
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.
Auch von meiner Seite ein herzliches Grüss Gott hier im Saal, oben im Feierabendhaus, sowie zu Hause an den Bildschirmen. Es ist schön, zusammen zu sein und auf Gottes Wort zu hören.
Es ist mittlerweile etwa mein fünfter Durchgang durchs Vaterunser. So, Werner, ich weiss nicht, wie oft du schon über das Vaterunser gepredigt hast, zum Beispiel bei Bibelwochen.
Das Faszinierende an diesem Gebet und überhaupt an Gottes Wort ist: Es fällt immer wieder etwas Neues von dem Bäumchen, wenn man es schüttelt. Martin Luther sagt ja, Gottes Wort sei wie ein Apfelbäumchen. Man schüttelt es immer wieder, und siehe da, da ist immer noch ein Apfel drauf, den man bisher noch nicht gefunden hat.
Dieses Vaterunser beginnt mit drei Bitten, und das fasziniert mich. In diesen Bitten geht es zunächst überhaupt nicht um mich. Ich kann zu ihrer Erfüllung auch nichts beitragen – wirklich nichts, null Komma null. Es geht in diesen Bitten um Gott und um die Zukunft der Welt.
Dabei hängt es nicht damit zusammen, dass Gott eitel wäre und zuerst Aufmerksamkeit für sich selbst verlangt. Es geht um etwas ganz anderes: Nur wenn Gott zu seinem Ziel kommt, erreichen auch wir unser Ziel. Das ist ein Geheimnis des Lebens. Wenn Gott nicht zu seinem Ziel gelangt, dann kommen auch wir nicht zu unserem Ziel.
Wenn Gott seinen Namen nicht heiligen würde, wenn sein Reich nicht käme und wenn sein Wille nicht geschehen würde, dann wäre auch alles, wirklich alles, was ich tue und was mir oft so wichtig erscheint, restlos vergeblich.
Wenn Gott zu seinem Ziel kommt, ist das das Beste, was uns passieren kann. Deshalb ist es gut, dass es bei diesem Gebet zunächst nicht um uns geht. Mit diesen ersten drei Bitten wird auch vieles klein und nichtig, was uns im Moment groß und wichtig vorkommt.
Wenn ich das Vaterunser bete, bin ich sehr oft mit den Dingen meines Lebens und meines Alltags beschäftigt. Mein Blick wird von den Dingen beherrscht, die mich gerade umtreiben. Mit diesem Umgetriebensein komme ich in dieses Gebet.
Dann führen mich die ersten drei Bitten – dass Gott seinen Namen heiligt, dass sein Reich komme und dass sein Wille geschehe – in eine ganz große Weite. Mein Blick wird geweitet für Gottes souveränes Handeln in der Welt.
Ich muss, ich werde genötigt, von mir selbst wegzublicken. Mein Blick wird auf die Größe Gottes, seiner Geschichte und seines Willens gelenkt. All dem, was mich so umtreibt, wird ein ganz bescheidener Platz zugewiesen.
Marie Schmalenbach hat es einmal in einem Lied formuliert: "Dass uns werde klein das Kleine und das Große groß erscheine."
Und mit diesen drei Bitten, die sich auf Gott beziehen, bitten wir um drei Dinge, die unser Leben betreffen. Bei den nächsten drei Bitten geht es um Dinge, die uns persönlich angehen und für unser Leben wichtig sind.
Es geht um das tägliche Brot, um die Vergebung der Schuld, und wir beten darum, dass wir nicht in Versuchung geführt werden, sondern vom Bösen erlöst werden. Dabei ist „das Böse“ neutral gemeint, aber hier steht „dem Bösen“ – maskulin – also dem Satan, dem Teufel.
Heute Morgen geht es um die Vergebung der Schuld. Mit dieser Bitte macht Gott uns klar, was das Hauptproblem unseres Lebens ist. Es ist die Schuld, die mich von Gott und von meinem Nächsten trennt. Diese Schuld hat die Eigenschaft, dass sie irreparabel ist.
