Ein weiterer Vogelflug kündigt sich über das Buch Esra an. Vielleicht fragen Sie sich, wie ich zu diesen Vogelflügen komme. Ich lese jedes Jahr mindestens einmal die Bibel durch, wobei das Neue Testament manchmal sogar zweimal dran ist. Das mache ich schon seit einigen Jahren. Tatsächlich lese ich die Bibel seit meiner Kindheit.
Es war mir ein großes Anliegen, einmal einen Einblick in meine eigenen Gedanken zu geben. Dabei möchte ich zeigen, was in mir vorgeht, wenn ich die Bibel lese oder ein bestimmtes Bibelbuch studiere.
Es ist aber nicht so, dass ich all das nur aus eigener Arbeit heraus entwickelt hätte. Ganz im Gegenteil. Über die Jahre und Jahrzehnte habe ich zahllose Predigten gehört – ich denke sogar, es waren einige Tausend. Ich besprach Bibelstellen und ganze Bücher mit anderen Menschen in Gruppen. Außerdem studierte ich Theologie und las zahlreiche Bücher darüber.
So ist es auch heute, wenn ich diesen Vogelflug halte: Es handelt sich nicht einfach um eine systematische Zusammenfassung. Vielmehr ist es eine Art Momentaufnahme. Dabei greife ich auf einige Hilfsmittel zurück – sowohl für das Alte als auch für das Neue Testament.
Im Alten Testament begleitet mich bei dieser Serie vor allem Leland Ryken mit seinen literarischen Hinweisen zum Lesen von Büchern. Zu Beginn dieses Buches gebe ich einige literarische Hinweise, die mir selbst helfen, das Buch Esra mit neuen oder erneuerten Augen zu betrachten.
Zunächst lässt sich feststellen, dass das Buch Esra im Grunde eine Heimkehrgeschichte erzählt. Menschen kehren zurück – an einen Ort, aus dem sie vertrieben wurden, der zerstört ist. Dort bauen sie eine Gesellschaft neu auf. Man könnte sagen, sie gründen eine ganze Gesellschaft, wobei sie einen Plan verfolgen, der sich an der Vergangenheit orientiert.
Diese Vergangenheit ist in den Königs- und Chronikbüchern überliefert. Sie beschreibt die Treue beziehungsweise vielmehr die Untreue der Nachfolger Davids und den Abfall des Volkes. Es geht nun um eine Rückkehr zur Tora, zum Gesetz Mose, und zum Gottesdienst, der unter den Königen etabliert worden war.
Im Grunde handelt es sich um eine Art Tod und Wiederauferstehung der Nation. Die Nation war auf dem Papier, aber auch hinsichtlich ihrer Selbständigkeit und Autonomie, zu ihrem Ende gekommen. Nun steht sie neu auf.
Für dieses Wiederaufleben gibt es einen Handlungsverlauf, der im ersten Teil des Buches Esra geschildert wird. Dieser Verlauf besteht aus einem doppelten Konflikt. Einerseits gibt es einen Konflikt zwischen den zurückkehrenden Juden und den Nachbarn, die dort bereits wohnten. Dabei handelt es sich nicht nur um einen Verteilungskonflikt, sondern auch um Macht, Einfluss und Ressourcen – also einen externen Konflikt.
Parallel dazu gibt es einen internen Konflikt unter den Juden selbst, der am Ende des Buches Esra deutlich wird.
Die Juden kehrten also zurück – eine Rückkehrgeschichte über etwa 900 Meilen, also weit über 1.000 Kilometer. Diese Reise dauerte damals etwa vier Monate. Aus den Kapiteln 7 und 8 des Buches Esra wissen wir, dass es eine sehr gefährliche Reise war.
Man muss diese Rückkehr- und Wiederaufbaugeschichte unter dem Gesichtspunkt der Unsicherheit, der Unterlegenheit und des bescheidenen Wiederanfangs lesen. Es handelt sich um eine wirklich ungemütliche Situation: Aus der Gesellschaft, in der sie sich bereits seit Jahrzehnten bewegten, hinauszugehen, die beschwerliche Reise auf sich zu nehmen und an einen Ort zurückzukehren, an dem kein gemütliches Nest auf sie wartete.
Dort gab es vielmehr grundlegende Arbeit zu leisten – nicht nur materiell, sondern auch ideell. Es ging darum, wieder eine Gesellschaft zu installieren und sich neu zurechtzufinden.
Es ist sehr interessant, auf die verschiedenen Literaturunter- oder Gattungen innerhalb dieses Buches zu achten. So sehen wir nicht nur eine Erzählung, sondern auch viele Listen und Verzeichnisse.
