Die aktuelle Diskussion über Frömmigkeit und äußere Formen im Gottesdienst
Der deutschen Pfarrerschaft läuft im Augenblick eine etwas merkwürdige Diskussion, ob man nicht auch um die Gottesdienste ein bisschen feierlicher zu machen wieder Weihrauch gebrauchen sollte. Das würde ja auch eine Würde geben, eine ganz andere Atmosphäre. Andere hingegen halten dagegen ganz energisch in Leserbriefen fest, dass es eine falsche Frömmigkeit sei. Sie meinen, im evangelischen Gottesdienst brauche man keinen Weihrauch, keine Kerzen, keine Stollen und keine liturgischen Gewänder.
Die ganze Diskussion geht jedoch am Wesentlichen vorbei. Was macht eigentlich Frömmigkeit aus? Was ist das Wesen von Frömmigkeit? Und was gefährdet wahre, echte Frömmigkeit? In diese Fragen hinein spricht der Herr Jesus in der Bergpredigt sozusagen die wichtigsten Worte, die er uns bis heute wissen lassen will. Deshalb ist uns das verlässlich bis heute überliefert.
„Habt Acht auf eure Frömmigkeit!“ steht in Matthäus 6,1. In den meisten Kirchen unseres Vaterlandes wird dieser Abschnitt heute besonders betont. „Habt Acht auf eure Frömmigkeit, dass ihr sie nicht übt vor den Leuten, um von ihnen gesehen zu werden, denn sonst habt ihr keinen Lohn bei eurem Vater im Himmel.“
Frömmigkeit gehört vor Gott, nicht vor die Leute! Vor Gott sollen wir unser Herz ausschütten, vor Gott sollen wir Erwartungen haben, was er uns geben kann. Vor Gott sollen wir wissen wollen, wie er über uns denkt und was er für uns bereithält. Frömmigkeit hat es mit Gott zu tun. Schüttet euer Herz vor ihm aus! Alles in uns soll schweigen und sich innigst vor ihm beugen.
Übt eure Frömmigkeit nicht vor den Leuten, sondern vor Gott! Die Reformatoren haben dieses „koram Deo“ – vor Gott – so elementar entdeckt, dass Philipp Melanchthon im von ihm formulierten Augsburger Bekenntnis von 1530 eigentlich in jeden Abschnitt hineingeschrieben hat: Vor Gott, vor Gott sind wir nichts als Sünder; vor Gott entdecken wir uns in unseren Schwächen, dass wir ihm gar nicht gefallen können; vor Gott werden wir gerecht gemacht.
Das gab eine neue Unmittelbarkeit zu Gott. Es ist doch egal, was der Kaiser, der Papst oder der kluge Erasmus über uns denken. Es ist egal, was die Schwätzer in den Trinkstuben von uns halten. Wichtig ist, was Gott von mir hält und was er für mich bereithält.
Dieses „Vor Gott“ war Philipp Melanchthon, der das Augsburger Bekenntnis formuliert hat, so wichtig, dass er es offenbar immer wieder gebraucht hat, auch in seinen Predigten. Dort hat jene Geschichte ihren Platz, die manche von uns kennen: Der Bürgermeister von Wittenberg klagte einmal spitzig, ob es denn so notwendig sei, dauernd „vor Gott, vor Gott“ zu predigen. Melanchthon antwortete: „Sie kriegen ein Pferd von mir, wenn Sie im Vaterunser sprechen und bloß vor Gott beten und an nichts anderes denken.“
Er faltete die Hände, begann seine Lippen zu bewegen, hörte aber schon nach ein paar Sätzen auf und sagte: „Ich habe verloren, ich habe dauernd daran gedacht, ob ich auch einen Sattel dazu bekomme.“ Das war in Wittenberg um 5:32 Uhr.
Aber Sie wissen doch auch: Eigentlich wollen wir in den Gottesdienst kommen, um Gott zu begegnen, nicht wahr? Und dann überlegen wir: Es sind halt zu viele moderne Lieder dran oder zu viele alte. Kann durch Nichtigkeit unser Denken abgelenkt werden? Wie überkreuzen die Brüder da vorne ihre Beine? Was für Socken haben sie angezogen?
Jesus hat einmal zu Petrus gesagt: „Du meinst nicht, was göttlich ist, sondern was menschlich ist, nicht teuflisch.“ Das Menschliche, das allgemein Menschliche, das uns bewegt und in uns gärt, zieht uns ab vom lebendigen Gott, von der Konzentration auf Gott.