Ich kann Schuld nicht wieder ungeschehen machen, ich kann sie nicht wieder gut machen – das schaffe ich nicht. Eine einmal begangene Sünde kann ich nicht mehr selbst aus der Welt schaffen. Sie ist da, sie steht da, und sie steht zwischen mir und Gott. Sie steht auch zwischen mir und meinem Nächsten, meinem Mitmenschen.
Die einzige Möglichkeit, mit dieser Schuld wieder klarzukommen, ist die Vergebung. Wir brauchen Gottes Vergebung unserer Schuld wie die Luft zum Atmen. Ebenso brauchen wir Vergebung und Versöhnung untereinander. Das ist wichtig, lebensentscheidend und ewigkeitsentscheidend.
Wenn wir sterben, dann kommt es nur auf drei Dinge an: Ich brauche Versöhnung mit Gott, ich brauche Versöhnung mit meinem Nächsten, meinem Mitmenschen, und ich brauche Versöhnung mit mir selbst. Genau darum geht es in dieser Bitte. Wir bitten um Gottes Vergebung.
Im ersten Johannesbrief finden wir diese Verheißung, diese Zusage: Wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist Gott treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und uns von aller Ungerechtigkeit reinigt.
Hier begegnet uns ein Gott, der vergeben will. Er sehnt sich danach und wünscht sich, dass er unsere Schuld vergeben darf. Gott will gebeten werden; er zwingt uns das nicht auf. Er möchte gebeten sein.
Das tun wir im Vaterunser. Gott hat seinen Sohn dafür gegeben, damit er uns vergeben kann. Er tut alles dafür, dass unsere Schuld wieder aufgehoben wird und in die Tiefe des Meeres geworfen wird.
Vielleicht spüren Sie das: Wenn wir das Vaterunser beten, ist es eine Art tägliche Aufarbeitung, eine tägliche Klärung unserer Beziehungen – unserer Beziehung zu Gott, zu unserem Nächsten und zu uns selbst.
Was gehört zu dieser Aufarbeitung unserer Beziehungen? Drei Dinge.
Erstens: ansehen, was ist – wirklich ansehen, was ist. Das Ansehen dessen, was wahr ist, und die Konfrontation mit mir selbst sind der erste Schritt, der erste Schritt zur Heilung meines Lebens.
Die Bibel ist ja bekanntermaßen ein großes Bilderbuch für alle Lebenslagen und insbesondere für menschliche Schuld sowie den Umgang mit dieser Schuld. Im Alten Testament gibt es die bekannte Geschichte von Davids Ehebruch mit Batscheba. David wird zum Ehebrecher und schließlich zum Mörder.
Zunächst einmal scheint die Sache auch irgendwie aufzugehen. Es läuft für David, scheinbar wie geschmiert. Was in dieser Geschichte aber auffällt, ist Davids Blindheit für seine Sünde. Diese Sünde, um die es hier geht, zog sich über Wochen hin, vielleicht sogar über Monate.
Wir können davon ausgehen, dass diese Geschichte Stadtgespräch in Jerusalem war. Alle wussten Bescheid, ganz Jerusalem wusste, was Sache war. Und doch hat niemand David etwas gesagt, niemand hat den Mund aufgemacht.
Wir spüren hier bei David eine eigentümliche Taubheit und Blindheit gegenüber seiner Schuld. Wir Menschen sind ja sehr kreativ und wahnsinnig intelligent, wenn es darum geht, unsere Schuld zu verdrängen. Das kriegen wir unglaublich gut hin, egal welche Schulbildung oder welchen EQ wir haben. Jeder schafft es, die eigene Schuld zu verdrängen. Wir sehen sie irgendwann selbst nicht mehr.
Irgendwann kommt dann der Prophet Nathan und erzählt David eine rührselige Geschichte von einem armen Mann mit einem Schäflein und einem reichen Mann mit vielen Schafen. Der reiche Mann bekommt Besuch, ist aber zu geizig, eines seiner eigenen Schafe zu schlachten. Stattdessen nimmt er einfach das Schäflein des armen Mannes.