Zum Beispiel wird in Kapitel 1, Verse 8 bis 11 aufgezählt, welche Geräte der Kaiser Kyros den Juden mitgab. Es handelt sich dabei um Geräte des Tempels, die unter Nebukadnezar von dort geraubt worden waren.
In Kapitel 2 finden wir eine Liste der Rückkehrer, geordnet nach den Namen der Clans, der Familienclans und auch nach der Zugehörigkeit, zum Beispiel zu den Priestern, Leviten, Sängern, Torhütern und Tempeldienern. Diese Gruppen werden aufgeschrieben oder erfasst, inklusive der genauen Anzahl, etwa 345 oder 1017 Personen.
Auch in Kapitel 8 gibt es eine solche Liste weiterer Rückkehrer. Von Kapitel 1, Vers 1 bis Vers 14 finden wir eine weitere Liste von Rückkehrern, die später mit Esra zurückkehrten und diese gefährliche Reise unternahmen.
Weiter sehen wir, dass das Buch eine Art Heldengeschichte ist. Vielleicht sind Sie jetzt erstaunt über diesen Ausdruck „Heldengeschichte“. Aber Esra, der Priester, der aus der hohen priesterlichen Linie stammt, wird wirklich als Held dargestellt.
In Kapitel 7 wird ganz klar, dass er einerseits eine hohe Achtung beim persischen Herrscher Kyros genoss und offensichtlich auch direkten Kontakt mit diesem Herrscher hatte. Andererseits war er eine unbestrittene Autorität unter den Juden selbst.
Diese Autorität bestand darin, dass Esra, wie in Kapitel 7, Vers 6 beschrieben, wohl bewandert war im Gesetz Mose. In Kapitel 7 sehen wir, dass sich diese Kenntnis in dreierlei Hinsicht äußerte: Er erforschte Gottes Gesetz, richtete sich danach und lehrte auch darüber.
Diese Kombination aus Forschen, Tun und Lehren macht ihn für mich zu einer beeindruckenden und als Vorbild sehr ermutigenden und anspornenden Person – eine Art Heldengeschichte.
Dieser Held setzt sich auch durch, wenn er Missstände unter dem Volk entdeckt, zum Beispiel in Kapitel 9 und Kapitel 10. Er spricht diese Missstände an, aber nicht einfach nur, um darüber zu urteilen. Vielmehr stellt er sich selbst als Teil dieses Volkes unter das Urteil des Gerichts, tut Buße und leitet dann in aller Entschiedenheit Reformen ein.
Weiterhin sind in diesem Buch auch viele interessante Briefe enthalten. In Kapitel 4 finden wir die Schreiben, die von den Feinden der Juden verfasst wurden, um den Bau des Tempels und den Wiederaufbau erfolgreich zu stoppen. Diese Briefe spielen eine wichtige Rolle. Sie werden wörtlich wiedergegeben, nämlich in Esra 4,7-16 und 4,17-24.
Außerdem sehen wir, dass die Juden im sechsten Kapitel, in den Versen 6 bis 12, einen Brief schrieben und die ausführliche Antwort des Herrschers Darius darauf erhalten.
Das Buch ist einerseits eine Erzählung mit vielen Listen und Verzeichnissen, andererseits eine Heldengeschichte eines sehr glaubwürdigen Geistlichen, nämlich des Priesters Esra, der Reformen einleitet. Das Buch enthält zudem einige offizielle Briefdokumente sowie autobiographische Elemente. Besonders interessant ist der Abschnitt von Esra 7,27 bis 9,5, der in der Ich-Form geschrieben ist. Das erinnert an die Apostelgeschichte, wo im 16. Kapitel ebenfalls plötzlich in die Ich-Form gewechselt wird. Dort bringt Lukas als Reisebegleiter von Paulus autobiographische Erzählungen ein.
In diesem Buch sind auch einige offizielle Ankündigungen enthalten. Vor allem in Esra 1,2-4 finden wir das Edikt, den Erlass des persischen Herrschers Kyros. Er erlaubt den Juden die Rückkehr in ihre Heimat und gibt ihnen den Auftrag, ausgestattet mit allem nötigen Material und Geld, den Wiederaufbau zu finanzieren. Dieses Edikt wird in Kapitel 6 bestätigt, und die Ressourcen werden zugesprochen. Auch in Kapitel 7 gibt es Elemente, in denen der heidnische Herrscher dem jüdischen Priester Esra die Vollmachten gibt, um den Wiederaufbau weiter voranzutreiben.
