Wer bin ich? Von Chris Morphew – eine Lesung von Raoul Simeonescu.
Theologie, die dich im Glauben wachsen lässt, Nachfolge praktisch: Dein geistlicher Impuls für den Tag.
Mein Name ist Jürgen Fischer, und ich darf euch exklusiv die Lesung eines ganz neu erschienenen Buches präsentieren: Chris Morphew – Wer bin ich und warum bin ich wertvoll?
Das Bild vom unabhängigen Ich hinterfragen
Kapitel vier
Warum kann ich nicht einfach auf meine Freunde hören?
Wenn du ein bisschen so bist wie ich, betrachtest du dich gerne als einzigartiges, unabhängiges Persönchen. Du hast deine eigenen Gedanken, Ideen und Interessen. Du bildest dir deine eigene Meinung und triffst deine eigenen Entscheidungen. Du bist dein eigenes, freies, unabhängiges, einzigartiges Ich.
All das ist wahr – nun ja, mehr oder weniger. Die Sache ist die: Sobald du versuchst, dieses einzigartige, unabhängige, individuelle Ich zu beschreiben, wirst du feststellen, dass das unmöglich ist, ohne andere Menschen ins Spiel zu bringen.
Ich nehme mich selbst mal als Beispiel: Wer bin ich nun? Zunächst einmal bin ich ein Sohn meiner Eltern. Ich bin ein Bruder meiner Schwester. Ich bin ein Onkel meiner Nichte. Ich bin ein Freund meiner Freunde.
Das sind einige der tiefgreifendsten und wichtigsten Wahrheiten im Hinblick auf meine Persönlichkeit – und sie alle schließen andere Menschen mit ein.
Die Rolle anderer Menschen in unserer Identität
Okay, klar, aber das ist ja noch nicht die ganze Geschichte, oder? Ich bin schließlich auch mein eigenes, individuelles Ich mit meinem eigenen Leben, meinem Beruf und meinen Errungenschaften.
Ich bin Lehrer für andere Menschen, ich schreibe Bücher, damit andere sie lesen können, und ich lebe in meiner eigenen Wohnung, die jemand anders gebaut hat. Aber gut, vielleicht sind wir einfach noch nicht tief genug gegangen, denn das sind ja nur die Dinge, die ich tue, oder? Das ist nicht, wer ich bin.
Was ist mit dem, wie ich mich ausdrücke, zum Beispiel durch meine Kleidung? Sie ist doch zumindest ein Ausdruck meiner einzigartigen persönlichen Identität, oder? Schließlich ziehe ich mich so an, wie ich will.
Nun ja, außer auf der Arbeit, denn dort muss ich ein Hemd mit Krawatte tragen, um mich an den Dresscode meiner Schule zu halten. Aber am Wochenende ziehe ich mich an, wie ich will – mit Klamotten, die andere Menschen hergestellt haben, geprägt von Modetrends, die andere populär gemacht haben, damit ich mich anderen Menschen gegenüber zeigen kann.
Die Prägung unserer Werte und Überzeugungen
Okay, in Ordnung, aber das ist ja alles nur äußerlich. Was ist mit meinen tief verwurzelten Meinungen, Werten und Überzeugungen? Wenigstens die sind doch sicher meine eigenen, oder?
Natürlich! Abgesehen davon, dass sie stark von meinen Freunden, den Büchern, die ich gelesen habe, den Menschen, denen ich in den sozialen Medien folge, und der Kultur um mich herum beeinflusst sind.
Die Wahrheit ist, sogar die tiefsten, geheimsten Teile meines eigenen Herzens und Denkens wurden von den Menschen um mich herum geprägt. Selbst wenn ich mir ein Flugzeug schnappen und auf eine einsame Insel fliegen würde, um nie wieder mit einem Menschen zu sprechen, könnte ich dem trotzdem nicht entkommen. Es ist einfach schon zu spät. Die Stimmen dieser anderen Menschen sind längst in meinem Kopf.
Dasselbe gilt auch für dich. Es ist nicht so, dass wir kein einzigartiges, individuelles Ich sind – das sind wir auf jeden Fall. Doch ob wir es zugeben mögen oder nicht: Diese individuellen Ichs sind zutiefst beeinflusst und geprägt durch die anderen individuellen Ichs, die uns überall umgeben.
Die Macht der Meinung anderer in der Jugend
Mir wurde das in meinen letzten eigenen Schuljahren glasklar. Dort war ich plötzlich von lauter Menschen umgeben, die mir nur allzu gerne sagen wollten, wer ich ihrer Meinung nach sei: der Dicke, der Außenseiter, der unsportliche Typ, der Typ, der irgendwie nicht dazugehört.
Manche Leute sagen, es sei egal, was andere von dir denken; was zählt, ist, was du von dir selbst hältst. Das ist eine nette Idee. Das Problem ist nur, dass sie totaler Schrott ist.
