Suchet, was droben ist

Konrad Eißler
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An Himmelfahrt geht’s nicht ums Zurücksehen oder Hinuntersehen, sondern ums Hinaufsehen: “Suchet, was droben ist.” Denn seit der Himmelfahrt Jesu ist die Machtfrage entschieden. Deshalb ist Himmelfahrt ein Fest des Jubels und der Freude. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart


Abschied auf dem Ölberg. Elf gestandenen Männern ist es zum Heulen, liebe Gemeinde. Wenn sie zurücksehen, erblicken sie die Staatsmacht eines Pilatus, der Unschuldige seinen Henkern aus­liefert und Barnabasse frei laufen lässt. Macht und Gerechtigkeit scheinen sich bis heute auszuschließen. Wenn sie hinuntersehen, erblicken sie die Ohnmacht ihrer Hände, die überhaupt nichts ausrichten können. Gewalt löst nur Gegengewalt aus. Wenn sie nach vorne sehen, erblicken sie die Großmacht römischer Gottkaiser, die zur Hatz gegen die Christen aufrufen: christianes ad leonem! Christen vor die Löwen! Leidenmüssen ist die Normalsituation der Christen; alles andere ist Ausnahme von der Regel. Dann aber passiert es, dass die Jünger nicht zurücksehen, nicht hinuntersehen, nicht vorwärtssehen. Suchet, was droben ist! Richtet euch nach Jesus aus! Seid gespannt auf ihn wie eine Sehne! So sehen sie hinauf und im Fluchtpunkt dieses Blickwinkels erblicken sie jenen Mann, der schon damals vor der Besatzungsmacht keine Furcht zeigte und dem Statthalter auf den Kopf zusagte: Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir nicht von oben gegeben wäre. Sie erblicken jenen Mann, der schon damals auf der tobenden See im Schiff gestanden und den Naturmächten sein “Schweig und verstumme!” entgegengeschleudert hat. Sie erblicken jenen Mann, der schon damals auf dem Tempelberg der Versuchungsmacht widerstanden und dem Teufel den Laufpass gegeben hat. Die Elf erblicken über allen Mächten die Allmacht des Herrn. Jesus präsentiert sich in diesem Augenblick als der Mandatsträger schlechthin von unumschränkter himmlischer Machtbefugnis. Es gibt keine Gegenmacht, die ihm gefährlich werden könnte. Die Scheinmächte haben ausgespielt, bevor sie sich aufspielen. Die Machtfrage ist seit der Himmelfahrt Jesu entschieden.

Warum sehen Sie immer wieder zurück und bangen vor den Mächtigen dieser Erde mit ihrem politischen Ränkespiel? Warum sehen Sie immer wieder hinunter und leiden an der Ohnmacht Ihrer Hände, die so wenig ausrichten können? Warum sehen Sie immer wieder nach vorne und zittern vor Krisen und Kriegen? Suchet, was drüben ist! Richtet euch nach Jesus aus! Seid gespannt auf ihn wie eine Sehne, auf der der Pfeil liegt! Der Apostel will, dass Sie hinaufsehen und im Fluchtpunkt Jesus erkennen, der seit diesem Tag in alle Macht investiert ist. Himmelfahrt ist doch kein Abschiedsfest für einen pensionsreif­en Herrn, der sich, mit Orden übersät und Ehrungen überhäuft, unter den Klängen des Großen Zapfenstreichs auf einen himmlischen Ruhesitz zurückzieht. Himmelfahrtsfest ist doch Regierungsan­tritt für einen aktiven Christus, der mit höchster Erlaubnis die Schalthebel der Macht in die Hand bekommt. Christus i.R. heißt jetzt nicht Christus im Ruhestand, sondern Christus in Reichweite. Seine Macht reicht in alle Bereiche unseres Lebens hinein. Er ist der Machthaber schlechthin.

Christus i.R. heißt jetzt nicht Christus im Ruhestand, sondern Christus in Reichweite. Seine Macht reicht in alle Bereiche unseres Lebens hinein.

Und wenn manche meinen, mit Atomsprengköpfen auf den Raketen und mit Öllachen unter der Erde sei die Macht schon verteilt: Er hat größere Macht. Und wenn manche sagen, gegen Krankheit sei kein Kraut gewachsen: Er hat die stärkere Macht. Und wenn manche glauben, der Tod sei die Großmacht schlechthin: Jesus hat die Übermacht.

