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Ihr sollt beten - das ist amtliche Dienstverpflichtung des Christen. Aber wann? Und wo? Und wie? - Antworten gibt Konrad Eißler in einer Predigt zum Sonntag “Rogate”


Ihr sollt beten, sagt Jesus, auch wenn Friedericus Rex anderes sagte. Seine preußischen Grenadiere kommandierte er zum Kirchgang. Im Stechschritt ging es Richtung Garnisonskirche. Vor dem Gotteshaus wurde der letzte Befehl erteilt: “Im Gänsemarsch in die Bank­ reihen, dann stillgestanden, dann Helm ab, dann leise auf 10 zählen, dann hinsitzen!” Die langen Kerls führten alles befehlsgetreu aus. “Wie schön die beten!”, flüsterten sich ältere Damen ins Ohr, aber Friedericus Rex sagte: Beten ist sinnlos. Trotzdem: Ihr sollt beten, sagt Jesus, auch wenn Max Holz anderes sagte. Als blutjung­er Gefreiter erlebte er einen Artillerieangriff. Sein Kamerad wurde dabei schwer verletzt und schrie. Aber im Trommelfeuer konnte kein Sanitäter an ihn heran. Max Holz presste seine Hände zusammen: “Herr, schenk ihm einen schnellen Tod.” Aber der Verwundete schrie eine halbe Stunde lang weiter, bis seine Stimme langsam erstarb. Als dann das Feuer hinausgezogen war, schrieb dieser Beter in sein Tagebuch: “Das war mein letztes Gebet. Nach diesem furchtbaren Erlebnis hatte ich keine Illusionen mehr.” Beten ist Zeitverschwendung. Trotzdem: Ihr sollt beten, sagt Jesus, auch wenn Bert Brecht anders sagte. In seinem Stück “Mutter Courage” lässt er ein paar Bauern beten, dass Gott den drohenden Überfall der kaiserlichen Truppen auf die schlafende Stadt Halle verhindern möge. “Vater unser, der du bist im Himmel, höre unser Gebet, lass die Stadt nicht umkommen.” Gleichzeitig aber besteigt das stumme Mädchen Katrin das Dach, um durch lautes Trommeln die schlafenden Bürger zu wecken. Ihre Tat brachte die Rettung, das Winseln der Beter brachte nichts. Beten ist frommer Betrug. Trotzdem: Ihr sollt beten, sagt Jesus, auch wenn alle anderes sagen. Oft genug haben wir den Eindruck, dass sich das Gebet einschleift, dass die Gebete nur heruntergerasselt werden, dass die Gebetsanliegen wie die Zahlen von 1 bis 10 hintereinandergehängt zur Gebetsleier verkommen. Friedericus Rex lag gar nicht so falsch: Beten ist sinnlos. Oft genug haben wir den Eindruck, dass sich das Gebet nicht lohnt, dass die Gebetsanliegen wie der Wunschzettel für den Nikolaus draußen vor der Tür liegenbleibt. Holz lag gar nicht so daneben: Beten ist Zeitverschwendung. Oft genug haben wir den Eindruck, dass sich das Gebet erübrigt, dass die Gebete nur Überdruckventile der eigenen Seele sind, dass die Gebetsanliegen wie die Notrufe über ein nicht angeschlossenes Telefon gar nicht ankommen. Brecht lag richtig mit seiner Behauptung: Beten ist frommer Betrug. Trotzdem: Ihr sollt beten, sagt Jesus, auch wenn eure Erfahrungen widersprechen. Ihr sollt beten, auch wenn eure Meinungen Widerspruch anmelden. Ihr sollt beten, auch wenn eure Überlegungen Widerstand erheben: Ihr sollt beten. Liebe Freunde, das ist Dienst. Das ist Dienstanweisung. Das ist amtliche Dienstverpflichtung des Christen. Genauso, wie wir von unserem Dienstvorgesetzten nicht gefragt werden, ob wir morgens Lust haben zur Arbeit oder nicht, genau so wenig sind wir von diesem Dienstherrn angefragt, ob wir morgens und abends vielleicht in Stimmung sind für ein Gebet. Dienst ist Dienst. Und der schlichte Gehorsam gegen einen Befehl ist nicht das schlechteste Motiv für das Händefalten. Denn im Befehl übernimmt immer der Befehlende die volle Verantwortung für den Befehl.