Diese rührselige Geschichte hat eine heuristische Funktion. Sie soll etwas Verborgenes ins Licht rücken, etwas Verborgenes sichtbar machen. Sie führt zu einer Entdeckung, zur Erhellung einer unsichtbaren Wirklichkeit.
Die Geschichte schlägt bei David voll ein. Er ist empört über den reichen Mann und will ihn sofort zur Rechenschaft ziehen. In diesem Moment sagt Nathan zu David vier kurze Worte: „Du bist der Mann.“
Bam! Nathan konfrontiert David mit sich selbst. Diese Konfrontation mit seiner Schuld ist für David die einzige Rettung, die einzige Chance zur Umkehr.
Dabei bewegte sich Nathan auf sehr dünnem Eis. An den Königshöfen der antiken Welt konnten offene Worte durchaus mit rollenden Köpfen beantwortet werden. Nicht nur die antiken Herrscher waren da nicht zimperlich – fragen Sie mal nach bei Johannes dem Täufer oder ganz aktuell bei Alexei Nawalny.
Nathan riskierte viel. Aber diese Welt und jeder einzelne von uns braucht diesen Mut, über Schuld zu reden, damit wir sie sehen lernen.
Ich brauche die Konfrontation mit dem, was ist, damit ich die Dinge sehe, die mein Leben zerstören wollen. Nur aus diesem Sehen heraus kann Vergebung und Umkehr entstehen.
Wenn etwas wieder gut werden soll, muss es zu einem Sehen kommen, zu einer Konfrontation mit der Wirklichkeit, mit der Schuld und meinem falschen Verhalten.
Wer vor der Schuld seines Lebens davonläuft, anstatt sich ihr zu stellen und sie anzusehen, wird ihr und ihren Folgen immer wieder begegnen. Er muss sich auch immer wieder selbst erleiden, egal wohin er geht.
Wir nehmen uns ja immer selbst mit, ganz egal, wohin wir gehen.
Das ist das, was wir auch in der Geschichte vom verlorenen Sohn beobachten können. Ein junger Mann wird durch das Scheitern seines Lebens mit der Wahrheit seines Lebens konfrontiert. Er steht am Schweinedruck und wird mit sich selbst konfrontiert. Dabei gelangt er zu der ernüchternden Einsicht: „Ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße.“
Dieser Moment ist der heilsamste seines Lebens. Er realisiert den Wertverlust seines Lebens und den Verlust der Beziehung zu seinem Vater. Ohne diese Einsicht wäre es nicht zur Umkehr gekommen. Er wäre fröhlich weitergegangen durch die Verlorenheit seines Alltags. Es war dieses Sehen dessen, was war und was ist, das ihn zur Umkehr brachte.
Ich halte das für ganz entscheidend: Die Vergebung der Schuld und ein echter Neuanfang im Leben müssen aus der Konfrontation mit uns selbst heraus entstehen. Aus diesem Sehen der Selbsterkenntnis und der Trauer: So bin ich, so bin ich, das habe ich getan.
Ich habe immer wieder erlebt, dass Menschen versucht haben, ihr Leben und ihre Beziehungen ohne diese Konfrontation wieder in Ordnung zu bringen. Und es ist fast immer schiefgegangen. Ich habe einen jungen Mann vor Augen, dessen Frau die Ehe gebrochen hat. Es tat ihr leid, sie wollte nach Monaten wieder zurückkommen, wieder einziehen und in die Ehe wieder einsteigen. Er hat mich dann gefragt: „Du, was soll ich machen?“
Ich habe ihm geraten, seiner Frau die Bedingung zu stellen, dass sie gemeinsam eine Eheberatung machen. Dass sie gemeinsam hinschauen sollen: Was hat mich eigentlich dazu geführt, das zu tun? Was habe ich da gemacht? Welchen Lebensdurst wollte ich auf diese Weise stillen? Warum bin ich ausgebrochen? Und auch du solltest hinschauen: Warum ist deine Frau vor dir weggelaufen?