Deshalb ist dieser Abschied nicht zum Heulen, sondern zum Loben. Regierungsantritt bedeutet immer Jubel. Machtübernahme heißt immer Freude. Amtseinführung ist immer ein Fest. Das war im alten Rom so. Die Ränge der Arenen flossen über, wenn der neue Kaiser seine Spiele gab. Das war in Frankfurt so. Aus den Rohren des Römerbrunnens sprudelte der klare Wein, wenn der Herrscher den Thron bestieg. Dad war in Bonn so. Sektgläser wurden gefüllt, wenn die neuen Herren kamen. Und das ist in seiner Gemeinde nicht anders. Himmelfahrt ist ein Fest des Jubels und der Freude, weil Christus die Macht hat: “Sollt ich nicht zu Fuß dir fallen und mein Herz vor Freude wallen, da der Himmel jubiliert, weil mein König triumphiert!” Suchet was droben ist! Richtet euch nach Jesus aus! Seid gespannt wie eine Sehne, auf der der Pfeil liegt! Der Fluchtpunkt also ist der auferweckte Herr. Gleich viermal wird er in vier Versen mit seinem Würdenamen Christus, der Gesalbte bezeichnet. Das Kind in der Krippe, der Sohn in der Zimmermannsfamilie, der Lehrer in der Schule, der Prediger auf dem Berge, der Heiland in den Elendsvierteln, der Verurteilte in Jerusalem, der Gekreuzigte auf Golgatha, der Auferweckte vom Grabe, der ist der Messias, der Gesalbte, der Würdenträger, eben der, der zur Rechten Gottes sitzend alle Macht in Händen hat. Ihn suchet! Nach ihm richtet euch aus! Auf ihn seid gespannt wie eine Sehne!

“Wenn ich das wirklich zu fassen wüsste”, sagte Martin Luther, “so würde ich sterben vor Freude, dass Christus nun alle Macht wie Gott.” Wenn wir das wirklich zu fassen wüssten, was das bedeutet, eine Mitte, eine Achse, eine Machtzentrale alles Geschehens! Das ist doch geradezu unfasslich. Im Einheitsdenken des Mittelalters mag es noch möglich gewesen sein, an eine Achse zu glauben, um die sich das Rad der Geschichte dreht. Etwa damals, als das Kloster Königsbronn in meiner früheren Gemeinde auf der Ostalb das unbestreitbare Zentrum im oberen Brenztal war. Ich stelle mir einen beleibten Mönch vor, der nach der Frühmesse am Himmelfahrtstag zum nahegelegenen Itzelberger See spazierte, um dort einen fetten Karpfen für das Festessen herauszufischen. Wenn er seinen Blick über das dunkelblaue Wasser erhob, dann sah er über den grünenden und blühenden Wiesen nur einen einzigen Turm im Brenztal, und das war sein eigener Klosterturm. Das Fischwasser gehörte dem Kloster. Das Jagdrecht vergab das Kloster. Das Bier braute das Kloster. Die Gesetze erließ das Kloster. Alles regelte die klösterliche Machtzentrale. Wäre jener Vers schon damals in seinem Brevier gestanden, unser Mönch hatte ihn be­stimmt im Blick auf den Abt von Köngsbronn vor sich hingeträllert: “Alles ist ihm untertänig, ehret, liebet, lobet ihn!” Aber wenn wir heute dort hinunterspazieren, dann dürfen wir kein einziges Fischlein fangen, weil einem andern das Fischwasser gehört. Und wenn wir unseren Blick erheben, dann sehen wir wohl noch den Kloster­turm, aber daneben die Betriebsschornsteine der Schwäbischen Hüttenwerke, die umweltfeindlich qualmen. Und ganz hinten tauchen die Baustellenkrans auf, das Industrieviertel und die Hochhäuser. Es sind die Arbeitsplätze, die ihre eigenen Gesetze haben. Die Welt in viele Teilgebiete explodiert. Hinter Kirchenmauern vermag ich zuweilen von einer Geschichtsachse träumen, um die sich alles dreht, aber im Geschäft? Als Kaufmann bin ich gleich morgen wieder in die freie Marktwirtschaft eingespannt, die mich zum Planen und Organisieren zwingt. Als Handwerker drückt mir der Konkurrenz­kampf das Gesetz des Handelns auf. Als Politiker handle ich nach den Gesichtspunkten der kalten Staatsraison. Auch die Krankheit und das Altwerden kann zum Machtbereich um mich werden, der mein Denken und Handeln beeinflusst. Fluchtpunkt Jesus ja, aber nicht allein. Christus und Geschäft. Christus und Betrieb. Christus und Politik. Christus und Krankheit. Christus und Tod. Unsere Not ist doch die, dass unser Leben nicht mehr um die eine, sondern um viele Achsen zu schwingen hat.