Ein weiteres wichtiges Element ist das Bekenntnis, das als Fürbitte für das Volk in Form eines Schuldbekenntnisses vorgetragen wird. Ähnlich finden wir dies in Nehemia 9 und auch in Daniel 9. In Esra 9,6-15 enthält das Buch ein sehr eindrückliches Schuldbekenntnis von Esra angesichts des Unrechts unter dem Volk.
Das größte Problem, das sich in dieser Erzählung zeigt, ist nicht nur materieller Natur. Vielmehr geht es, wie das Ende des Buches sehr deutlich macht, vor allem um ein geistliches Problem. Dieses Problem bestand bereits vor dem Exil, während des Exils und ist auch nach dem Exil nicht verschwunden. Obwohl die Erlaubnis erteilt wurde, in die Heimat zurückzukehren, die nötigen Ressourcen bereitgestellt wurden und Menschen bereit waren, zurückzukehren, war das eigentliche Problem geistlicher Natur.
Es ist wunderbar, dass Ezra eine Geschichte erzählt, die sowohl direkt als auch indirekt auf die Treue Gottes hinweist. Dieser Gott fordert nicht nur Kyrus auf, den Wiederaufbau zu ermöglichen und die Freigabe der Ressourcen zu veranlassen, sondern er macht auch die jüdischen Menschen verfügbar und willig, zurückzukehren. Er erweckt sie zum Aufstehen, schickt Serubbabel und Propheten, die sie unterstützen, und dann Esra als Priester. In seiner Treue sorgt Gott dafür, dass sein Volk wieder an seinem Ort unter seinem Gesetz und seiner Herrschaft wohnen kann.
Wir sehen viele Elemente von Gottes Vorhersehung, seiner Fürsorge und seiner souveränen Führung. Das zeigt sich nicht nur im Edikt von Kyrus. Auch in Ezra 7 und 8 lesen wir von der Rückkehr Esras, wie er Gnade von diesem König erhält, Geldmittel zugesprochen bekommt und wie Gott diesen Mann auf der viermonatigen Reise begleitet. Ezra selbst wiederholt mehrmals, dass die gütige Hand Gottes über ihnen war. Das ist Gottes Fürsorge und souveräne Führung in seiner Vorsehung, die sich in dieser Geschichte zeigt.
Es ist mehr als Heilsgeschichte, es ist auch Profangeschichte. Diese Geschichte wäre in den weltlichen Annalen kaum erwähnt worden, aber sie ist Regionalgeschichte mit seinem Volk. Dabei geht es immer um den Nachkommen Davids, der einmal kommen würde und durch den die ganze Erde gesegnet werden sollte. So hat Gott es bereits Abraham in 1. Mose 12 angekündigt.
Wir sehen auch, dass Gott die geistlichen Angelegenheiten dieses Überrests – wie er die Gemeinschaft nennt – sehr ernst nimmt. Der Ort des Bekenntnisses, der Buße und der Reformen erhält dabei breiten Raum. Deshalb ist es wichtig, beim Lesen des Buches Ezra empfänglich zu sein – nicht nur für die verschiedenen literarischen Formen, sondern auch für das Anliegen der souveränen Vorsehung Gottes und seiner Führung. Ebenso wichtig ist die Verantwortung des Volkes.
Es ist nicht so, dass Gottes Vorsehung einfach genügt hätte, damit das Volk ohne Probleme und Hindernisse ins Land zurückkehrt und baut. Es ist auch nicht so, dass andere für sie gebaut hätten. Nein, die ganze Arbeit, alle Ressourcen, der Widerstand der Feinde sowie der innere und äußere Widerstand gehörten zum Wiederaufbau dazu.
Leland Ryken sagt sogar, dass das Buch Ezra Anleitungen geben kann, wie man eine neue Gemeinschaft aufbaut – etwa eine Gemeindeneugründung, eine Gruppe oder auch eine Schule. Es enthält viele Anregungen. Deshalb sind wir gespannt, was wir aus Ezra lernen können.
Für den neuen Aufbau, in dem wir heute im 21. Jahrhundert im Westen leben, ist es wichtig, die aktuelle Situation zu verstehen. Viele ehemals christliche Institutionen sind nicht nur säkularisiert worden. Vielmehr haben der Zahn der Zeit und die Ideologie des Säkularismus ihnen schweren Schaden zugefügt. Vor diesem Hintergrund ist es umso wichtiger zu wissen, wie wir heute wieder Gegenkulturen aufbauen können.
