
Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder,
wenn wir an diesem Sonntag unsere Schwarzbrotreihe über Gottes Führungen abschließen, darf ein Thema natürlich nicht fehlen: die Führung durch den Heiligen Geist. Dieses Thema ist vermutlich das aktuellste, wenn es darum geht, wie wir Gottes Führung erleben und erfahren können.
Der große Erfolg der pfingstkirchlichen und charismatischen Bewegungen in den letzten 50 Jahren hat das Thema der Geisterfahrung und der Geistesleitung ganz oben auf die Agenda der christlichen Gemeinde gesetzt. Heute gibt es viele Seminare und sogar ganze Ausbildungsstätten, in denen man sich in das übernatürliche Leiten durch den Geist einführen und ausbilden lassen kann.
Deshalb ist es nur gerecht, wenn auch wir uns in dieser Schwarzbrotreihe mit dem Thema der Geistesleitung, der Führung durch den Heiligen Geist und dem prophetischen Reden Gottes befassen.
In der frühen Christenheit gab es vermutlich eine Vielzahl von Propheten, also urchristlichen Propheten. Paulus schreibt zum Beispiel im Epheserbrief, dass die Gemeinde auf dem Grund der Apostel und Propheten erbaut ist. Dabei sind nicht die alttestamentlichen Propheten wie Jesaja, Jeremia oder Ezechiel gemeint, sondern die Propheten der urchristlichen Gemeinde.
Die Apostel, die hier an erster Stelle stehen, kennen wir gut. Wir können viele von ihnen beim Namen nennen, von Petrus über Johannes bis hin zu Paulus und viele andere mehr. Interessanterweise verhält es sich bei den Propheten anders: Hier fallen uns nicht so viele Namen ein, da sie deutlich seltener erwähnt werden. Dennoch finden sich in allen sogenannten Ämterlisten, in denen die Aufgaben und Funktionen der frühen Gemeinde im Neuen Testament aufgelistet sind, die Propheten an zweiter Stelle—nach den Aposteln und vor allen weiteren Ämtern.
Ich werde diese Listen jetzt nicht vollständig vorlesen, sondern nur darauf hinweisen, wie häufig sie auftauchen und welche Ämter es in einer Gemeinde gab. Die Apostel waren die erste Generation, die wir heute nicht mehr haben. An zweiter Stelle stehen immer die Propheten. Die nachrangigen Ämter variieren in der Reihenfolge, doch diese Position der Propheten fällt im Neuen Testament deutlich auf.
Diese Propheten hatten in der frühen Gemeinde tatsächlich eine sehr wichtige Funktion. Ihnen wurden Offenbarungen geschenkt, die richtungsweisend für die Gemeinde waren. Johannes, der Seher der Johannesoffenbarung, ist ein bekannter Prophet. Er war jedoch nicht der einzige, sondern Teil einer Gruppe von Propheten.
Im letzten Kapitel der Offenbarung spricht ein Engel zu diesem Seher mit folgenden Worten: „Und er, also dieser Engel, spricht zu mir.“ Gemeint ist hier Johannes.
Der Engel sagt zu Johannes: „Tu es nicht.“ Was soll Johannes nicht tun? Er soll den Engel nicht anbeten. Johannes war gerade im Begriff, diesen Engel anzubeten, doch das sollte er nicht tun, weil Engeln keine Anbetung gebührt. Anbetung gebührt allein Gott.
Deshalb sagt der Engel: „Nein, nein, mich nicht anbeten. Du solltest Gott anbeten, denn ich bin ein Mitknecht.“ Der Engel stellt sich also auf eine Ebene mit Johannes und erklärt, dass er ein Mitknecht der Brüder, der Propheten, ist.