Der schlichte Gehorsam gegen einen Befehl ist nicht das schlechteste Motiv für das Händefalten. Denn im Befehl übernimmt immer der Befehlende die volle Verantwortung.

So dürfen wir ihn beim Wort nehmen. So müssen wir ihm aufs Wort vertrauen. So können wir, um mit Luther zu sprechen, ihm “den ganzen Sack seiner Verheißung vor die Füße werfen.” Ihr sollt beten …

1. Aber wann?

Das ist die erste Frage. Die Leute hatten eine Ant­wort. Ohne Zweifel waren sie Beter von Format. Die rabbinische Wahrheit “Beten ist wichtiger als alle guten Werke” wurde von ihnen hoch und heilig gehalten. Schlag 9 Uhr, mitten im Gewühle eines orientalischen Bazars und mitten im Geschiebe eines morgen­ländischen Kamelmarktes blieben sie wie angewurzelt stehen und murmelten das uralte ‘Shema’, “Höre Israel, der Herr unser Gott ist der einzige Gott”, und das altehrwürdige ‘Shemoneh esreh’, “Gelobt seist du Herr, der du unsere Buße gnädig annimmst.” Schlag 12 Uhr, mitten beim Palaver unter dem kühlen Stadttor oder mitten beim Essen unter den schattigen Palmen, blieben sie wieder stehen und wiederholten murmelnd “Höre Israel, der Herr unser Gott ist der einzige Gott” und “Gelobet seist du Herr, der unsere Buße gnädig annimmt”. Und Schlag 15 Uhr, mitten in der Siesta oder beim Tee dasselbe Bild betender Standbilder: “Höre Israel, der Herr unser Gott ist der einzige Gott” und “Gelobt seist du Herr, der du unsere Buße gnädig annimmst.” Das war Beten nach Maß, Beten auf die Minute, Beten auf Glockenschlag. Nun fühle sich keiner hoch erhaben über solches Gebetstiming, der um 9 sein Wurstbrot vespert, um 12 sein Kantinenessen hinunterschlingt, um 15 Uhr seine Coffeebreak einlegt und darüber jedes Gebet vergisst. Ein Volk, das nur noch die Schulzeit und Studienzeit und Arbeitszeit und Urlaubszeit, aber keine Gebetszeit mehr kennt, lebt nur noch auf Zeit. Feste Gebetszeiten sind Erinnerungsposten für die Ewigkeit. Nur eins, und darauf wird hier der Finger gelegt, Beten ist nicht nur beim festgelegten Glockenschlag möglich. Gott ist kein Arzt, der nur in der Sprechstunde behandelt. Gott ist kein Rechtsanwalt, der nur beim Gesprächstermin berät. Gott ist kein Psychologe, der nur auf Voranmeldung seine Sitzungen abhält. Gott ist unser Vater im Himmel, der weder Sprechzeiten noch Besuchszeiten noch Sitzungszeiten kennt. An seiner Tür hängt kein Schild: “Sprechstunde nur nach Vereinbarung”. Bei ihm heißt es: “Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen”. Denn was wäre das für ein Vater, der mit seinem Kind Kontaktzeiten vereinbart, aber in Notzeiten nicht zu sprechen ist? Friedrich von Bodelschwingh, der als Bub einmal in Angstschweiß gebadet aufwachte und sich dann durch die langen und dunklen Korridore seines Elternhauses hindurch bis zu seinem Vater durchschlug, formulierte später: “Beten heißt sich aus der Welt der Angst aufmachen und zum Vater gehen.” Rund um die Uhr ist er wach. Tag und Nacht steht er zu unserer Verfügung. Jahr um Jahr will er die Verheißung wahrmachen: “Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr über die, die ihn fürchten.” Ihr sollt beten …

