Liebe Festgemeinde,
normalerweise nimmt der Mensch, vielleicht sogar wir, es sehr genau, wenn es um Kleinigkeiten geht. Wenn wir zum Beispiel zehn Mark ausgeliehen haben, fragen wir uns, ob wir das Geld auch wieder zurückbekommen. Wenn wir ein Buch verliehen haben, überlegen wir, ob es auch wieder zurückgegeben wird.
Manchmal stellen wir uns sogar die Frage, ob wir der Friseurin eigentlich zu wenig Trinkgeld gegeben haben oder – noch schlimmer – zu viel. In solchen Kleinigkeiten sind wir also sehr genau.
Oberflächlichkeit bei den großen Lebensfragen
Bei den großen Fragen ist der Mensch normalerweise sehr oberflächlich. Bei der Frage: Was ist eigentlich bisher aus meinem ganzen Leben geworden? – Hm, weiß auch nicht.
Oder bei der Frage: Wie ist das eigentlich mit dem Tod, auf den wir todsicher zusteuern? Wird das ein Absturz ins Bodenlose sein? Oder wird es wie ein Schlaf sein? Oder stimmt es, was in den Zeitungsanzeigen oft steht: „Wenn die Kraft zu Ende geht, ist der Tod Erlösung“? Vor allem – mal sehen.
In den entscheidenden Fragen sind wir also sehr oberflächlich. Dazu gehört auch die Frage nach Gott. Ach, wer kann schon wissen, wer Gott ist und was er will?
Schon zu Zeiten des Apostels Paulus wurde gesagt, dass nur die Mittelmeerwelt solche Fragen wirklich versteht. Zwar hat jeder Mensch ein bisschen religiöse Bedürfnisse – sei es bei der Konfirmation oder in der Jugend – weil irgendetwas muss ja sein. Bei der Beerdigung soll mindestens ein Redner mit ein paar schönen Sprüchen da sein. Ein bisschen Religiosität brauchen wir.
Aber dazu kann man auch einen Mix aus den verschiedensten Religionen machen, weil keiner genau weiß, was Gott ist. So wird fundamentalistisch als Dogma behauptet: Keiner weiß Exaktes über Gott.
Das Ringen um Erkenntnis Gottes
Es gibt jedoch immer nur wenige Menschen, die zu allen Zeiten nicht mit einem bestimmten Dogma zufrieden sind. Diese Menschen strecken sich aus und sagen: „Lieber Gott, lass dich finden, lass mich dich erkennen.“
Zur Zeit des Apostels Paulus waren das die Gnostiker. Quer durch das Mittelalter waren es die Mystiker. Heute bei uns sind es etwa so edle Menschen wie die Anthroposophen. Sie tasten sich vor in die Sphärenharmonien. Sie denken sich hinein in die Farbenwelt der Regenbogenfarben. Sie denken sich hinein in ganze Hierarchien von Engeln.
Alle Achtung, dass sie sich nicht zufrieden geben mit der Aussage, man wisse nichts über Gott. Sie sind der Meinung, man müsse doch noch etwas über Gott erfahren können. Sie tasten sich nach Gott vor.
In dieses Suchen der Menschen hinein hat damals der Apostel Paulus in Athen gesagt: „Nun hat Gott die Zeit der Unwissenheit übersehen, aber jetzt kann man von Gott etwas wissen.“
„Gott trägt es euch nicht nach, er schreibt es nicht auf, dass ihr es nicht gewusst habt. Aber jetzt kann man wissen, was Gott will.“
Sogar das andere große Pauluswort lautet: „Gott will, dass allen Menschen geholfen werde und alle zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.“
Gottes Wille zur Erkenntnis und Heilung
Es ist nicht unser menschliches Sehnen, nur ein Stück der Gottheit zu erfassen, sondern Gott selbst will das. Gott ist darauf aus, dass wir begreifen, was er ist, was er will und was er tun kann. Er möchte, dass unsere schreckliche Blindheit gegenüber Gott geheilt wird.
Davon spricht der Apostel Paulus im heutigen Predigttext, 1. Korinther 2. Er schreibt: „Wir haben den Geist aus Gott empfangen“ (1. Korinther 2,12), damit wir wissen können, was uns von Gott geschenkt ist. Merken Sie: Gott hat alles darauf angelegt. Er hat sogar seinen Heiligen Geist gegeben.