Deshalb ist es ein Mahnruf des Herrn Jesus: „Habt Acht auf eure Frömmigkeit!“ Eigentlich heißt es „das Tun des Gerechten“, so hat Bonhoeffer das übersetzt. Dass ihr das nicht vor den Leuten tut – das Almosengeben, das Opfern, das Beten, den Gottesdienstgang, das Singen, eure ganze Frömmigkeit –, da, wo es uns eigentlich um Gott gehen sollte, dass wirklich dabei bleibt, dass Gott im Mittelpunkt steht.
Diesen Weckruf des Herrn Jesus habe ich nötig, und vielleicht Sie auch. Zwar steht als Überschrift über der Bergpredigt und als Leitlinie zum Verstehen: „Selig sind, die hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit.“ Und wir denken bei Gerechtigkeit immer an die Fehler des Lebens, an das, was wir ewig vor Gott versäumt haben, an Menschen, denen wir schuldig geworden sind.
Doch der Herr Jesus nimmt als Konkretion unsere Frömmigkeit, da, wo wir es ernst meinen mit Gott. Er möchte nicht zuerst die Fehler aufführen und uns fertig machen: „Dein Leben verdient nur ein Mangelhaft, wenn nicht gar ein Ungenügen.“ Denkt mal an eure Frömmigkeiten: Gottesdienstbesuch, euer Bibellesen, euer Beten, euer Singen. Spielt da Menschliches eine Rolle oder wirklich der lebendige Gott?
Der Apostel Paulus hat einmal in Römer 7 gesagt, das Wesen der Sünde sei: „Das, was ich will, das tue ich nicht, sondern das Böse, was ich gar nicht will, das tue ich.“ Deshalb erinnert der Herr Jesus uns an das Intimste, an das, was Gott dem Nächsten kommt, an unsere Frömmigkeit. Tut ihr da das, was ihr wollt, oder zieht es euch ab von dem, was ihr eigentlich wollt?
Wir sind ja Leute, die, wenn ich sie so vor mir sitzen sehe, kein Wässerchen trüben können. Deshalb ist es so seelsorgerlich vom Herrn Jesus, dass er an dieser Stelle führt, wo wir das nicht tun, was wir eigentlich tun wollen. Meine Gedanken beim Beten schweifen an alles Mögliche ab, so wie sie bei keinem Telefongespräch abschweifen. Da ist eine erschreckende mangelnde Konzentration.
Wir versprechen alles Mögliche bei Menschen, die zur Operation gehen oder krank sind. Ich denke auch an dich: „Ja, ich bete für dich.“ Und wenn sie nach 14 Tagen zurückkommen, habe ich 14 Tage lang vergessen zu beten.
Wie ist es mit eurer Frömmigkeit? Tut ihr wirklich, was ihr wollt? Der Wachruf vom Herrn Jesus ist ganz wichtig. Er spricht dann vom Almosengeben, vom Opfern. Liebe Zeit, habe ich bloß fünfzig Markscheine heute dabei? Euch so viel wollte ich nicht opfern. Warum habe ich mir nicht rechtzeitig ein paar Fünfer eingesteckt? Oder wenn ich die fünf Euro Scheine reinstecke, hoffe ich, dass es niemand sieht, dass ich bloß fünf Euro gebe. Tut es nicht vor den Menschen.
Und wenn ich einen höheren Schein reinstecke, hoffe ich auch, dass sie sehen, dass man mehr geben kann. Es geht schon beim Almosengeben los, beim Gottesdienstbesuch. Sehen die Leute, dass ich hingehe? Bin ich im Gottesdienst, weil ich denke: „Was sagen auch Meiers und Müllers, wenn ich nicht da bin?“ Sie schauen doch darauf, ob ich da bin, oder? Tue ich es aus Menschenwillen oder weil ich Gott begegnen will?
Der Herr Jesus nimmt uns nicht bei penetranten Sünden, sondern er redet als Seelsorger vom Heiligsten, von der Frömmigkeit, und macht deutlich: Ihr braucht mich doch, den Erlöser. Der Apostel Paulus sagt gerade da, worum es geht: „Das, was ich will, das tue ich nicht, und das, was ich nicht will, das tue ich. Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen?“
Wir brauchen den Erlöser Jesus viel elementarer, als wir immer wieder annehmen. Ist es normal, dass wir so angewiesen sind auf den Erlöser, oder ist es unnormal? Müssten wir nicht längst weitergekommen sein?