Wir sehen dabei, dass eine neue Art von Identität entstanden ist. Es handelt sich um ein verschlepptes, leidendes Volk in der Verbannung. Psalm 137 beschreibt diese Leiden, den Hohn und die Verachtung. Die Dissonanz zur ursprünglichen Identität von Gottes Volk mit Landverheißung wird deutlich. Gleichzeitig zeigt dieser Psalm, wie sich diese Identität durch die Rückkehr neu bilden kann.
Nun noch einige Aspekte aus dem Einleitungskommentar zu Israel und Esra-Nehemia von Mark Futado, insbesondere zu den äußeren Formen der Bücher. In der alten Tradition bildeten Esra und Nehemia ursprünglich ein einziges Buch. Es waren also nicht zwei getrennte Bücher. Erst bei der lateinischen Übersetzung der Vulgata im fünften Jahrhundert wurden sie auseinandergenommen.
Dieses Buch gehörte zum dritten Teil des Alten Testaments, das aus der Tora, dem Gesetz (den fünf Büchern Mose), den frühen und den späten Propheten bestand. Die frühen Propheten umfassen Josua, Richter, Samuel und die Königsbücher. Die späteren Propheten, die Schriftpropheten, sind Jesaja, Jeremia, Ezechiel und das Zwölfprophetenbuch. Das Esra-Nehemia-Buch gehörte zum dritten Teil, den Ketubim, den Schriften.
Es geht immer darum, den Bezug zu dem Bund herzustellen, der mit dem Volk Gottes am Sinai geschlossen wurde und immer wieder erneuert wurde. Im zweiten Teil, den Propheten, wurde aufgezeigt, dass dieser Bund nicht eingehalten wurde. Im dritten Teil, den Schriften, wird dargestellt, wie Gottes Volk dahin zurückkommen sollte.
Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang der Ausdruck „das Buch des Gesetzes Mose“. Wenn wir in Esra 3,2; 7,6-7; aber auch in Nehemia 8,1 und Nehemia 9,3 lesen, sehen wir immer wieder einen Bezug auf dieses Gesetz Moses. Es geht darum, zu zeigen, wie das Volk zu diesem Gesetz zurückkehren konnte.
Wir sehen, dass das Buch Esra zeitlich und chronologisch an das Buch Chronik anschließt. Dies gilt nicht nur inhaltlich, sondern auch formal. Der Schluss des Chronikbuches, 2. Chronik 36,22-23, überlappt sich mit dem Edikt von Kyros in Esra 1,1-4. Die Juden nahmen an, dass bereits die Chronik von Esra verfasst wurde. Sie gingen auch davon aus, dass dies für das Buch Esra und Nehemia gilt. Zwar wurden nicht alle Teile direkt von ihm geschrieben. Das Buch Nehemia enthält beispielsweise in der Ich-Form autobiographische Elemente von Nehemia. Dennoch wird angenommen, dass Esra diese Bücher zusammenstellte, also kompilierte.
Wir erkennen hier eine enge Verwandtschaft, sowohl inhaltlich als auch formal, mit dem Buch der Chronik. Das Volk kehrt zurück, wie es schon am Ende der 2. Chronik angedeutet wurde. Dies geschieht nicht durch eigene Anstrengung, sondern durch Gottes Güte. Wir erfahren zudem, dass beispielsweise Daniel um diese Rückkehr betete.
Diese Rückkehr bezieht sich auf eine Prophezeiung, die im Buch Esra erwähnt wird. In Esra 1,1 wird auf den Propheten Jeremia verwiesen. Dieser Rückbezug zeigt, dass die Rückkehr gemäß der Prophezeiung geschah. Es ist Gottes Güte und Vorsorge zu verdanken, dass er seinem Wort und seiner Ankündigung treu blieb.
Im Buch Esra werden verschiedene Quellen angesprochen. Wie bereits bei den Ausführungen zur literarischen Gattung erwähnt, gibt es Briefe, Listen, Zählungen und Antwortschreiben. Zudem gibt es ein Verzeichnis, das vorher nicht erwähnt wurde: In Kapitel 10 findet sich eine Liste von Menschen oder Familien, die sich mit ausländischen Clans verheiratet hatten.
Interessant ist außerdem, dass ein Teil des Buches Esra in aramäischer Sprache abgefasst wurde. Dies betrifft Esra 4,7 bis 6,18 und 7,12 bis 7,26. Es könnte sein, dass dieser Teil einfach unübersetzt gelassen wurde.
Ein Hinweis zur zeitlichen Einordnung: Der Erlass von Kyros datiert auf das Jahr 538 v. Chr. Das ist etwa 70 Jahre, nachdem das Südreich ins Exil geführt wurde. Die Rückkehr von Esra erfolgt einige Jahrzehnte später, nämlich im Jahr 458 v. Chr., also rund 80 Jahre nach dem Erlass.