Du glaubst mir nicht? Probiere es mal aus: Versuche, ein positives Selbstbild zu behalten, wenn alle anderen dir sagen, du seist eine völlige Niete.
Die Wahrheit lautet – so sehr wir es auch leugnen wollen – wir wurden für Beziehungen zu anderen Menschen geschaffen. Es ist uns nicht egal, was sie denken.
Der schwierige Umgang mit Kritik und Meinungen
Was ist dann die Lösung? Manche würden sagen: Ignoriere die Hater und konzentriere dich auf die Menschen, die dich unterstützen. Doch das echte Leben ist oft viel komplizierter.
Was ist zum Beispiel mit den Momenten, in denen die Kritik, die andere an dir äußern, tatsächlich wahr ist? Solltest du wirklich nur auf Leute hören, wenn sie dir sagen, was du hören möchtest? Und wie verhält es sich mit der Kritik, die sich in deinem eigenen Kopf zwar wahr anfühlt, aber eigentlich völlig daneben liegt? Wie kannst du unterscheiden, was wahr ist und was nicht?
Was ist, wenn die verletzenden Kommentare nicht von negativen Menschen draußen kommen, sondern von denen, die wir am meisten lieben? Der Rat eines Freundes, der es gut meint, dich aber ins Grübeln bringt: „Moment, so wirke ich also auf andere?“ Oder diese Nebenbemerkung, die jemand vor zwei Jahren zu deinem Aussehen gemacht hat und die dich nachts immer noch wachhält.
Auch die kleinen Andeutungen eines Lehrers oder Familienmitglieds, dass du trotz all deiner Bemühungen nicht ganz den Erwartungen entsprichst, können tief sitzen.
Die Abhängigkeit von der Meinung anderer und ihre Folgen
Wie werden wir mit all dem fertig? Einerseits können wir gar nicht ohne die Meinungen anderer Menschen leben. Suchst du nämlich in dir selbst nach der Grundlage für deinen Wert und deine Bedeutung, landest du nur in einer Endlosschleife aus Verwirrung und Selbstzweifeln.
Machen wir uns andererseits von den Meinungen anderer Menschen abhängig, wird uns das ebenfalls völlig fertig machen. Wir alle sind unvollkommen und fehlerhaft. Früher oder später werden selbst die Menschen, die uns am nächsten stehen, uns manchmal enttäuschen – ob sie es beabsichtigen oder nicht.
Wenn du daher bei anderen Menschen nach der Grundlage für deinen Wert und deine Bedeutung suchst, wirst du den Rest deines Lebens in der Achterbahn der Meinungen anderer Leute verbringen.
Einen neuen Weg finden: Paulus als Vorbild
Was bleibt uns da noch übrig? Gibt es irgendeine Möglichkeit, das alles zu entwirren und einen gesunden Umgang damit zu finden, der uns Frieden und Freiheit bringt? Ich glaube schon.
Im Neuen Testament der Bibel begegnen wir einem Mann namens Paulus. Diesem Mann mangelte es nicht gerade an Kritikern. Er wurde verspottet, ausgepeitscht, inhaftiert, zusammengeschlagen, aus der Stadt gejagt und mit Steinen beworfen, bis er halb tot war. Paulus wusste also, wie es sich anfühlt, die Meinung der Leute gegen sich zu haben.
Aber irgendwie konnte er nach all dem trotzdem folgende Worte schreiben: „Aber was mich betrifft, ist es egal, ob ich von euch oder irgendeinem menschlichen Gericht beurteilt werde. Ich beurteile mich ja nicht einmal selbst. Zwar bin ich mir keiner Schuld bewusst, aber dadurch bin ich noch nicht gerechtgesprochen. Der Herr ist es, der über mich urteilt.“ (1. Korinther 4,3-4)
Paulus sagte, er habe einen Weg gefunden, sich nicht länger von den Meinungen anderer einschüchtern zu lassen. Es war ihm eigentlich egal, ob sie ihn verurteilten. Und er hatte sogar aufgehört, sich selbst wegen seines eigenen Versagens und seiner Schwächen fertigzumachen. Er beurteilte sich nicht einmal selbst.
Die Quelle wahrer Freiheit in Gottes Urteil
Aber wie hat er das geschafft? Er ignorierte nicht einfach seine Hasser, sondern blieb sich selbst treu. Er wusste, dass selbst wenn seine eigenen Entscheidungen ihm richtig erschienen, das noch nicht bedeutete, dass er tatsächlich richtig lag.
Paulus entdeckte diese Freiheit, indem er einen anderen Ansprechpartner fand, an den er sich wenden konnte, um Liebe, Annahme und Bedeutung zu erfahren. Es war eine andere Person, die ihm half, herauszufinden, wer er war und wie er leben sollte.
Paulus erlebte wahre Freiheit, indem er seine Identität darin fand, wer er in Gottes Augen war.
Das war's für heute. In der nächsten Episode geht es mit der Lesung weiter. Der Herr segne dich, lasse dich seine Gnade erfahren und lebe in seinem Frieden. Amen.