Lassen Sie mich einfach gestehen: Ich habe es mir auch so vorgestellt, wenn ich älter werde, werde ich gelassener, geheiligter, gebremster in meinen unklugen Emotionen. Aber es ist leider nicht so. Ich muss Ihnen gestehen: Ich habe als 16- und 17-jähriger Mitarbeiter in der Jugendarbeit meine tägliche Bibellese verlangender, interessierter und engagierter gelesen als heute.
Heute haut es mich irgendwo immer wieder hinaus, und das kenne ich schon lange. Ich bin schon auf der nächsten Seite und frage mich: „Was habe ich eigentlich gelesen?“ Beim Beten bewegt mich so viel von dem, was ich in der Weltgeschichte erlebt habe und täglich sehe, dass die Konzentration beim Beten lange nicht mehr so da ist wie früher.
Ich wollte doch um Jesus kreisen in meinem Leben, und jetzt eiert dieses kreisende Rad immer. Ich brauche den Herrn Jesus viel mehr, als ich mir das vorgestellt habe, je älter ich werde. Ich bin nicht heiliger geworden, nicht vollkommen, sondern bedürftiger für Jesus.
Deshalb bin ich so froh, immer wieder an das Wort zu denken, das hier oft bei uns aufklingt: dass wir verwandelt werden in das Bild des Herrn Jesus, von einer Herrlichkeit zur anderen, so wie es folgt. Israel in der Wüste bekam am einen Tag das Manna zum Essen, und wenn die Krüge leer waren, wurden sie am nächsten Tag wieder gefüllt.
So ist es bei der Herrlichkeit, die der Jesus mir gewährt: dass ich einmal riesenbedürftig bin und zum anderen erlebe, dass seine Allgegenwart mich wie die Luft erfüllt – das ist dann Herrlichkeit. Von einer Herrlichkeit zur anderen, bis wir es einmal erleben, dass wir vor ihm sein werden, ewig.
Dazu sind wir berufen, aus aller Armut herauszukommen und zu erfahren: „Selig sind, die hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden.“ Es ist ein Wunder, wenn der Herr Jesus mich nicht zurücklässt in meinen Armseligkeiten, auch meiner Frömmigkeit, meiner religiösen Sitte, meiner geistlichen Praxis.
Wenn er mich herauslöst aus dem Drahtverhau des Menschlichen, dass ich immer wieder an menschliches Denken gebunden bin. Aber der Herr Jesus will uns nicht nur wecken, sondern er will dazu helfen, dass wir wirklich vor Gott leben können.
Vor einer Woche sind wir von unserer schönen Flussreise zurückgekommen. Ich hatte immer gehofft, ich könne in Regensburg diese Statue sehen, die unser schwäbischer Bildhauer Dannecker geschaffen hat. Von der habe ich schon manchmal erzählt: Dannecker hat eine Jesusstatue geschaffen, in der Jesus mit der einen Hand ganz tief nach unten greift, als wollte er einen Menschen retten, die andere Hand springt nach oben zum Vater.
So wie Jesus sagt: „Der Vater, der das Verborgene sieht, dein Vater, der auch das Bestgemeinte sieht, auch wenn es andere Leute nicht sehen.“ Ich will dich vor Gott bringen. Darauf ist Jesus aus, dass wir wirklich Gott leben können, dass wir herauskommen aus den Niedrungen.
Dass wir nicht dauernd fragen, wie ich es den anderen Menschen beweisen kann, dass ich wirklich Christ sein will, dass ich mir mein Christsein etwas kosten lasse, ob ich noch mehr Einsatz bringen muss, mehr opfern, mehr auf andere Leute zugehen, ob ich noch mehr rotieren muss, damit die anderen Menschen es begreifen.
Es geht mir wirklich um den Tag: Ach, ihr dürft vor Gott leben! „Dein Vater, der das Verborgene sieht, wird es euch vergelten.“ Die Christenheit ist heute so darauf fixiert, was wir tun müssen an Sozialem, an Bildungsangeboten, damit wir das Wohlwollen der Menschen erreichen.
„Tut es nicht vor den Leuten.“ Ihr dürft durchaus sagen, was ihr tut, aber nicht abhängig werden vom Urteil der Menschen. Dass ihr gierig seid nach dem, was die Menschen sagen: „Jetzt ist gut mit den Christen, endlich haben sie es gepackt, was wichtig ist.“
Wir haben vor einer Schriftlesung vielleicht befremdlich die beiden kurzen Worte gehört, die Gott zu dem von ihm erwählten Abraham gesagt hat: „Ich bin dein Schild und dein sehr großer Lohn.“ Ich gebe die richtige Belohnung.