Wenn wir weitergehen zum Buch Nehemia, sehen wir, dass dessen Handlung nochmals später spielt, nämlich dreizehn Jahre nach Esras Rückkehr, im Jahr 445 v. Chr. Übrigens taucht Esra auch im Buch Nehemia im achten Kapitel wieder auf und spielt dort eine wichtige Rolle.
Damit haben wir folgende zeitliche Abfolge: Die früheste Datierung ist 538 v. Chr. (Esra 1), dann etwa 80 Jahre später die Rückkehr von Esra, danach nochmals 13 Jahre später, im Jahr 445 v. Chr., die Rückkehr von Nehemia. Die letzte Erwähnung findet sich im Buch Nehemia, Kapitel 13, Vers 6, mit dem Tod von Artaxerxes. Das war nochmals rund 22 Jahre später, also 423 v. Chr.
Daraus können wir schließen, dass die endgültige Form dieser Texte wohl kurz vor dem Jahr 400 v. Chr. fertiggestellt wurde. Damit liegt sie auch kurz vor dem Abschluss des Alten Testaments. Die Juden selbst sagten, dass in dieser Zeit keine weiteren heiligen Schriften mehr verfasst wurden. Stattdessen bezogen sie sich auf die bereits vorhandenen Schriften.
Zur Struktur des Buches Esra: Es stellt sich die Frage, wie es gegliedert werden kann. Ich habe bereits auf den doppelten Konflikt hingewiesen: den externen Konflikt mit den Nachbarn und den internen Konflikt innerhalb der jüdischen Gemeinschaft.
Man kann sagen, dass das Buch Esra grob in zwei Teile gegliedert ist. Die ersten sechs Kapitel beschreiben die Rückkehr unter der Führung von Serubbabel. Hier sehen wir den Konflikt beim Aufbau des Tempels, der sich zuspitzt und zu einem Stillstand führt. Der Bau wird dann in Kapitel 5 wieder aufgenommen und bis Kapitel 6 vollendet.
Die ersten sechs Kapitel umfassen also die Rückkehr und den Tempelbau, inklusive eines Intermezzos, das über ein Dutzend Jahre dauerte, in denen der Bau stillstand.
Der zweite Teil beginnt etwa 80 Jahre nach dem Edikt mit der Rückkehr Esras. Mit ihm kehrt eine weitere große Gruppe zurück. Die Rückkehr, die gefährliche Reise und die mitgebrachten Gegenstände werden ausführlich geschildert.
Der Schwerpunkt liegt hier weniger auf Bautätigkeit, sondern auf der geistlichen und ethischen Erneuerung des Volkes. Dies wird vor allem in den Kapiteln 9 und 10 deutlich.
Zusammengefasst kann man das Buch Esra in zwei Teile einteilen: Kapitel 1 bis 6 und Kapitel 7 bis 10.
Interessanterweise hat Furtado darauf hingewiesen, dass es einige charakteristische Begriffe für das Buch Esra gibt. Ein zentraler Begriff ist „Haus“. Es geht um den Wiederaufbau des Hauses, wobei damit nicht nur im engeren Sinn das Tempelgebäude gemeint ist.
Vielmehr umfasst der Begriff „Haus“ auch den Aufbau der Stadt und der gesamten jüdischen Gemeinschaft. Das Buch zeigt deutlich, dass „Haus“ nicht nur ein Gebäude bezeichnet, sondern auch die Volksgemeinschaft. Es geht also um den Wiederaufbau der gesamten Volksgemeinschaft.
Wenn wir nun ins Neue Testament gehen, sehen wir natürlich auch den Gedanken des Hauses Gottes. Gott baut sein Haus, durch das das weltweite Volk von Königen und Priestern entsteht. Das wird zum Beispiel sehr klar bei Petrus in 1. Petrus 2 erwähnt. Dieser Gedanke ist natürlich schon sehr deutlich vorgeschattet.
Weiter sehen wir, dass dieser Bau durch ganz normale Leute geschah. Wenn wir zum Beispiel Nehemia 3 betrachten, sehen wir, wer alles an diesem Bau beteiligt war. Es waren ganz normale Menschen. Es ging nicht darum, dass eine Elite oder eine einzelne Gruppe aus dem Volk besonders herausstach. Vielmehr war es eine Arbeit des gesamten Volkes, auch der ganz normalen Leute.