Die Frau wollte das nicht, und irgendwie hat er es dann auch akzeptiert. Zwei Jahre später passierte dasselbe nochmal. Genau das Gleiche geschah erneut, und dann war es völlig zu Ende. Die Ehe war zerbrochen.
Mit der Methode, Schuld unter den Teppich zu kehren, kommen wir nicht weiter. Niemand von uns kommt weiter. Weder Sie noch ich. Unter den Teppich kehren bringt gar nichts, null.
Wer sich weigert, hinzusehen, ist dazu verdammt, die Fehler zu wiederholen. Und sie werden sich wiederholen, und das Leiden wird sich wiederholen. Wir müssen zu diesem Sehen, zu dieser Konfrontation gelangen.
Die Bitte im Vaterunser „Vergib uns unsere Schuld“ ist die tägliche Einladung zum Hinschauen und zum Heilwerden.
Was soll uns Gott denn genau vergeben? Was ist der Schaden, der repariert werden soll?
Wenn Sie zum Arzt gehen und sagen, Ihnen tut etwas weh, was glauben Sie, was der Arzt als Erstes zurückfragt? Richtig: Wo tut es weh? Wenn Sie mit Ihrem Auto in die Werkstatt fahren und sagen, da ist etwas nicht in Ordnung, was werden die fragen? Sie werden Sie fragen: Was ist denn nicht in Ordnung? Woran merken Sie, dass etwas nicht stimmt?
Zum Beispiel: Der Wagen hängt vorne rechts immer nach unten. Ah, schau mal an, da fehlt ein Reifen, da fehlt das Rad. Vielleicht ist das der Grund.
Wenn wir die Bitte aussprechen: „Vergib uns unsere Schuld“, dann müssen wir damit rechnen, dass Gott zurückfragt: „Okay, welche denn?“ Und wenn wir ehrlich sind, wünschen wir uns, dass er nicht so genau nachfragt. Am liebsten hätten wir eine schmerzfreie Generalsanierung unseres Lebens – ohne genaue Nachfrage. „Mach mal, das machst du schon richtig.“
Aber Gott fragt nach, weil er uns helfen will. Er will uns konfrontieren mit dem, was nicht gut ist. Wir müssen anschauen, was ist.
Das Zweite: Wir müssen aussprechen, was ist. Das Aussprechen und Bekennen von dem, was war und was ist, ist der zweite Schritt zur Heilung.
Wir können an dieser Stelle auf Worte nicht verzichten. Worte sind eine Schöpfergabe, mit der wir schöpferisch tätig werden können. Mit Worten können wir etwas in Sein rufen, was noch nicht ist. Mit Worten kann ich die Wirklichkeit verändern.
Das Aussprechen und Bekennen dessen, was war und was ist, ist ein entscheidender Schritt der Vergebung und der Heilung unserer Beziehungen zu Gott und zu Menschen.
Indem David vor Nathan bekennt: „Ich, ich habe gesündigt gegen den Herrn“, findet die entscheidende Wendung in dieser Begegnung statt. Man muss „Ich“ sagen, nicht „Mann“, sondern „Ich“. Ohne dieses Bekenntnis wäre das Leben Davids nicht zu retten gewesen.
Das demütige Aussprechen und Bekennen ist ein entscheidender Schritt auf dem Weg der Neuordnung der Beziehungen.
In Psalm 51, dem Bußgebet Davids, wird das deutlich: „Denn ich erkenne meine Missetat, und meine Sünde ist immer vor mir. An dir allein habe ich gesündigt und übel vor dir getan.“
Wir würden vielleicht sagen: „David, nenne ich Batseba und Uria, da hast du es verborgen.“ Aber er hat schon begriffen: Mit all dem, was wir anderen antun, machen wir Gott kleiner. Wir klauen Gott etwas von seiner Ehre.
Deshalb ist das theologisch schon messerscharf verstanden: „An dir allein habe ich gesündigt und übel vor dir getan.“ Wo wir anderen Schaden zufügen, schaden wir im Letzten immer dem Schöpfer des Himmels und der Erde, auf dass du Recht behaltest in deinen Worten und rein dastehst, wenn du richtest.