Hier wird eine Gruppe ins Blickfeld gerückt, die wir oft überlesen. Johannes war ein Prophet und wird in der Johannesoffenbarung auch als Seher bezeichnet. Er gehörte zu einer Gruppe von Propheten und zu denen, die die Worte dieses Buches bewahren. Deshalb fordert der Engel: „Bete Gott an und nicht mich.“
In diesem Zusammenhang ist von dieser Gruppe die Rede. Wer Johannes genau war, wissen wir nicht sicher. War es Johannes, der Sohn des Zebedäus, oder ein anderer Johannes? Jedenfalls gehörte er zu dieser Gruppe von Propheten, die durch den Heiligen Geist Offenbarungen empfingen.
Diese Mitteilungen durch den Geist waren neben den Worten Jesu, die von den Jüngern überliefert wurden, eine wichtige Quelle. Die Jünger waren mit Jesus in Galiläa unterwegs und gingen mit ihm hinauf nach Jerusalem.
Neben diesen Worten Jesu und den apostolischen Briefen, die wir im Neuen Testament finden, gab es also eine dritte Quelle. Diese dritte Quelle war eine weitere Möglichkeit, wie die frühe Gemeinde das Reden Gottes hörte.
Im Zweiten Thessalonicherbrief gibt es einen interessanten Vers, in dem Paulus die Thessalonicher davor warnt, sich nicht von einer überzogenen Naherwartung der Wiederkunft Jesu erschrecken zu lassen – so, als ob Jesus schon wiedergekommen sei. Dieses Thema können wir jetzt nicht vertiefen, aber Paulus sagt: Ihr sollt euch nicht erschrecken lassen, weder durch Geist – im Griechischen steht hier nur „Pneuma“ –, noch durch ein Wort oder einen Brief, die von uns sein sollen.
In diesem Vers begegnen uns genau diese drei Kommunikationswege, durch die die frühchristlichen Gemeinden ihre Glaubens- und Handlungsgrundlagen empfangen haben.
Wir fangen mal am Ende an: Erstens waren da die apostolischen Briefe mit der verbindlichen Weisung eines berufenen Apostels. Der Apostel hat Jesus zum Fundament der Gemeinde eingesetzt. Das haben wir gerade im Epheserbrief gelesen: Die Gemeinde ist erbaut auf dem Fundament der Apostel und Propheten. Diese Briefe sind deshalb zu Recht im Neuen Testament enthalten, weil die Gemeinde in ihnen die Grundlage oder eine Grundlage ihres Glaubens und Handelns entdeckt hat.
Zweitens ging es logisch um die Jesusworte. Diese wurden in jener Zeit noch gesammelt. Es gab seit dem Zweiten Thessalonicherbrief in den fünfziger Jahren noch kein Evangelium. Aus diesen Worten entstanden später die Evangelien, die wir heute kennen.
Schließlich erwähnt Paulus am Anfang seiner Aufzählung noch den Begriff Geist. Die Lutherübersetzung hat daraus „Weissagungen“ gemacht, und damit liegt sie nicht ganz falsch. Es geht hier um prophetische Worte, die diese Propheten durch den Geist der Gemeinde übermittelt haben. Das ist der dritte Kommunikationsweg. Und dieses Amt gab es in jener frühen Gemeinde.
Diesen Propheten wurden durch den Geist Geheimnisse offenbart. Paulus selbst war vermutlich nicht nur Apostel, auch wenn er sich immer ausschließlich als solcher bezeichnet, sondern vermutlich auch ein Prophet.
In seinen Briefen lässt Paulus immer wieder durchblicken, dass er Offenbarungen und Geheimnisse empfing. Im Griechischen steht dafür das Wort „Mysterion“. Er erhielt solche Mysterien, solche Geheimnisse, und kommuniziert sie in seinen Briefen.
Wir finden diese Dinge, die Paulus kommuniziert, weder in den Schriften Israels – weder im Alten Testament noch in den Worten Jesu. Diese Inhalte sind dort nicht zu finden oder herleitbar. Deshalb gehören diese besonderen Geheimnisse, zum Beispiel über die endzeitliche Wiedereinnahme Israels in Römer 11, dazu. In diesem berühmten Kapitel spricht Paulus über die endzeitliche Wiedereinnahme Israels und nennt das ein Mysterium, das er nicht vorenthalten möchte.