Inhaltlich und substanziell wurde dieses Werk durch das geschriebene Wort der Tora unterstützt. Das möchte ich nochmals hervorheben. Es wird sehr oft wiederholt, und wir werden es noch genauer ansehen, besonders in Nehemia 8 und Nehemia 9. Dort wird deutlich, dass dieses Wort vorgelesen und wieder beachtet wurde. Dieser Fokus auf das geschriebene Wort Gottes wurde von einem Hohepriester oder Priester besonders betont.
Es gibt auch das Thema von Souveränität und Verantwortung, wie ich es vorher schon angedeutet habe. Gottes souveränes Handeln mit seinem Volk, seine Güte und sein Erbarmen sind die Initialzündung. Dadurch erhält ein heidnischer Herrscher das Anliegen und den klaren Auftrag. Danach geht es um die Verantwortung des Volkes. Trotz äußerer und innerer Widerstände und Kämpfe muss dieses Projekt, um es so zu nennen, umgesetzt werden.
Im Hinblick auf das Neue Testament sehen wir dann noch intensiver den Gedanken von Gottes Tempel, Gottes Haus, Gottes Volk und Gottes Gemeinschaft. Jesus selbst ist das fleischgewordene Wort Gottes (Johannes 1,14), das unter uns zeltete. Jesus selbst ist der Tempel Gottes (Johannes 2,18-22). Das Haus Gottes wird auf dem Grund und dem Eckstein aufgebaut (Epheser 2,20-22).
Der Heilige Geist wohnt sowohl in der Gemeinde (1. Korinther 3,16) als auch in dem einzelnen Gläubigen. So wird dieses ganze Haus als ein heiliges Priestertum aufgebaut, um geistliche Opfer darzubringen, die Gott wohlgefällig sind durch Jesus Christus (1. Petrus 2,4-5).
Natürlich ist das auch eine schwache Vorschattung dessen, was noch kommen wird. Wenn wir das Ende der Bibel betrachten, Offenbarung 21, sehen wir, dass es erfüllt wird: Gott wird unter seinem Volk wohnen, und er wird ihr Gott sein. Das ist der Gedanke, der sich vom ersten Buch Mose, den ersten Kapiteln, dem Tempelgarten, bis zum neuen Tempel auf dem neuen Himmel und der neuen Erde, dem neuen Jerusalem, durchzieht.
In diesem heilsgeschichtlichen Verlauf, der auf dieses Ziel zusteuert, ist das Buch Esra ein ganz besonderer Meilenstein auf dem Weg dorthin.
Nachdem wir uns nun zweimal inhaltlich und thematisch etwas zu diesem Buch geäußert haben, folgen noch einige Hinweise im Flug durch die einzelnen Kapitel.
Wenn Sie Ihre Bibel zur Hand haben, schlagen Sie sie auf. Ich lese jeweils aus der Schlachter 2000 Übersetzung vor.
Im ersten Kapitel sehen wir den Erlass von Kyros, den geschichtlichen Verweis auf die Prophezeiung Jeremias in Vers 1 und den klaren Auftrag in Vers 3, das Haus des Herrn wieder aufzubauen. Hier begegnet uns dieser charakteristische Ausdruck des Hauses, das wieder errichtet werden soll.
Gott weckt den Geist von Kyros und auch diejenigen, die sich auf den Weg machen. Diejenigen, die zurückbleiben, stärken ihre Nachbarn, die zurückziehen, und geben ihnen noch Dinge mit (Vers 6). So sehen wir einen Aufbruch, der durch den Geist Gottes verursacht wird. Sehr wichtig: Es ist ein Gottesgeist, der den ganzen Aufbruch bewirkt, keine menschliche Initiative.
Im zweiten Kapitel finden wir die Zählung, das Verzeichnis der Rückkehr aus dem Exil. Hervorstechend ist, dass die Priester, Leviten, Sänger, Torhüter und Tempelbediensteten separat verzeichnet werden. Hier zeigt sich schon der große Fokus, natürlich der priesterliche Fokus von Esra auf Gottes Haus.
Wir sehen auch einige, die ihre Identität nicht mehr angeben können, weil ihr Geschlechtsregister fehlt. Das wird auch im Buch Nehemia nochmals erwähnt, Kapitel 2, Verse 62 und folgende. Nach der Rückkehr liegt der Fokus nicht auf dem Vermögen des Volkes, auf Berufsgruppen, Gewerbe oder Dienstleistungen, die neu entstanden wären. Vielmehr geht es hauptsächlich um die Gaben für das Haus Gottes (Vers 68).