Normalerweise können wir von Gott nichts wissen. Doch er hat uns seinen Heiligen Geist gegeben, damit wir erkennen können, was wir an Gott haben und was uns von ihm geschenkt ist.
In allen Religionen geht es vor allem ums rechte Tun: dass wir Gott die richtigen Opfer bringen, die richtigen Zeiten und Bräuche einhalten, ihm in Ehrfurcht nahen, uns selbst beherrschen und dem Nächsten Gutes tun. Alles ist auf das Tun bezogen – sogar die Religiosität, bei der wir Gott etwas bringen, unsere Opfer oder guten Gedanken.
Jetzt sagt Paulus: „Ihr sollt doch wissen, was uns von Gott geschenkt ist, nicht nur, was wir für ihn tun sollen.“ Das war der Protest der Propheten quer durch Israels Geschichte: „Kehrt doch um zu Gott! Der will euch Gutes tun. Habe ich euch je geboten, Opfer oder Schlachtopfer zu bringen?“
Sondern: „So spricht der Herr: Ich will euer Gott sein, ich will an euch Gerechtigkeit üben, ich will heben, tragen und erretten.“ Verständlich gesagt: Gott strampelt nicht wie ein kleines Kind, das sich nicht helfen lassen will.
Gottes Geschenk in Jesus Christus
Ich will etwas an euch tun. Doch das ganze Mahnen der Propheten schien vergeblich zu sein. Daraufhin hat Gott in seiner großen Güte Jesus gesandt, damit wir erkennen, was uns von Gott geschenkt ist.
Jesus hat es so verständlich in Gleichnissen dargestellt, dass es kaum anschaulicher sein könnte: Gott ist wie ein sorgender Vater, der es kaum erwarten kann, bis seine Töchter und Söhne, die von ihm weggelaufen sind, zu ihm zurückkehren. Er hat für sie den Tisch gedeckt und will sie aufnehmen. Er hat das beste Gewand für sie bereitgelegt und den Ring an den Finger gesteckt. Denn sie begreifen oft nicht, was Gott ihnen geben kann – nicht nur Brot wie ein Tagelöhner, sondern er will sie reich machen.
Gott ist wie ein König, der für seinen Sohn eine Hochzeit ausrichtet. Doch danach spielt der Sohn kaum noch eine Rolle. Stattdessen sollen auch die Letzten, die an den Hecken und Zäunen stehen, an die reich gedeckten Tische kommen. So ist Gott.
Jesus hat anschaulich gezeigt, dass Gott wie ein großer Herr ist, der seinem Verwalter, der alles veruntreut hat, in großer, ergreifender Barmherzigkeit alle Schuld erlässt und ihn in Freiheit setzt. Begreift doch, was ihr an Gott habt!
Doch es ist, als wären damals auch dem Volk Israel, den Zeitgenossen Jesu, Herz und Ohren verschlossen gewesen für das, was uns Gott geschenkt hat und was wir an Gott haben. Deshalb sagte Jesus: „Ich will den Vater bitten, dass er euch den Geist der Wahrheit gibt, der bei euch bleibt.“
Jetzt sagt Paulus: „Jetzt haben wir den Geist aus Gott empfangen, damit wir wissen können, was uns von Gott gegeben ist.“
Das Geschenk des Heiligen Geistes als Lebensabenteuer
Ich empfinde das als ein besonderes Vorrecht im Alter. Es geht nicht nur darum, dass man mit den Jahren an Lebenserfahrung gewinnt, sondern dass Gott einem Wahrheiten erschließt, die man in sechs Jahrzehnten noch nicht verstanden hatte.
Gottes Geist – wir leben mit Jesus und dem Heiligen Geist – ist ein Abenteuer. Es ist noch faszinierender, als wenn Menschen auf Abenteuerreise in entfernte Gegenden gehen, um sie zu erforschen. Der Heilige Geist will uns immer wieder Neues offenbaren.
In den letzten Wochen ist mir das besonders bewusst geworden, als ich über das Jahr 31 nachdachte. Sie sollte eine Bibelarbeit über den Neuen Bund halten, der in Jeremia 31 erwähnt wird: „Ich will den Neuen Bund mit Ihnen schließen.“ Bis dahin hatte ich immer verstanden, dass Gott seine Leute dazu bringen will, liebevoller, geduldiger und barmherziger zu werden, sich mehr in Selbstbeherrschung zu üben und sich mit mehr Ehrfurcht zu nähern.
