht gesagt – aber wo wird das praktisch? Wo wird es wirklich erfahrbar, dass wir Gottes Stimme werden?
Es ist gut, daran zu denken, wie berichtet wird, dass es eine kleine Diskussion gab. Es war kein großer Vortrag oder eine Predigt von Johannes, sondern eher ein Smalltalk. Einige Leute aus Jerusalem kamen zu ihm und fragten: „Was ist eigentlich mit dir los?“
Das war ähnlich wie wenn jemand sagt: „Jetzt sind Sie nach Korntal gezogen. Wir wussten ja, Sie hatten vorher schon mit den Evangelikalen zu tun. Ins heilige Korntal – darf man da überhaupt fröhlich sein? Darf man dort lächeln? Wie fühlen Sie sich denn da?“
So ähnlich war es bei den Behörden. Sie sagten zu Johannes: „Du bist offenbar ein ganz Merkwürdiger. Was ist denn eigentlich mit dir los? Erklär uns das mal ein bisschen besser!“
Die Zurückhaltung Johannes’ bei der Selbstbeschreibung
Jetzt war die Gelegenheit für Johannes, alles offen darzulegen. Doch das Merkwürdige an diesem Bericht ist, dass er dabei gehemmt wirkte. Es fiel ihm schwer, die Frage zu beantworten: „Was hältst du selbst von dir? Wer bist du denn? Sag es uns!“
Sonst war Johannes nicht auf den Mund gefallen, wenn es darum ging, Jesus zu preisen und die ganze Faszination, die Jesus ausstrahlt, weiterzugeben. Ihm fielen zahlreiche prophetische Bilder ein. Wie ein großer Künstler konnte er auf der Klaviatur der biblischen und prophetischen Begriffe spielen. Jesus ist der Bräutigam Gottes, die Stimme Gottes, der, den Gott zu uns gesandt hat. „Er muss wachsen, ich muss abnehmen.“ Er ist der, den Gott uns zugedacht hat – eine Fülle von Begriffen. Johannes hatte viel Fantasie beim Reden.
Jetzt jedoch konnte er sagen: „Nein, ich bin nicht Elija, der vom Himmel zurückkommt. Nein, ich bin auch nicht der Prophet, den Mose schon angekündigt hat, einen Propheten, der das Herz erweckt. Das bin ich nicht. Ich bin auch nicht der Christus, der Messias.“ Aber wer bist du dann? Sag es doch mal!
Und nun sagt Johannes nicht: „Ich komme aus einem Pfarrhaus, ich bin Priestersohn, selbst bin ich Pfarrer geworden.“ Stattdessen erklärt er: „Ich habe so gelebt wie die enthaltsamen Leute früher. Ich lebe von dem, was die Wüste bietet, und Alkohol trinke ich auch nicht. Aber mir ist es eben wichtig, dass die Menschen zu Gott finden.“
Die Bedeutung des biblischen Wortes für Johannes
Er hätte es sagen können, doch er sagt es nicht direkt. Stattdessen zitiert er ein Bibelwort aus Jesaja 40: „Ich bin die Stimme eines Predigers in der Wüste, der den Weg des Herrn bereiten möchte.“
Er verwendet ein Bibelwort, so wie es auch der Vater Zacharias über ihn gesagt hat: „Du, Kindlein, wirst ein Prophet des Höchsten sein. Du wirst vor dem Herrn vorangehen, ein Vorläufer sein.“
Warum sagt Johannes es nicht mit eigenen Worten? Da sagen uns doch alle Experten christlicher Gesprächsführung: Wenn wir mit Suchenden und Fragenden zusammen sind, dann bloß keine Bibelworte!
Ich verstehe, warum das so ist. Man soll nicht sofort mit Bibelworten jonglieren und sie um sich werfen. Stattdessen soll man es mit eigenen Worten sagen. Alles andere sei Sprache Kanaans. Man soll es in der eigenen Begrifflichkeit ausdrücken.
Und nun hat er ein Bibelwort zitiert. Da müssten alle Experten von neu anfangen und jeder Christ sollte graue Haare bekommen – sofern er noch welche hat, nicht wahr?
Ja, denn das Entscheidende meines Lebens – und Ihres Lebens auch – ist durch ein Gotteswort geschehen. Das Geheimnis eines Lebens mit Jesus kann eigentlich nur durch ein Gotteswort ausgesagt werden.