Da wurde einer konfrontiert mit der Wahrheit seines Lebens und der Wahrheit seines Wesens. Jetzt spricht er es aus. Und er spricht das damals öffentlich aus. Sonst hätte man diesen Psalm ja gar nicht in der Bibel stehen.
David hat es öffentlich getan, weil seine Sünde auch eine öffentliche Dimension hatte, weil jeder davon wusste.
Das ist übrigens der entscheidende Unterschied zwischen David und seinem Vorgänger Saul. Saul weigerte sich genau an dem Punkt, an dem es um die Öffentlichkeit geht. Als der Prophet Samuel Saul mit seiner Sünde konfrontiert, antwortet Saul: „Ich habe gesündigt, ja, aber ehre mich doch jetzt vor den Ältesten eines Volkes und vor Israel und kehre mit mir um, dass ich den Herrn, meinen Gott, anbete.“
Ja, Saul gibt zu, einen Fehler gemacht zu haben, aber er möchte die Sache vertuschen. Die anderen sollen es nicht sehen. Während David sich demütig zeigt, versucht Saul noch im Schuldbekenntnis, seine eigene Ehre und sein Ansehen zu retten. Noch im Schuldbekenntnis führt Saul mit Samuel und indirekt mit Gott Tarifverhandlungen.
Deshalb wird Saul verworfen, und David bekommt noch einmal Gnade gewährt. Der verlorene Sohn macht es besser, er handelt wie David. Er sagt: „Vater, ich habe gegen den Himmel und vor dir gesündigt. So war das, so ist das, und das sehe ich. Deshalb bin ich nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße.“
Dieser Sohn kapituliert hier vor seinem Vater. Aus dieser Kapitulation ohne Wenn und Aber erwächst ein neuer Anfang. Es gibt keine Ansprüche mehr, kein Einklagen von irgendwelchen Kindesrechten, sondern nur die schlichte Bitte um ein Gnadenbrot.
Dasselbe begegnet uns in der Aufarbeitung der Verleumdungsgeschichte des Petrus. Nach seiner Auferstehung fragt Jesus Petrus dreimal: „Hast du mich lieb?“ Er geht mit ihm einen Weg zurück in die Vergangenheit.
Das, was wir mit unserem Leben nicht mehr können, nämlich zurückgehen in die Vergangenheit, das können wir mit Worten tun – und das müssen wir mit Worten tun. Dreimal sagte Petrus in jener Nacht: „Ich kenne diesen Menschen nicht.“ Jetzt bekommt er am See Genezareth nach der Auferstehung Jesu dreimal die Frage gestellt: „Hast du mich lieb?“ Und dreimal muss er antworten: „Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe.“
Bei der dritten Frage heißt es: Petrus wurde traurig, weil Jesus zum dritten Mal zu ihm sagte: „Hast du mich lieb?“ Es ist diese heilsame Trauer, zu der Petrus und wir alle kommen müssen, um neu anfangen zu können.
Ohne diese notwendige Trauer werde ich die notwendigen Neuanfänge nicht schaffen. Und das ist das größte Problem dieser Methode, den Dreck unter den Teppich zu kehren.
Die großen Verletzungen unseres Lebens entstehen nicht durch unsere Fehler selbst. Vielmehr entstehen sie durch das Verdrängen und Geheimhalten dieser Fehler. Nicht der Fehler an sich ist das Problem, sondern das Vertuschen und Verheimlichen macht ihn so giftig und zerstörerisch.
Diese Geschichte wurde schon mehrfach erzählt: Meine Frau und ich hatten in unserer ersten Wohnung, frisch verheiratet, ein Jahr lang gewohnt. Dort hatten wir einen Biomüll. Um den Biomüll auf den Komposthaufen zu bringen, hatten wir einen knallroten Eimer mit einem Deckel. Dort sammelten wir den Biomüll.