Und es geht um Frömmigkeit: „Ich bin der allmächtige Gott, wandle vor mir und sei fromm vor ihm.“ Dass Abraham dann das beste Weideland seinem Neffen Lot überlassen hat, darüber haben sicher manche den Kopf geschüttelt: Wie kann man nur so blöd sein? Das konnte er nicht erklären. Er konnte auch nicht erklären, warum er fürbittend für das gottlose Sodom und Gomorra eingetreten ist.
Menschlich gesehen hat er keinen Vorteil davon gehabt. Aber Gott hat ihn zum Gesegneten gemacht, dessen Segen weitergeht, sodass der Segen Abrahams bis zu uns heute kommt.
Jesus will uns zu einem gesegneten Leben helfen, nicht vor den Leuten. Vielleicht ist das die Not der heutigen Christenheit, dass wir viel zu sehr gierig sind nach einem positiven Urteil unserer Mitmenschen. Dann sagt Jesus: „Dann habt ihr euren Lohn schon gehabt.“
Wie anders könnte der Segen Gottes mit dem kleinen verborgenen Tun der Christen sein, als wir ihm tun würden! Jesus will uns zu einem gesegneten Leben helfen, heraus aus dem Gistschaum menschlicher Erwartungen, was die Menschen von uns, von den Christen erwarten.
Er will uns heraushelfen, erst recht aus dem Gifthauch der Kritik, der uns manchmal auch aus den Medien hämisch entgegenschlägt, sodass wir davon unabhängig werden, dass das an uns abprallt.
„Wandle vor mir!“ Mir kommt es darauf an, was mein Gott über mich denkt, wie er mich Schwachen vor sich gelten lässt, was er mir zuteilt an Aufgaben. Er kann mich freimachen von der Sucht, Lob von Menschen zu bekommen, Anerkennung von Menschen und Verlangen allein nach der Ehre, die Gott geben kann.
Also will der Herr Jesus uns heraushelfen, dass wir es vor den Menschen tun, das Menschliche nicht so wichtig ansehen. „Habt Acht auf eure Frömmigkeit!“ Herr Jesus will, dass wir einen Lohn beim Vater im Himmel haben.
Damit wird unser Blick gerichtet auf das wahrhaft Kommende. Was wird das einmal sein, wenn der Herr Jesus über die Menschen, die zu ihm gehören, sagen wird: „Recht so, meine Tochter, mein Sohn, du bist über wenigen treu gewesen, ich will dich über viel setzen, geh ein zu deines Herrn Freude!“
Das wäre Lohn, nicht himmlische Meriten, keine Anerkennungsbeträge, die uns ausgezahlt werden, sodass wir als Facharbeiter ewig anerkannt werden: „Du hast dich bewährt in dieser Welt, dass du mir dienen wolltest.“
Dann gilt: Sie werden vor Gott, vor seinem Thron leben und werden ihm dienen Tag und Nacht. Ötinger, unser schwäbischer geistlicher Vater, hat davon gesprochen. Wir sind berufen zur priesterlichen Aufwartung vor dem Thron Gottes, verliehen im Himmel, damit Gott uns ewig brauchen kann in dem, was wir üben.
Luther hat es übersetzend so formuliert: „Habt Acht auf eure Frömmigkeit, dass ihr sie nicht übt vor den Leuten.“ Er meint „ausüben“, aber zugleich auch eine Vorübung, ein Training, damit wir einmal recht ewig vor Gott dienen können.
Es werden Aspekte aufgerissen, die wir mit unserem Verstand gar nicht fassen können: königliche, priesterliche Aufwartung vor Gott, dass Gott sein strahlendes Angesicht auf uns richtet und sich bloß noch über uns freuen kann.
„Habt Acht auf eure Frömmigkeit!“ Es ist ja nicht bloß ein Aufruf, sondern wenn Jesus einen Aufruf macht, dann stecken seine ganzen Möglichkeiten dahinter, dass er uns frei macht von dem, was uns menschlich abhalten will: an menschlichen Gedanken, am Singen des Nebenmanns, am Räuspern der Nebenfrau neben mir, an Melodien, warum die Predigt so lang oder so kurz ist, warum im Saal nicht noch mehr wunderbare Fenster sind – lauter menschliche Gedanken.