Plötzlich wurde mir klar: Der Neue Bund, den Jesus in Kraft gesetzt hat – den wir später beim Abendmahl hören werden – ist der neue Bund in seinem Blut. Das Blut des Bundes wurde für uns vergossen. Jesus hat diesen Bund in Kraft gesetzt, damit sie ihn erkennen, sowohl die Kleinen als auch die Großen.
Man braucht keine Pfarrer oder Lehrer mehr, die sagen: „Jetzt begreift doch endlich, wer Gott ist.“ Stattdessen sollen sie ihn alle selbst erkennen.
Einladung zur persönlichen Gotteserkenntnis
Ich möchte Sie dazu einladen, sich nicht nur von einer Bibelstunde zur nächsten, vom Bibelkolleg zur nächsten Predigt zu hangeln, sondern über Ihr privates Bibellesen, über Ihre stillen Stunden zu bitten: Herr, fühle mich neu, gib mir Durchblicke, lass mich Zusammenhänge entdecken.
Uns ist der Geist aus Gott gegeben, damit wir wissen können, was uns in Gott geschenkt ist. Sie sollen Gott erkennen, sowohl die Kleinen als auch die Großen.
Johann Albrecht Bengel, der Klosterpräzeptor von Denkendorf, hat sich oft übersehen und zurückgesetzt gefühlt in seinem dunklen Winkel Denkendorf. Dort hat er den „Gnomon“ geschrieben, diesen Fingerzeig in Gottes Wort.
Er erhielt dabei solche Durchblicke, dass er in seinem Tagebuch notierte, er habe den Eindruck, in seinem kleinen Denkendorf in den Mittelpunkt der Gottesgeschichte gesetzt zu sein. Er empfand, Gott habe nun nur noch Interesse an ihm und an dem, was er ihm zugeteilt habe.
Aus dieser Erfahrung heraus dichtete er das schöne Lied: „Gott lebt, sein Name gibt Leben und Stärke.“ Dort heißt es, dass Gott das Höchste und Beste so gern gibt. Nicht das Empfangen steht im Vordergrund, sondern das Geben. Er öffnet das Herz nur, damit man es fühlen kann.
„Erkennets, verstehets und lobe den Herrn“ bedeutet eigentlich: „Versteh es richtig, erkenne und lobe den Herrn.“ Das ist das Größte, wenn wir Gott erkennen.
Im Lebensdenken heißt es irgendwo, das höchste Wesen zu erkennen – so wie Jesus uns das Erkennen Gottes in seinen Gleichnissen gelehrt hat.
Bengel fährt fort: „Seid ihr noch entfernt, so seht und lernt, was manche an seinen durchdringenden Gaben ja selber an ihm, dem Lebendigen, haben. Erkennt, was wir an Gott haben.“
Das Ziel ewigen Lebens: Gottes Erkenntnis
Versehen wir, warum der Apostel Johannes uns die Worte Jesu im Hohen Priesterlichen Gebet berichtet. Das ist das ewige Leben: dass sie dich erkennen, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesus Christus.
Ich glaube, wir sind alle erst Anfänger in der Schule des Erkennens, was wir an Gott haben. Wir laufen viel zu schnell davon, anstatt uns damit auseinanderzusetzen. Der Geist Gottes will uns erkennen lassen.
Das heißt nicht, dass der Heilige Geist uns nur mit bibeltreuen Theologen, trefflichen Auslegern der Schrift, Kommentaren und Bibellexika beschenkt hat. Nein, der Apostel meint die Korinther, die einfachen Hafenarbeiter und Matrosen unten am Hafen von Korinth. Sie sollen erkennen können.
Wenn in Hülben die großen Konferenzen sind, dann ist meist der Brütertisch so reich gedeckt, dass man extra Stühle holen muss. Konrad Eisler sagt, dass aber keiner länger als zweieinhalb Minuten sprechen soll, damit man auch nach zwei Stunden wieder herauskommt.
Im Normalfall sagen zwölf von den vierzehn Theologen, Pfarrern oder Predigern eigentlich das, was wir schon hundertmal gehört haben. Dann aber sagt der Schumachermeister aus Gehausen oder der Fabrikarbeiter aus Metzingen, nebenbei Mondscheinlandwirt, in zweieinhalb Minuten etwas, wo man als Theologe nur sagen kann: „Die haben es begriffen, die haben es, was mir noch nie aufgegangen ist, sie haben den Durchblick.“
Sehen Sie, es geht nicht nur Theologen an, sondern wir alle sollen erkennen, was uns in Gott gegeben ist. Deshalb möchte ich Sie einladen: Versucht es, erkennt und lobt den Herrn. Auch Theologen können es erkennen.