Dann kam der erste Umzug. Ich musste ins Vikariat, durfte also ins Vikariat, und Umzüge sind bekanntlich chaotisch. Es war auch bei uns chaotisch, wir hatten zu wenig Zeit und Vorbereitung. Der langen Rede kurzer Sinn: Wir schafften es nicht, den halbvollen Biomülleimer vor dem Umzug zu leeren. Ich stellte das Ding halbvoll in den Umzugswagen.
Ja, das ist peinlich, aber so war es. Am neuen Ort luden wir alles aus, auch den halb vollen Biomülleimer, und stellten ihn in die Küche. Nur gab es dort keinen Komposthaufen. Damals gab es noch keinen Biomüll und keine Möglichkeit, ihn zu entsorgen.
Wenn man frisch einzieht, kennen Sie das ja: Es gibt so viel zu tun, bis jedes Bild hängt und alles seinen Platz hat. Der Eimer stand zwei Wochen lang knallrot, genau so, in der Küche. Zwischen meiner Frau und mir entstand ein Schweigeduell. Ich sagte schweigend zu ihr: „Leere du ihn!“ Und sie schwieg und antwortete: „Nein, du sollst ihn leeren!“
Ich war damals noch relativ rüstig beim Fußballspielen. Irgendwann schob ich den Eimer mit dem rechten Außenrist unter die Spüle. Er war rot, aber dort nicht mehr zu sehen. Ich dachte mir: „Reicht nächste Woche, reicht nächsten Monat.“ Doch der Eimer stand dort zwei Jahre lang.
Man ahnt, wie peinlich das ist, aber es ist egal. Sie würden nie vergessen, wie so ein Eimer nach zwei Jahren aussieht. Ich erzählte die Geschichte einmal bei einer Bibelarbeit in der Gemeinde. Daraufhin kam ein Kirchengemeinderat mit einem Rabkircher Dampfstrahler und kümmerte sich um das Ding.
Die Schuld unseres Lebens steht wie ein roter Eimer mitten in unserem Leben, unübersehbar. Was das Ding zerstörerisch macht, ist nicht, dass es da ist. Was es zerstörerisch macht, ist, dass wir es mit dem linken oder rechten Außenrist oder auf andere Weise ins Verborgene schieben – unter den Teppich, aus den Augen, aus dem Sinn.
Eine Lösung ist das nie. Wer nicht bereit ist, seine Schuld einzugestehen, um Vergebung zu bitten und neu anzufangen, bei dem wird im Leben nichts in Ordnung kommen.
Beginnen Sie damit, auszusprechen, was ausgesprochen werden muss. Machen Sie beim Vaterunser an diesem Punkt eine kleine Pause und sprechen Sie aus, was ist.
Und das Dritte: Vergeben, was war – vergeben, was war. Die Bitte im Vaterunser um die Vergebung der Schuld ist die einzige Bitte, die mit einer Selbstverpflichtung verbunden ist: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Das Vergeben dessen, was war und was ist, ist der dritte Schritt zur Heilung unseres Lebens.
Auch die Vergebung gegenüber dem, der an mir schuldig wurde, muss ausgesprochen werden. Indem sie ausgesprochen wird, entfalten diese Worte eine wirklichkeitsverändernde Kraft. Das Wort der Vergebung ist ein sogenanntes performatives Wort. Das heißt, es ist ein Wort, das die Wirklichkeit verändert. Durch den Zuspruch der Vergebung verändern sich Beziehungen, Verhältnisse und die Wirklichkeit selbst. Auch beim Abendmahl geht es um performative Worte – Worte, die die Wirklichkeit unseres Lebens verändern.
Als Joseph in Ägypten seinen Brüdern vergibt, entsteht plötzlich eine Zukunftsperspektive für eine von Lüge und Gewalt zerrüttete und zerbrochene Familie – und damit auch eine Zukunft für ein ganzes Volk. Als David seine Schuld eingesteht und Nathan ihm im Namen Gottes vergibt, wird der Schatten des Todes über Davids Leben abgewendet. Auch der Schatten Sauls ist abgewendet, denn David leidet nicht dasselbe Urteil wie Saul, der verworfen wurde.