Sondern allein Gott in der Höhe sei er Dank für seine Gnade, dass wir, die wir so viel Menschliches erleben, in seiner Gegenwart leben dürfen, hier im Gottesdienst und zuhause, wenn wir unsere Hände falten.
„Lass mich dich erblicken und vor dir mich bücken! Alles in uns schweige und vor dir sich neige!“ Jetzt sind wir gespannt, wie das wahr wird bei uns. Amen.
Melanchthons Erfahrung mit dem "Vor Gott"-Gedanken
Dieses Vorgott war Philipp Melanchthon, der das Augsburger Bekenntnis formuliert hat, so wichtig, dass er es offenbar immer wieder gebraucht hat – auch in seinen Predigten.
Dort findet sich jene Geschichte, die manche von uns kennen: Der Bürgermeister von Wittenberg hat einmal klagend und ein wenig spitzig zu Melanchthon gesagt, ob es denn wirklich nötig sei, ständig „vor Gott“, „vor Gott“ zu sagen. Man habe das jetzt eigentlich genug gehört.
Darauf antwortete Melanchthon: „Sie bekommen von mir ein Pferd, wenn Sie im Vaterunser sprechen und dabei nur vor Gott beten, ohne an etwas anderes zu denken.“ Er faltete die Hände, begann seine Lippen zu bewegen, hörte aber schon nach ein paar Sätzen wieder auf.
Dann sagte er: „Ich habe verloren. Ich habe die ganze Zeit daran gedacht, ob ich auch einen Sattel dazu bekomme.“
Das war in Wittenberg, um 5:32 Uhr.
Die Herausforderung, im Gottesdienst wirklich Gott zu begegnen
Aber Sie wissen doch auch: Eigentlich wollen wir in den Gottesdienst kommen, um Gott zu begegnen. Eigentlich nicht, um über andere Dinge nachzudenken.
Doch dann überlegen wir, dass zu viele moderne Lieder gesungen werden oder zu viele alte. Solche Nichtigkeiten lenken unser Denken ab. Wir achten darauf, wie die Brüder vorne ihre Beine übereinanderschlagen oder welche Socken sie anhaben.
Jesus hat einmal zu Petrus gesagt: Du denkst nicht an das, was göttlich ist, sondern an das, was menschlich ist – nicht teuflisch. Das Menschliche, das allgemein Menschliche, das uns bewegt und in uns gärt, zieht uns vom lebendigen Gott weg. Es lenkt uns ab von der Konzentration auf Gott.
Deshalb ist es ein Mahnruf des Herrn Jesus: Habt Acht auf eure Frömmigkeit. Eigentlich heißt es, achtet auf das Tun des Gerechten – so hat Bonhoeffer das übersetzt.
Das bedeutet, dass ihr eure Frömmigkeit nicht vor den Leuten zur Schau stellen sollt: weder das Almosen geben, noch das Opfern, das Beten, den Gottesdienstbesuch oder das Singen. Eure ganze Frömmigkeit, dort wo es eigentlich um Gott gehen sollte, soll wirklich dabei bleiben, dass Gott im Mittelpunkt steht.
Diesen Weckruf des Herrn Jesus habe ich nötig – und vielleicht Sie auch.
Die Bergpredigt als Leitlinie für Frömmigkeit
Zwar steht als Überschrift über der Bergpredigt und als Leitlinie zum Verstehen: „Selig sind, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit.“ Dabei denken wir bei Gerechtigkeit oft an die Fehler des Lebens, an das, was wir ewig vor Gott versäumt haben, an das, was wir Menschen schuldig geblieben sind.
Der Herr Jesus nimmt als Konkretion unsere Frömmigkeit, also dort, wo wir es ernst meinen mit Gott. Er möchte nicht zuerst die Fehler aufführen und uns fertig machen. Dein Leben verdient es nicht, bloß als mangelhaft oder gar ungenügend bewertet zu werden.
Denke einmal an deine Frömmigkeit: Gottesdienstbesuch, Bibellesen, Beten, Singen. Spielt da Menschliches eine Rolle oder wirklich der lebendige Gott?
Der Apostel Paulus hat einmal im Römerbrief gesagt, das Wesen der Sünde sei: „Das, was ich will, tue ich nicht, sondern das Böse, was ich gar nicht will, das tue ich.“ (Römer 7,19) Deshalb erinnert uns der Herr Jesus an das Intimste, an das, was Gott dem Nächsten nahebringt – an unsere Frömmigkeit.