2. Aber wo?

Das ist die zweite Frage. Die Leute wussten Bescheid. Zu Tisch wurde gebetet. Jesus selbst dankte und brach das Brot. “Gesegnete Mahlzeit”, sagten sie. Bei uns heißt es nur noch Mahlzeit. Das “gesegnete” ist schon weggefallen. Passen wir auf, dass eines Tages nicht auch noch die ganze Mahlzeit wegfällt. Ihr sollt zu Tisch beten. Dann wurde im Kreis gebetet. Jesus versprach seine Gegenwart, wo zwei oder drei zusammen sind. An Schulen gibt es Gebetszellen, in Büros gibt es Gebetsgruppen, in Gemeinden gibt es Gebetsstunden, in Hauskreisen gibt es Gebetsgemeinschaften. Ihr sollt im Kreis beten. Dann wurde im Gottesdienst gebetet. Jesus suchte immer die Synagoge auf. Das Lob- und Dank- und Bittlied war von Anfang an vielstimmig. Ihr sollt im Gottesdienst beten. Dann wurde auch noch, und das meinten die Juden zu wissen, auf der Straße gebetet. Die Gebetsglocke ließ sie zu Gebetsdenkmälern erstarren. Wie die Ölgötzen standen sie im Verkehr. Statuen der Frömmigkeit. Für die einen war dies echte Beterei. Für die andern war dies dumme Narretei. Für Jesus war es glatte Heuchelei, zu deutsch: Schauspielerei. Schauspieler lernen ihre Rollen. Schauspieler setzen sich in Szene. Schauspieler spielen für andere und meinen sich selbst. Immer dann, wenn wir uns mit dem Gebet produ­zieren wollen, immer dann, wenn wir mit dem Gebet etwas demon­strieren wollen, immer dann, wenn wir mit dem Gebet und Handauf­legung evangelisieren wollen, dann sind wir Staatsschauspieler in einem frommen Theater, das als Schmierentheater bald Pleite macht. Deshalb schickt Jesus in das Kämmerlein. Bei Elisa war es eine Dachkammer oben auf dem Haus, eine Art Prophetenstüblein für den Gottesmann. Bei Tabita war es eine Schlafkammer im oberen Stock, eine Art Pilgerruhe für müde Seelen. Bei Jesus war es eine Speisekammer, der einzig verschließbare Ort im Lehmhaus einfacher Leute. Dort hing die Wurst von der Decke und die Mausefalle stand in der Ecke. Dort konnte man sich ein Viertelstündchen zurückzieh­en und Stille Zeit halten. Dort klatschte kein Publikum Beifall. Nicht einmal ein Kippfensterchen spiegelte das eigene Gesicht. Im Tameion, im Kämmerlein war jeder mit seinem Gott allein. Und solch einen Platz brauchen wir heute wieder, wenn das Gebet Gebet bleiben soll. Kapellen, in denen eine Kerze brennt, sind schön. Kirchen, in denen eine Orgel braust, sind wichtig. Kathedralen, in denen das Light durch die Rosetten bricht, sind gewaltig. Aber für ein persönliches Gebet braucht es sie alle nicht. Zwischen Mehl und Öl, zwischen Herd und Spüle, zwischen Akten und Briefe können und sollen wir mit Gott ungestört in Verbindung sein. Von David Livingstone, der heute am 30. April seinen 116. Geburtstag gefeiert hätte, las ich, dass dieser englische Missionar, Abenteurer und Wissenschaftler von Format auf seinen Expeditionen im afrikanischen Busch jeden Abend ein Zelt aufschlug. Als er eines Morgens nicht erschien zum Frühstück, schlugen die farbigen Träger die Zeltplane zurück und sahen diesen großen Mann, über der Bibel die Hände gefaltet, kniend, tot. Betend war er in die Ewigkeit abgerufen worden. Wo ist dein Zelt? Wo ist deine Ecke? Wo ist dein Dachjuhe? “Wenn du betest, so gehe in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu.” Du sollst beten …