Als der Vater des verlorenen Sohnes dem Heimgekehrten wieder das neue Kleid und den Ring anlegt, sind das Symbolhandlungen. Hier verändert sich die Wirklichkeit seines Lebens, und das Fest des Lebens kann wieder beginnen.
Aber umgekehrt erzählt Jesus auch die Geschichte vom Schaltknecht. Auch bei ihm hätte das Leben noch einmal neu beginnen können. Eine Summe von umgerechnet nach heutigen Maßstäben hundert Millionen Euro – unvorstellbar – wurde ihm von diesem König erlassen. Normalerweise fängt das Fest des Lebens an, wenn einem eine solche Schuldenlast abgenommen wird, die das Leben erdrückt und verriegelt – alles ist mit einem Schlag weg.
Doch dann trifft der Schaltknecht seinen Mitknecht und gibt die Vergebung nicht weiter. Das gerade eben eröffnete Leben bricht sofort wieder in sich zusammen. Deshalb ist die Vergebungsbitte die einzige Bitte im Vaterunser, die an eine Selbstverpflichtung gebunden ist: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr, schreibt Paulus.
Das Vergeben von Schuld ist nicht nur wichtig im Blick auf den, der an mir schuldig geworden ist, sondern auch für uns selbst. Nicht vergebene Schuld vergiftet das eigene Leben. Ich habe auch dieses Wort von Frida Gacchumba hier notiert – ich wusste gar nicht, dass es von ihr ist. Ich habe sie in einer etwas anderen Version kennengelernt: „Nicht zu vergeben ist wie Rattengift zu trinken und dann zu warten, dass die Ratte stirbt.“ Tut sie aber nicht.
Wenn wir unseren Schuldigern ihre Schuld vergeben, sind wir die ersten Profiteure davon. Manchmal denken wir, die Schuld des Anderen sei wie ein Geldbetrag oder ein Schuldschein, den ich irgendwann wieder einfordern kann. So habe ich ein bisschen Macht, ich habe etwas in der Hand, weil der andere mir etwas angetan hat. Deshalb habe ich etwas gegen ihn in der Hand und kann irgendwann daraus Vorteil ziehen.
So einen Schuldschein werfe ich doch nicht weg, den schenke ich doch nicht einfach her. Ich hebe ihn mir auf und bei irgendeiner Gelegenheit knalle ich ihn dem anderen wieder vor den Latz. Unvergebene Schuld ist für viele Menschen so etwas wie ein Gutschein zur Rache. Irgendwann darf ich wieder Kontra geben.
Aber das ist eben genau das Missverständnis. Unvergebene Schuld und Sünde sind wie radioaktive Atombrennstäbe. Wenn wir diese Dinge im Haus unseres Lebens lagern, verstrahlen wir uns selbst damit. Das gilt übrigens auch für die unvergebene Schuld gegenüber uns selbst. Wir machen uns ja oft selber fertig, weil wir uns selbst nicht vergeben können, was wir getan haben.
Wir brauchen Versöhnung mit Gott, wir brauchen Versöhnung mit dem Nächsten, aber wir brauchen auch Versöhnung mit uns selbst. „Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ heißt auch: Vergib dir selbst, wofür du dich anklagst. Jesus ist auch dafür gestorben, wofür du dich selbst fertig machst. Versöhne dich mit dir selbst, damit Gott dein Leben heilen kann.
Nun muss ich noch eine einschränkende Bemerkung hinzufügen.
Bitte machen Sie sich auf den Weg der Vergebung, aber lassen Sie sich auf diesem Weg nicht drängen und nicht hetzen. Achten Sie darauf, dass Sie ihn gründlich zu Ende gehen. Es mag sich komisch anhören, aber manchmal vergeben Menschen zu schnell, obwohl sie innerlich eigentlich noch nicht so weit sind. Auch das Vergeben braucht Zeit. Bei der Vergebung ist Gründlichkeit wichtiger als Geschwindigkeit.