Tut ihr da das, was ihr wirklich wollt, oder zieht es euch ab von dem, was ihr eigentlich wollt?
Die seelsorgerliche Perspektive auf Frömmigkeit und menschliche Schwächen
Wir sind ja Menschen, die, wenn ich sie so vor mir sitzen sehe, kein Wässerchen trüben können. Deshalb ist es so seelsorgerlich von Herrn Jesus, dass er an dieser Stelle darauf hinweist, wo wir nicht das tun, was wir eigentlich tun wollen.
Zum Beispiel schweifen meine Gedanken beim Beten an alles Mögliche ab, obwohl sie bei keinem Telefongespräch abschweifen. Das zeigt eine erschreckende mangelnde Konzentration.
Wir versprechen alles Mögliche Menschen, die zur Operation gehen oder krank sind. Ich denke auch an dich: Ja, ich bete für dich. Aber wenn sie nach 14 Tagen zurückkommt, habe ich es 14 Tage lang vergessen.
Wie steht es mit eurer Frömmigkeit? Tut ihr wirklich, was ihr wollt? Der Wachruf vom Herrn Jesus ist ganz wichtig.
Er spricht dann vom Almosen geben, vom Opfern. Liebe Zeit, habe ich bloß fünfzig Markscheine heute dabei? Euch wollte ich so viel nicht opfern. Warum habe ich mir nicht rechtzeitig ein paar Fünfer eingesteckt? Oder wenn ich die fünf Euro Scheine reinstecke, hoffe ich, dass niemand sieht, dass ich bloß fünf Euro gebe.
Tut es nicht vor den Menschen! Und wenn ich einen höheren Schein reinstecke, hoffe ich, dass sie sehen, dass man mehr geben kann.
Es fängt schon beim Almosengeben an. Beim Gottesdienstbesuch: Sehen die Leute, dass ich hingehe? Bin ich im Gottesdienst, weil ich denke: „Was sagen Meiers und Müllers, wenn ich nicht da bin?“ Sie schauen doch darauf, ob ich da bin, nicht wahr?
Tue ich es unter Menschenwillen oder weil ich Gott begegnen will?
Die Notwendigkeit des Erlösers in unserem Leben
Der Herr Jesus nimmt uns nicht wegen penetranter Sünden beim Wort, sondern spricht als Seelsorger vom Heiligsten, von der Frömmigkeit. Er macht deutlich: Ihr braucht mich doch, den Erlöser.
Der Apostel Paulus sagt genau, worum es geht: „Das, was ich will, das tue ich nicht, und das, was ich nicht will, das tue ich.“ Er ruft aus: „Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen?“ Wir brauchen den Erlöser Jesus viel elementarer, als wir oft annehmen.
Ist es normal, dass wir so sehr auf den Erlöser angewiesen sind, oder ist es unnormal? Sollten wir nicht längst weitergekommen sein? Lassen Sie mich ehrlich gestehen: Auch ich habe es mir anders vorgestellt. Ich dachte, wenn ich älter werde, werde ich gelassener, geheiligter und gebremster in meinen unklugen Emotionen. Aber leider ist dem nicht so.
Ich muss zugeben, dass ich als 16- und 17-jähriger Mitarbeiter in der Jugendarbeit meine tägliche Bibellese verlangender, interessierter und engagierter gelesen habe als heute. Heute werde ich immer wieder irgendwo herausgerissen und frage mich schon nach kurzer Zeit: Was habe ich eigentlich gelesen?
Beim Gebet bewegt mich so viel von dem, was ich in der Weltgeschichte erlebt habe und täglich sehe, dass meine Konzentration beim Beten längst nicht mehr so da ist wie früher. Ich wollte doch mein Leben ganz um Jesus kreisen lassen. Doch jetzt dreht sich dieses kreisende Rad immer wieder im Leeren.
Je älter ich werde, desto mehr merke ich: Ich brauche den Herrn Jesus viel mehr, als ich mir das je vorgestellt habe. Ich bin nicht heiliger oder vollkommener geworden, sondern bedürftiger für Jesus.
Die Verwandlung im Bild Christi als Hoffnung
Deshalb bin ich so froh, immer wieder an das Wort zu denken, das hier oft bei uns erklingt: dass wir verwandelt werden in das Bild des Herrn Jesus. Von einer Herrlichkeit zur anderen, so wie es heißt.