3. Aber wie?

Das ist die dritte Frage. Die Leute meinten es zu wissen. Die Götter schlafen, deshalb muss man sie wecken. Im Gebet werden sie aus dem Schlaf gerüttelt. Oder die Götter wollen nicht, deshalb muss man sie nötigen. Im Gebet werden sie weichgeklopft. Oder die Götter haben den Himmel abgeschlossen, deshalb muss man sie umstimmen. Im Gebet werden sie mit Fäusten herausgetrommelt. “Deos fatigare”, hat Seneca gesagt, Götter ermüden, Götter bedrängen, Göttern auf die Pelle rücken, bis sie es satt haben, das ist Gebet. Und Jesus sagt: Gott schläft nicht. “Siehe, der Hüter Israels schläft noch schlummert nicht”. Gott will. “Er will, dass allen Menschen geholfen werde.” Gott hat den Himmel aufgerissen. “Nun schleußt er wieder auf die Tür.” Wir haben einen offenen Zugang zum Thron Gottes und dort immer Audienz. Zum Schöpfer des Kosmos, zum Herrn der Welt, zum Richter der Menschen können wir Vater sagen, weil Jesus diesen Vaterbegriff gefüllt hat. Sein erstes Wort, das wir von ihm kennen, heißt: “Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist” und sein letztes Wort hieß: “Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände”. Zwischen beiden Worten spannt sich sein Red­en und Wirken, sein Sterben und Auferstehen, seine Rettung und Erlösung. So gefüllt können wir den Vaterbegriff übernehmen und ihn bei unserem Gebet verwenden. Es braucht dabei gar nicht so viel andere Worte. Das Geplapper der Heiden soll ein abschreckendes Beispiel sein. Als die beiden schwäbischen Schrifttheologen Oetinger und Bengel einmal auf Reisen waren und miteinander in einem Gast­hof übernachteten, da trat Bengel vor dem Schlafengehen ans offene Fenster, zog seine Zipfelmütze vom Kopf und sagte: “Lieber Vater, bei uns bleibt’s beim Alten. Amen”. Dann legte er sich ins Bett und schlief sofort ein. Er war sich darin gewiss, dass Gott alles weiß, so wie wir das auch wissen dürfen. Unsere Angst vor morgen mit all seinen Aufgaben: Euer Vater weiß es. Unsere Tränen über den Verlust eines lieben Menschen: Euer Vater weiß es. Unsere Schmerzen wegen einer unheimlichen Krankheit: Euer Vater weiß es. Unsere Nöte mit den Nächsten im eigenen Haus: Euer Vater weiß es. Deshalb dürfen wir es kurz machen und immer wieder alles Bedrängende und Not­machende hineinpacken in das Gebet, das er uns als Maßstab und Richtschnur vorgebetet hat: Vater unser im Himmel. Dir gehört meine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dein Name werde geheiligt. Alle anderen Namen sind als Scheinheilige entlarvt. Dein Reich komme. Die Mächtigen sind nur Schachfiguren auf deinem Brett. Dein Wille geschehe. Ich muss meinen Dickschädel nicht durchsetzen. Unser täglich Brot gib uns heute. Mein Vesper ist dir ein Anliegen. Vergib uns unsere Schuld. Nichts darf mehr die Beziehungen zwischen dir und mir belasten. Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Den Teufel hast du endgültig zum Teufel gejagt. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.

Amen

[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]