Oder er spricht im 1. Korinther 15 über die Verwandlung der Glaubenden zum Zeitpunkt der Wiederkunft Jesu – alles Inhalte, die wir in diesen Details sonst nirgendwo finden.
Vermutlich war Paulus also auch ein prophetisch begabter Apostel, dem solche Mitteilungen durch den Geist, durch das Pneuma, gegeben wurden.
Wir können in der Bibel mindestens drei verschiedene Formen von Prophetie unterscheiden. Obwohl alle mit demselben Begriff „Prophetie“ bezeichnet werden, verbergen sich dahinter zum Teil sehr unterschiedliche Phänomene.
Die erste Form ist ein Randphänomen, das aber immer wieder auftaucht. Dabei handelt es sich um Prophetie im Sinne einer entpersönlichten Ekstase. Was bedeutet entpersönlichte Ekstase? Propheten geraten in eine Ekstase und verlieren die Fähigkeit, eigene Kontrolle über sich und ihre Worte zu behalten.
Ein berühmtes Beispiel im Alten Testament ist Bileam, der Mann, der im Angesicht des Esels stand. Er wurde sozusagen von einem heidnischen König angeheuert, um gegen Israel zu prophezeien. Gottes Geist zwang ihn jedoch, Israel zu segnen. Das heißt, er wurde gegen seinen eigenen Willen zu einer Prophetie gezwungen, er wurde entpersönlicht, geriet in eine Ekstase und musste etwas tun, was er nicht wollte.
Ein weiteres bekanntes Beispiel ist Saul. Auch er war „unter den Propheten“ und befand sich in einer Verzückung mit einer Prophetengruppe. Er hatte im Grunde keine Kontrolle mehr über sich selbst. Ebenso waren die Baalpropheten auf dem Karmel nicht mehr im Vollbesitz ihrer Selbstkontrolle.
Ein neutestamentliches Beispiel findet sich in der Apostelgeschichte 16. Dort ist von einer Frau die Rede, die als Medium von bösen Geistern hinter Paulus herlief und Dinge prophezeite. Diese Propheten waren in ekstatischer Weise willen- und bewusstlose Werkzeuge entweder Gottes oder der Götter. Das ist die erste Form der Prophetie.
Die zweite Form der Prophetie kennen wir aus dem Alten und Neuen Testament. Sie beschreibt die Fähigkeit einzelner Persönlichkeiten, göttliche Geheimnisse über Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft zu enthüllen. Im Alten Testament sind dies die klassischen Propheten der frühen Zeit, zum Beispiel Nathan, der zu David kommt und sagt: „Freund, was du gemacht hast, war nicht in Ordnung, du bist der Mann.“
Wir kennen auch Elija, Elisa sowie die großen Schriftpropheten Jeremia, Jesaja, Ezechiel und andere. Im Neuen Testament haben wir bereits über den Seher Johannes gesprochen. Dort gibt es auch den Propheten Agabus, über den wir später noch reden werden. Möglicherweise können wir auch Paulus zu dieser Gruppe zählen. Diese Menschen besitzen eine außer- oder übersinnliche Wahrnehmung, die es ihnen erlaubt, mehr und tiefer zu sehen, zu hören, zu erfassen, zu erahnen und zu erspüren als andere Menschen.
Die dritte Form der Prophetie erleben Sie heute Morgen – das hoffe und bete ich zumindest. Sie ist schlicht die Prophetie als vollmächtige, verständliche und vernunftorientierte Verkündigung für die Gemeinde. Diese Verkündigung dient der Erbauung, der Ermutigung, der Ermahnung und dem Trost.
In 1. Korinther 14 sagt Paulus: Lieber ein paar klare Worte der Prophetie als viele Tausend Worte in Zungen, die niemand versteht. Predigt im Sinne dessen, wie wir sie erleben, ist eigentlich eine Form der Prophetie.