Israel in der Wüste bekam am einen Tag Manna zum Essen. Wenn die Krüge leer waren, wurden sie am nächsten Tag wieder gefüllt. So ist es auch mit der Herrlichkeit, die Jesus mir gewährt. Mal bin ich riesig bedürftig, und dann erlebe ich, dass seine Allgegenwart mich wie die Luft erfüllt. Das ist dann Herrlichkeit.
Von einer Herrlichkeit zur anderen, bis wir es einmal erleben, dass wir ewig vor ihm sein werden. Dazu sind wir berufen: aus aller Armut herauszukommen und zu erfahren: „Selig sind, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden.“
Es ist ein Wunder, wenn der Herr Jesus mich nicht zurücklässt in meinen Armseligkeiten – auch in meiner Frömmigkeit, meiner religiösen Sitte und meiner geistlichen Praxis. Er löst mich heraus aus dem Drahtverhau des Menschlichen, denn ich bin immer wieder an menschliches Denken und menschliche Bindungen gefesselt.
Der Wunsch Jesu, dass wir vor Gott leben können
Der Herr Jesus will uns nicht nur wecken, sondern er möchte uns auch helfen, wirklich vor Gott zu leben.
Vor einer Woche sind wir von unserer schönen Flussreise zurückgekommen. Ich hatte immer gehofft, in Regensburg die Statue zu sehen, die unser schwäbischer Bildhauer Dannecker geschaffen hat. Von dieser Statue habe ich schon manchmal erzählt. Dannecker hat eine Jesusstatue gestaltet, in der Jesus mit der einen Hand ganz tief nach unten greift, als wolle er einen Menschen retten. Die andere Hand zeigt nach oben, zum Vater. So wie Jesus sagt: Der Vater sieht das Verborgene, dein Vater, der auch das Bestgemeinte sieht, selbst wenn andere Menschen es nicht erkennen.
Jesus will dich vor Gott bringen. Darauf kommt es ihm an: dass wir wirklich vor Gott leben können. Dass wir herauskommen aus den Niedrungen, aus dem ständigen Fragen, wie wir anderen Menschen beweisen können, dass wir wirklich Christen sein wollen. Dass wir uns unser Christsein etwas kosten lassen, mehr Einsatz bringen, mehr opfern, mehr auf andere Menschen zugehen. Dass wir uns noch mehr engagieren, damit andere Menschen es begreifen.
Es geht Jesus wirklich um den Tag, an dem ihr vor Gott leben dürft. „Dein Vater, der das Verborgene sieht, der wird es dir vergelten.“
Die Gefahr der Abhängigkeit vom Urteil der Menschen
Die Christenheit ist heute stark darauf fixiert, die Frage zu beantworten, was wir im Sozialen oder im Bildungsbereich tun müssen, um das Wohlwollen der Menschen zu gewinnen.
Aber tut es nicht nur vor den Leuten. Ihr dürft durchaus sagen, was ihr tut, aber ihr solltet nicht abhängig werden vom Urteil der Menschen. Es darf nicht zur Gier danach werden, was die Menschen sagen, zum Beispiel: "Jetzt ist es gut mit den Christen, endlich haben sie es geschafft, das Wichtige zu tun."
Vor einer Schriftlesung haben wir vielleicht befremdlich die beiden kurzen Worte gehört, die Gott zu dem von ihm erwählten Abraham gesagt hat: „Ich bin dein Schild und dein sehr großer Lohn.“
Es geht um Frömmigkeit. Gott sagt: „Ich bin der allmächtige Gott, wandle vor mir und sei fromm.“
Abraham hat dann das beste Weideland seinem Neffen Lot überlassen. Darüber haben sicher manche den Kopf geschüttelt und gefragt, wie man nur so handeln kann. Das konnte Abraham nicht erklären. Er konnte auch nicht erklären, warum er fürbittend für das gottlose Sodom und Gomorra eingetreten ist. Menschlich gesehen hatte er davon keinen Vorteil.
Doch Gott hat ihn zum Gesegneten gemacht, dessen Segen weitergegeben wird. Der Segen Abrahams reicht bis zu uns heute.