Aber, liebe Freunde, diese Not ist nicht erst im Zeitalter der Diskontinuität, wie Max Piccard sagte, geboren worden. Schon um 60 nach Christus brach eben dieses Problem in Kolossä ein. Dort war durch die Predigt eines Evangelisten namens Epaphras eine Gemeinde entstanden, die an den gekreuzigten und auf erstandenen Herrn als die alleinige Mitte ihres Lebens glaubte. Und dort traten eben jene anderen Leute auf. Immer treten andere auf, wenn wir ganz auf die Seite Jesu treten. Und sie machten mit gewaltigem Wortschwall glaubhaft, dass es neben Christus noch andere Mächte gebe, die auch Wirklichkeit besäßen und den Menschen bestimmten. Christus ja, aber nicht allein. Christus und die Philosophie, Christus und die Astrologie, Christus und das Schicksal, Christus und und und. Allen wollte man dienen und diente keinem mehr. Allen wollte man gehören und gehörte niemand mehr. Gehetzt, gejagt, getrieben und geängstigt, so wurde das Leben der Christen zu einer schweren Anfechtung in der Stadt. Auf diesem dunklen Hintergrund müssen wir den Apostel verstehen, wenn er mit dem viermaligen Christus die Richtung weist: Solus Christus! Christus allein! In ihm wohnt alle Fülle. Er ist vor allem. Er ist hinter allem. Hinter Christus gibt es kein Wörtlein und kein Komma, sondern nur ein Ausrufezeichen. Kreuz und Auferstehung sind Beweise seiner unumschränkten Machtfülle. Fürstentümer und Gewalten haben ihren Meister gefunden. Er ist die Mitte, die Achse, das Zentrum der Welt. Suchet, was droben ist. Richtet euch nach Jesus aus. Seid gespannt auf ihn wie eine Sehne, auf der der Pfeil liegt.

Aber klingt das nicht gesetzlich? Zu all den täglichen Anforderungen: Steh auf! Fahr ab! Fang! Lass sehen! Geh mit! Hör zu!, die uns den lieben langen Tag um die Ohren geschlagen werden, kommen diese weiteren Befehle hinzu: Suchet! Richtet! Trachtet! Klingt das nicht verdächtig nach Goethes Meinung: “Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen?”

Hören wir ein Letztes. Was dieser Herr gebietet, ist immer schon angeboten. Was er verlangt, ist immer schon geschenkt. Seine Imperative sind im Indi­kativ verankert. So gleichen wir nicht dem Fährmann, der sein Boot mit eigener Kraft über den Strom setzen muss, sondern dem Fahrgast, dessen Boot über das Wasser geleitet wird. Wer schon einmal die schöne Stadt Basel besucht hat, der kennt nicht nur das Rathaus und die Stadtmauer, sondern auch den Rhein. Dieser dort reißende Strom führt mitten durch die Stadt. An einer Stelle, gleich unterhalb des ehrwürdigen Münsters, ist das Wasser von einem Drahtseil überspannt. An beiden Ufern ist es an starken Pflöcken festgezurrt. Und an diesem Seil hängt eine alte Per­sonenfähre. Ohne Motor oder Ruderschläge gleitet sie sicher über den Rhein. Auch wenn manchmal Wellen über Bord schlagen oder Winde das Zeltdach mächtig aufblasen, kommt sie sicher ans Ziel, einfach deshalb, weil sie sich am Seil hält bzw. vom Seil gehalten wird.

Wer mit offenen Augen durch die Welt geht, der kennt nicht nur die Höhen und Tiefen, sondern auch den reißenden Strom, der mitten durch unser Leben geht. Panta rei, sagten die Griechen, alles fließt, und wir fließen mit einem unbekannten Ende entge­gen. An einer Stelle jedoch, gleich außerhalb der Heiligen Stadt, ist das Wasser vom güldenen Seil überspannt. Dieses Seil der Liebe, wie es Hosea bezeichnet hat, ist auf der einen Seite am Schandpfahl von Golgatha festgezurrt. Dort hat Gott den Balken ganz tief in die Erde getrieben, damit er nicht nachgeben kann. Und dieses Spannseil göttlichen Erbarmens ist auf der andern Seite an der Hütte Gottes festgeknüpft, dort, wo Johannes sagt, dass Gott alle Tränen von unsern Augen abwischen wird. Wenn wir nun dieses Halteseil erfassen, dann sind wir einerseits mit Christus gestorben und tragen das Leiden und Sterben, das Unvollkommene und Verwelkliche mit uns herum, andererseits aber sind wir mit Christus auferstanden und freuen uns auf die Auferweckung und Leben, Friede und Ewigkeit. Kraft dieser Verankerung gleiten wir sicher über den Strom der Zeit. Und wenn manchmal Wellen über Bord schlagen und Winde sich mächtig aufblasen, kommen wir doch sicher ans Ziel, einfach deshalb, weil wir uns an ihn halten oder von ihm gehalten werden. So können wir nach Hause gehen. So können wir wieder unser Tagewerk aufnehmen. So können wir jeden Sturm bestehen, weil der uns leitet, aus dessen Hand uns gar nichts reißen kann.

Deshalb: Suchet, was droben ist! Richtet euch nach Jesus aus! Seid gespannt auf ihn wie eine Sehne, auf der der Pfeil liegt.

Amen

[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]