Die Kraft des Gotteswortes im Leben
Wen Gott berufen hat, dem er den Ruf erteilt, meist durch ein Wort, das wie ein Ruf in der Luft hängt. Bei vielen ist es der Konfirmationsspruch. Bei mir war es auch so.
Ich habe mich zwar im März 1945 geärgert, weil ich so ein christliches Wort bekommen habe: „Uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben.“ Doch ich bin in dieses Wort hineingewachsen. Mir ist der Sohn Gottes gegeben.
Ich bin nicht weise wie Salomo, nicht vital wie Luther, nicht barmherzig wie Bodelschwing, und auch nicht martyriumsbereit wie Bonhoeffer. Dennoch bin ich ein rechter Christ, weil mir der Sohn Gottes in meine Armut hinein gegeben ist.
Nehmen Sie dieses weihnachtliche, dieses Christkindes-Wort für sich in Ihre Trauer hinein: „Uns ist der Sohn gegeben.“ Uns ist nicht nur etwas weggenommen worden.
Das ist das Geheimnis eines Christenlebens: Nicht, dass ich christlich bin, sondern dass Christus, der Sohn Gottes, mir gegeben ist. Er ist lebendig, er ist da und will mich führen, bis ich einmal vor dem Vater stehen werde. Er will für mich eintreten.
Gotteswort als Antwort im Glaubensgespräch
Wir sollten uns darin üben, auch in solchen Gesprächssituationen angemessen zu antworten, wenn wir gefragt werden: „Wie ist das denn bei Ihnen? Warum gehen Sie in den Gottesdienst?“ Oder: „Wie ist das da als Christ? Wie muss man sich da benehmen?“
Dann können wir mit einem Bibelwort antworten und sagen: „Ach, wissen Sie, eigentlich ist mein Leben oft zerbrochen, und ich bin froh, dass mich das Wort getroffen hat.“
In der vergangenen Woche hat uns das bei einer Beerdigung besonders berührt. Jesus spricht: „Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“ Zu denen möchte ich gehören, die erquickt werden.
Sie werden merken, dass ein solches Gotteswort, ein Bibelwort, viel elementarer ist als alles, was wir erfinderisch sagen könnten, um unseren Glauben zu erklären.
Oder Sie sagen: „Ich habe in meinem Leben viel vorgehabt. Ich bin vital und mit vielen Ideen ins Leben gegangen. Doch jetzt ist vieles davon zerbrochen. Viele der Scherben kann ich gar nicht mehr kitten. Aber ich weiß, dass das nicht nur an Weihnachten gilt, sondern jeden Tag: Fürchte dich nicht, für dich ist der Heiland geboren, der Zurechtbringer, der auch Scherben heilen kann.“
Johannes als Vorbild für die Verkündigung
Gottes Stimme lasst uns sein. Johannes wollte eine Stimme Gottes sein, mitten in den Wüstenreihen. Er hat uns vorgelebt, wie man selbst im Gespräch mit ehemaligen Klassenkameraden, mit Nachbarn und mit Arbeitskollegen durch ein Gotteswort, das unser Leben prägt und bestimmt, Gottes Stimme sein kann.
Wenn Menschen fragen: „Was bist du für ein komischer Geselle? Erzähl mal!“, können wir das Gespräch entscheidend wenden. Der Schlüssel liegt darin, nicht auf uns zu schauen, sondern auf ihn.
Das ist das Geheimnis meines Lebens: Schaut nicht auf uns, schaut auf ihn.
Die Dringlichkeit der Botschaft Jesu heute
Es wäre schade, wenn die Botschaft von Jesus, dem Retter, nur auf unsere Gottesdiensträume beschränkt bliebe.
Wenn Sie die Stuttgarter Zeitung gelesen haben, ist Ihnen vielleicht der Leitartikel von gestern aufgefallen. Dort wurde sehr klug gesagt, dass es töricht sei, heute noch von „Heiligabendchristen“ zu sprechen. In zwanzig Jahren wird es solche Heiligabendchristen nicht mehr geben.
Der Traditionsabbruch wird so radikal sein, dass die Generation, die jetzt heranwächst, am Heiligen Abend nicht mehr in die Kirche kommen wird. Dadurch geht unserer Welt etwas verloren: das eigentliche Verständnis dessen, was es bedeutet, dass Jesus da ist – dass der Retter da ist.
Jetzt sollen wir diese Gewissheit in den vielen Möglichkeiten auftanken. Die große Gewissheit ist: Jesus ist nicht nur einmal in unsere Welt gekommen, er ist da.