Der Ruf zu einem gesegneten Leben unabhängig von menschlicher Anerkennung
Jesus will uns zu einem gesegneten Leben verhelfen, und zwar nicht, um vor den Menschen gut dazustehen. Vielleicht liegt gerade darin die Not der heutigen Christenheit: Wir sehnen uns zu sehr nach einem positiven Urteil unserer Mitmenschen. Doch Jesus sagt, dass diejenigen, die nur auf die Anerkennung der Menschen aus sind, ihren Lohn schon erhalten haben.
Wie anders könnte der Segen Gottes wirken, wenn Christen auch die kleinen, verborgenen Taten tun, die nur Gott sieht! Jesus möchte uns zu einem gesegneten Leben führen, weg vom Gistschaum menschlicher Erwartungen. Er will uns heraushelfen aus dem Druck dessen, was andere von uns, von Christen, erwarten.
Besonders möchte er uns befreien vom Gifthauch der Kritik, der uns manchmal hämisch aus den Medien entgegenschlägt. Er möchte, dass wir davon unabhängig werden und solche Kritik an uns abprallen lassen.
Es wäre schön, wenn wir so leben könnten: „Wandle vor mir, mir kommt es darauf an, was mein Gott über mich denkt, wie er mich Schwachen vor sich gelten lässt und welche Aufgaben er mir zuteilt.“ Er kann uns frei machen von der Sucht, Lob und Anerkennung von Menschen zu erhalten. Stattdessen sollen wir allein nach der Ehre streben, die Gott geben kann.
Jesus will uns also heraushelfen, dass wir nicht danach streben, vor den Menschen zu bestehen oder menschliche Anerkennung für so wichtig zu halten. Deshalb heißt es: Habt Acht auf eure Frömmigkeit!
Die Verheißung des himmlischen Lohns und ewigen Dienstes
Herr Jesus will, dass wir einen Lohn beim Vater im Himmel erhalten. Damit wird unser Blick auf das wahrhaft Kommende gerichtet. Was wird es einmal sein, wenn der Herr Jesus über die Menschen, die zu ihm gehören, sagen wird: „Recht so, meine Tochter, mein Sohn, du bist über wenigen treu gewesen, ich will dich über viel setzen. Geh ein zu deines Herrn Freude.“
Das wäre der Lohn, nicht himmlische Meriten oder Anerkennungsbeträge, die uns ausgezahlt werden, sodass wir als Facharbeiter ewig anerkannt sind. „Du hast dich bewährt in dieser Welt, weil du mir dienen wolltest.“ Dann gilt: Sie werden vor Gott, vor seinem Thron leben und ihm Tag und Nacht dienen.
Ötinger, unser schwäbischer geistlicher Vater, hat davon gesprochen: Wir sind berufen zur priesterlichen Aufwartung vor dem Thron Gottes. Im Himmel wird uns diese Aufgabe verliehen, damit Gott uns ewig brauchen kann in dem, was wir tun.
Luther hat es übersetzend so formuliert: „Habt acht auf eure Frömmigkeit, dass ihr sie nicht vor den Leuten übt.“ Er meint damit das Ausüben, aber zugleich auch eine Vorübung, ein Training, damit wir eines Tages wirklich ewig vor Gott dienen können.
Die Hoffnung auf eine königliche und priesterliche Gemeinschaft vor Gott
Es werden Aspekte angesprochen, die wir mit unserem Verstand noch gar nicht vollständig erfassen können. Es geht um eine königliche, priesterliche Aufwartung vor Gott, bei der Gott sein strahlendes Angesicht auf uns richtet und sich nur noch über uns freuen kann.
Habt Acht auf eure Frömmigkeit! Das ist nicht nur ein bloßer Aufruf. Wenn Jesus einen Aufruf macht, dann stecken seine ganzen Möglichkeiten dahinter, uns frei zu machen von allem, was uns menschlich abhalten will. Dazu gehören menschliche Gedanken, das Singen des Nebenmanns, das Räuspern der Nebenfrau neben mir, Melodien oder Fragen wie: Warum dauert die Predigt so lang? Warum ist sie so kurz? Warum gibt es im Saal nicht noch mehr wunderbare Fenster? All das sind lauter menschliche Gedanken.
Stattdessen soll allein Gott in der Höhe sein und Dank für seine Gnade. Wir dürfen, trotz all der menschlichen Erfahrungen, in seiner Gegenwart leben – hier im Gottesdienst und auch zuhause, wenn wir unsere Hände falten.
Lass mich dich erblicken und vor dir mich bücken! Alles in uns schweige und sich vor dir neigen! Jetzt sind wir gespannt, wie das bei uns Wirklichkeit wird. Amen.