Im dritten Kapitel erfolgt die Grundsteinlegung zum Tempel. Zuerst wird zentral der Brandopferaltar wieder aufgebaut. Sie bauten ihn auf, um Opfer zu bringen (Vers 2). Ein ganz wichtiger Ausdruck lautet: "wie es geschrieben steht im Gesetz Mose, des Mannes Gottes." Hier wird also ganz explizit auf die Tora zurückgegriffen.
Sie feiern auch das Laubhüttenfest (Vers 4), wiederum "wie es geschrieben steht". Dieses Laubhüttenfest war zuvor nur selten gefeiert worden. Es ist das siebte Fest nach dem Mosegesetz Kapitel 23 und sollte besonders an die Zeit in Ägypten erinnern – an das Gefühl des Provisoriums.
Dann erfolgt die Grundsteinlegung für den zweiten Tempel im zweiten Teil des dritten Kapitels. Interessant ist auch dort, in Vers 10, dass sie den Herrn loben nach der Anordnung Davids, des Königs von Israel. Es wird hier also nicht nur auf Mose, sondern auch auf David Bezug genommen, und das Ziel ist das Gotteslob.
Sie stimmen einen Wechselgesang an, danken dem Herrn und loben ihn (Vers 11), weil er so gütig ist und seine Gnade ewiglich über Israel währen wird. Das Volk schreit vor Freude, andere weinen. Das Freudengeschrei der einen mischt sich mit der Trauer angesichts des kümmerlichen Rests, der kümmerlichen Größe, ja des schalen Abglanzes der Herrlichkeit, die früher geherrscht hatte.
Unmittelbar nach der Grundsteinlegung des Tempels, im vierten Kapitel, folgt sofort der Einspruch der Widersacher. Sie kommen und erheben erfolgreich Einspruch (Vers 4). Das Volk im Land versucht, die Hände des Volkes Judas schlaff zu machen und sie vom Bauen abzuschrecken.
Das ist sehr deutlich erkennbar: Sowohl der Fokus auf das Haus Gottes, auf den Tempel, als auch der Versuch, die Arbeit sofort zu behindern und zu stoppen. So bleibt es bis heute – der Feind ruht nicht.
Die Widersacher wollten sich ursprünglich in den Gottesdienst einbringen und ihren Platz beanspruchen, was jedoch nicht möglich war, weil sie in gewisser Weise vermischt waren. Das zeigt sich auch schon am Ende der Königsbücher: Dieses Volk, das im Land baut, hatte eigentlich einen synkretistischen Gottesdienst begonnen.
Sie schreiben einen Brief und erreichen einen Baustopp mit dem Hinweis darauf, dass dieses Volk ein besonders böses und aufrührerisches Volk gewesen sei (Vers 12). So ruht dieser Bau.
Bis wann? Bis wiederum Gottes Geist durch die Propheten Haggai und Sacharja wirkt. Beide Propheten sind im Buch der Zwölf Propheten verzeichnet.
In Kapitel 5 sehen wir, dass diese Propheten im Namen Gottes weissagen und die Führer unterstützen. Dadurch kommt der Bau nach vielen Jahren Bauverzögerung und Baustopp wieder in Gang. Das Werk wird mit Eifer, gutem Betrieb und gutem Gelingen vorangetrieben (Vers 8).
Der Dienst der Propheten ist hier entscheidend. Nicht die guten Bauherren oder die vielen zusätzlichen Mittel, sondern vor allem der prophetische Dienst animiert zum Weitermachen.
In Kapitel 6 folgt der Erlass des Königs Darius. Die Juden schreiben einen Brief. Der Erlass bestätigt eindeutig, dass sie nachgeprüft haben und dass der Auftrag von Kyros ausgeführt wird. Der Tempel soll gebaut und der Gottesdienst wieder installiert werden.
Der heidnische Herrscher Darius sagt in Vers 10, dass sie dem Gott des Himmels Opfer lieblichen Geruchs darbringen und für das Leben des Königs und seiner Söhne beten sollen.
Der Tempel wird dann am Ende des sechsten Kapitels eingeweiht, und das Passah wird gefeiert. Auch hier zeigt sich, wie schon unter Hiskia oder Josia, dass bei diesem Wiederaufbruch immer wieder die Freude betont wird, wenn diese Ordnung wieder installiert wird.
Es ist ein Fest mit Freude (Vers 16). Auch in Vers 18 heißt es: "Wie es im Buch Moses geschrieben steht." Sie feiern das Passah, freuen sich und suchen den Herrn (Vers 21). Außerdem feiern sie das Fest der ungesäuerten Brote (Vers 22) mit Freude.
Woher kommt diese Freude? Gott hatte sie fröhlich gemacht.