Beispiele für Gottes Nähe und Erkenntnis
Im Frühjahr ist Professor Peter Stuhlmacher, Professor für Neues Testament in Tübingen, in den Ruhestand getreten. Er hat in dieser Zeit Jesus näher kennengelernt. Nein, Gott ist mir in Jesus nähergekommen, je mehr ich die Bibel gelesen habe. Halleluja, kann man so sagen – ein Theologieprofessor.
Wir haben den Geist aus Gott empfangen, damit wir wissen können, was wichtig ist. So bekommen wir plötzlich Durchblick, sowohl Theologieprofessoren als auch Laien, auch für das, was vor Gott nicht bestehen kann.
Vor wenigen Tagen haben wir des dreihundertsten Geburtstages von Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf gedacht. Ihm ging es immer darum, dass Gottesdienste lebendiger, spontaner, persönlicher und engagierter werden. Er brachte viel Musik in den Gottesdienst, Bewegung und sogar Tanzgruppen.
Er hat die Seele bewegt. In Conntal haben wir unserem großen Saal dem zinzendorfschen Seelenraum nachempfunden. Zinzendorf wollte die fürstlichen Säle der Schlösser als Vorbild nehmen für den Versammlungsraum der Gemeinde Jesu, wenn sie den König Jesus empfängt. Dazu gehörte auch Kerzenbeleuchtung.
Viele Christen sagten damals, das wäre doch nicht nötig gewesen. Das sei ein bisschen zu viel, ein bisschen unlichternd. Doch wie es bei einem rechten Menschen ist, war es auch bei Zinzendorf: Je mehr Kritik er bekam, desto besser. Er sagte, das mache ich erst recht – noch mehr Fahnen aufhängen, noch mehr Farben, noch mehr Lichter, noch mehr Prozessionen.
Dann ist ihm mit einem Schlag aufgegangen: Das ist doch alles Nonsens. Er schreibt es auf Französisch: Nonsens. Die Hauptsache ist der Erlösungstod Jesu am Kreuz.
Er konnte es nicht genau sagen, wie das war. War es über ein Bibelwort aufgegangen? Nein. Aber wir können wissen, was uns von Gott geschenkt ist, was wichtig ist und was zweitrangig ist.
Offenheit für Gottes Wirken und Geist
Genug der Beispiele. Wir sollen offen sein für Gottes Durchblicke, für neue Entdeckungen und für Gottes Nähe. Es soll eine ganz neue Unmittelbarkeit hineinkommen – eine Gottesunmittelbarkeit. Dazu ist uns Gottes Geist geschenkt.
Nach unserer Dogmatik würde ich jetzt am liebsten sagen: Wenn wir Jesus richtig anrufen, wenn wir unsere Sünden bekennen und wenn wir den Heiligen Geist richtig bitten, dann wird er auch zu uns kommen. Aber der Apostel Paulus sagt: Wir haben empfangen. Er sagt das den Korinthern, bei denen er noch viel auszusetzen hat und bei denen grobe Sünden vorgekommen sind. Wir haben empfangen den Geist ausgost.
So ähnlich, wie meine Frau sagt: „Du, wohin hat der Paketdienst ein großes Paket für dich abgegeben? Mach es auch mal auf.“ Schon da muss etwas ausgepackt werden. Wir sollten vielmehr damit rechnen, dass Gott uns die Fülle seines guten Geistes zugedacht hat.
Und ich sage: Herr, füll mich neu mit deinem Geist, lass mich doch erkennen, was wir an dir haben. Ich garantiere Ihnen, wir werden aus dem Staunen nicht mehr herauskommen. Wir werden bereichert sein bis an den letzten Tag, an dem Gott uns das Erkennen zuteilt, was wir an ihm haben. Denn das ist das ewige Leben: dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen.
Das denken sie in unserer Freizeitgruppe. Wenn Sie jetzt in Israel sind, den See Genezareth sehen, die Vorölberge aus Jerusalem sehen, und manche aus unserer Gemeinde jetzt am Bodensee sind, am frühen Morgen plötzlich das Säntismassiv schneebedeckt sehen, aus dem Staunenlicht herauskommt – all das ist harmlos verglichen mit dem, dass wir Gott erkennen können.
Und jetzt wollen wir gespannt sein darauf, was er uns erschließt. Amen.