Es war schon vor einigen Jahren, da habe ich eine Frau getroffen, die mir erzählte, dass sie selbst als ungeborenes Kind, als sie noch im Leib ihrer Mutter war, einen Abtreibungsversuch überlebt hat. Für sie war das natürlich nie bewusst, aber dieses eigentümliche Gefühl – dass die eigene Mutter ihr Leben auslöschen wollte – trug sie ein ganzes Leben lang unerkannt und unerahnt mit sich herum. Dieses Trauma lagerte sich tief in ihrem Innern ab. Es wurde zu einem tiefen Gefühl der Ungeborgenheit, obwohl sie das kognitiv nicht wusste.
Irgendwann hat sie es aber mitbekommen. Irgendjemand hat ihr erzählt, was vor ihrer Geburt geschehen war. Aha, schau einer an! Nun war diese Frau Christin geworden und hat, wie es auch richtig ist, ihrer Mutter vergeben. Aber dann erzählte sie, dass das alles nicht gründlich war. Es war so tief drin, dass es nicht gründlich gemacht wurde. Sie hatte zwar die Vergebung ausgesprochen, war selbst aber eigentlich noch lange nicht damit fertig.
Erst als sie sich mit 68 Jahren noch einmal auf den Weg zurückgemacht hat – auf den Weg zurück in den Mutterleib zu diesem dramatischen Erlebnis ihrer vorgeburtlichen Existenz – konnte sie mit seelsorgerlicher Hilfe diesen Schritt tun. Sie konnte ihrer bereits längst verstorbenen Mutter wirklich vergeben und dann auch selbst frei werden von dieser Ungeborgenheit. So wurde sie heil an ihrer verwundeten Seele.
Gründlichkeit ist wichtiger als Geschwindigkeit.
Ulrich Giesikus, mein Kollege, hat einmal ein Buch geschrieben mit dem Titel Vergeben kann man nicht müssen. Vergeben kann man nicht müssen. Vergebung ist etwas Lebenseröffnendes, aber man kann sie nicht erzwingen. Und man kann dazu auch niemanden drängen. Erzwungene und gedrängte Vergebungen machen die Dinge nicht heil, weil Vergebung etwas ist, das reifen muss, bis es in Worte gefasst werden kann.
Vergebung ist das Attraktivste – wirklich das Attraktivste –, was Christen und Gemeinden zu bieten haben. Wir sind ein Missionswerk und überlegen uns, wie wir das Evangelium weitersagen und verkündigen können.
Ich möchte etwas sagen: Manche tun sich schwer damit. Sie sind nicht unbedingt Straßenmissionare, die jedem, der ihnen in der Straßenbahn gegenüber sitzt, sofort das Evangelium verkündigen. Aber wenn wir Menschen sind, die aus der Vergebung heraus leben, dann ist das das Attraktivste, was wir tun können.
Menschen, die aus der Vergebung heraus leben und anderen vergeben, sind eine Lebensquelle für unsere Gesellschaft, eine Lebensquelle für unsere Familien und eine Lebensquelle für unsere Beziehungen.
Vor einigen Jahren habe ich eine Geschichte gehört: Eine muslimische Guerillatruppe in Indonesien hat christliche Kirchen abgebrannt – eine Kirche nach der anderen. Diese Gruppe wurde geschnappt und vor Gericht gestellt. Als Zeugen der Anklage wurde die Gemeindeleitung aufgerufen, um zu berichten und die Ereignisse für die Anklage einzuordnen.
Dann steht der Pastor auf und sagt: „Wir haben nichts anzuklagen. Wie uns unser Herr vergeben hat, so vergeben wir auch diesen Menschen.“
Daraufhin steht eine junge Frau von der Anklagebank auf – eine der Terroristinnen, die beim Abbrennen der Kirchen mitgemacht hat – und sagt: „Wow, wenn das euer Gott mit euch tut, dann will ich auch dazugehören, dann will ich auch dazugehören.“
Wir haben nichts Attraktiveres als die Vergebung der Schuld. Nichts Attraktiveres, als sie anzunehmen und weiterzugeben. Nichts anderes wird unser Leben mehr zum Blühen bringen als die Vergebung der Schuld. Amen.