Der zweite Teil beginnt ab Kapitel sieben: Esra kehrt, wie bereits erwähnt, einige Jahrzehnte später nach Jerusalem zurück. Diese Person Esra ist sehr eindrücklich. Er ist wohlbewandert im Gesetz Moses und erhält das Wohlwollen des heidnischen Herrschers. Der König gab ihm alles, was er erbaten, denn die Hand des Herrn, seines Gottes, war über ihm (7,6). In Vers 9 wird erneut betont, dass die gute Hand seines Gottes über ihm war.
Diese eindrückliche persönliche Ethik gilt es zu erforschen: Esra erforscht, tut und lehrt das Gesetz. Es ist dieser Dreiklang, der sowohl im Alten als auch im Neuen Testament zusammengehört. Man soll das Gesetz erforschen, mit ganzem Verstand suchen, es tun mit ganzem Willen – natürlich aus einem erneuerten Herzen heraus – und dann andere lehren, das weiterzugeben.
Esra erhält vom König Artaxerxes Vollmacht. Dies wird in sieben Versen nochmals betont. Er war gelehrt in den Worten der Gebote des Herrn und bekam alle nötigen Hilfsmittel und Unterstützung, um den Gottesdienst einzuleiten.
Wir sehen auch, dass Esra durch deutliche Zeichen ermutigt wurde. Der heidnische Herrscher gewährte ihm alle Unterstützung (7,28): „Der mir Gnade zuwandte vor dem König und seinen Räten und vor allen mächtigen Fürsten des Königs.“ So fasste Esra Mut, „weil die Hand des Herrn, meines Gottes, über mir war.“
Auch in Kapitel acht werden alle Personen mit Namen verzeichnet, die zurückkehrten. Das ist nicht egal. Ähnlich wie in den Chroniken wird Gottes Geschichte mit seinem Volk aufgezeichnet. Hier wird minutiös genau festgehalten, wer wirklich zurückgekehrt ist, in welcher Zahl, mit welchen Namen und aus welchen Vaterhäusern.
Dank der guten Hand unseres Gottes kehrten diese Männer zurück (8,18). Vor der Reise baten sie jedoch nicht um einen Geleitschutz, obwohl sie wertvolle Güter mitbrachten. Stattdessen demütigten sie sich, fasteten und beteten, um von Gott einen geebneten Weg für sich, ihre Kinder und ihre Habe zu erflehen (8,21).
Ein sehr interessanter Hinweis findet sich in Vers 22: Esra schämte sich, vom König ein Heer und Reiter anzufordern. Denn er hatte dem König bereits erklärt, dass er auf Gott vertraute. Deshalb sah er es als Konkurrent an, diese Hilfe auch nicht vom König zu erbitten, sondern allein von Gott. Es steht: „Er erhörte uns“ (8,23).
In Kapitel neun folgt Esras Bußgebet wegen der Mischehen. Er stellt sofort die Missstände fest. Dabei verschweigt er sie nicht, schiebt sie nicht unter den Teppich und nimmt keine Repriorisierung vor. Er reagiert sofort, sitzt bestürzt bis zum Abendopfer (9,4), zerreißt sein Obergewand und breitet seine Hände zum Herrn, seinem Gott, aus (9,5).
Was macht Esra? Er beklagt sich nicht über andere, sondern stellt sich unter dasselbe Urteil. Er bekennt die Sünde des Volkes und bittet um Gnade von Gott. Sehr interessant ist auch der Aufbau dieses Bußgebets.
Durch dieses Gebet kommt auch Bewegung im Volk. In Vers 1 sehen wir, dass alle sehr weinen. Sie erkennen die Treulosigkeit der Mischehen an und treten in einen Bund ein (10,3). Es ist eine Rückkehr zum Gesetz, die auch schriftlich festgelegt wird (10,11). Es wird ein Bekenntnis abgelegt und die Trennung von diesen Frauen vollzogen, um den drohenden Zorn Gottes abzuwenden (10,14).
Das Buch schließt mit einem Verzeichnis der Männer, die fremde Frauen weggeführt hatten – darunter auch jene, die ein Amt als Priester oder Leviten innehatten.
Dieses Buch sollte aufmerksam gelesen werden. Es ist ermutigend, aber auch wichtig, es aus der Perspektive der Rückkehrer zu betrachten – mit all den Rückschlägen und Hindernissen, aber auch mit der großartigen Zusage von Gottes Gnade. Gottes Hilfe zeigt sich sowohl für die Reise, die Rückkehr, die Güter und den Bau als auch für die inhaltliche Rückkehr zum Gesetz Gottes.
Ein hochinteressantes kleines Buch, das sehr zum Lesen empfohlen wird.