Das, was wir sonntags in unseren Gottesdiensten und Gemeinschaftsstunden erleben, ist biblisch gesehen Prophetie im Sinne von 1. Korinther 14. Die Auslegung von Gottes Wort in die aktuelle Situation an konkrete Menschen hinein ist ebenfalls prophetische Rede.
Dies sind die drei verschiedenen Grundformen der prophetischen Rede. Natürlich gibt es noch Unterkategorien, aber die lassen wir heute Morgen einmal weg.
Aus meiner Sicht gibt es keinen Grund, warum es diese ersten beiden Formen der Prophetie nicht mehr geben sollte. Es handelt sich hier allerdings um Ausnahmefälle der Prophetie. Vor dem Hintergrund der schon bei Paulus wiederkehrenden kritischen Wahrnehmung, insbesondere der Ekstase, gilt in betonter Weise: Diese Prophetie – jede Prophetie, auch die dritte Form – muss geprüft werden.
Immer wieder wird das Thema des Prüfens angesprochen. Prophetische Rede muss kontrolliert und überprüft werden. Dabei besteht auch die Möglichkeit, die prophetische Rede abzulehnen. Nicht jeder, der vollmundig und mit großer Attitüde auftritt und behauptet, der Herr habe zu ihm gesprochen, hat immer Recht. Es kann durchaus sein, dass er nicht Recht hat und eher seinem eigenen Geist folgt als dem Heiligen Geist. Vielleicht hängt er mehr seinem eigenen Wunschdenken nach als den Gedanken Gottes. Deshalb muss man prüfen, und manches darf man auch ablehnen und wieder vergessen.
Dieses Prüfen ist im Neuen Testament ein entscheidender Schutzmechanismus. Alle geistlichen – oder allgemeiner formuliert: alle religiösen Erfahrungen – brauchen die kritische Distanz einer kritischen Instanz. Die Gemeinde ist eine solche kritische Instanz. Sie muss prüfen: Was sagt der Geistliche? Hat er Recht oder nicht?
Wer sich und seine gemachten Erfahrungen – konkret die erlebten Träume, Visionen oder Prophetien – nicht selbstkritisch ansehen kann oder ansehen lässt, muss sich und seine Erfahrungen immer wieder selbst erleiden. Noch schlimmer: Auch andere müssen darunter leiden. Es gibt dramatische Beispiele, wirklich dramatische Beispiele bis zum heutigen Tag, bei denen Menschen mit großem prophetischem Anspruch sich selbst, ihre ganze Familie oder sogar eine ganze Gemeinde ins Unglück gestürzt haben. Dies geschah, weil sie sich der kritischen Korrektur verweigert haben.
Das ist immer dann der Fall, wenn solche Prophetien zur manipulativen Größe für andere gemacht werden. Wenn die geistlich Erfahrenen aus diesen Erfahrungen keine hinterfragbaren Machtansprüche ableiten oder solche Erfahrungen zum Ausweis des wahren Christseins machen. Zum Beispiel: Nur wenn du solche Erfahrungen wie ich gemacht hast, bist du ein richtiger Christ. Das ist falsch.
Wir müssen aber auch vorsichtig sein, solche Erfahrungen in den Bereich des Psychologischen, des Irrationalen oder gar des Pathologischen – also des Krankhaften – zu schieben. Auch damit wird der Sache nicht gerecht. Aus biblischer Sicht hat Gott und sein Geist tatsächlich nicht selten diesen Weg der Selbstmitteilung beschritten.
Deshalb gilt bis zum heutigen Tag: 1. Thessalonicher 5,19 – Hinhören und Prüfen, Auslegen und das Gute behalten.
Wie das damals funktioniert hat, möchte ich jetzt an einer Geschichte aus der Apostelgeschichte erläutern. Worum geht es bei dieser Geschichte? Paulus ist mit seinen Begleitern auf dem Weg nach Jerusalem. Er befindet sich auf der Rückreise seiner dritten Missionsreise. Diejenigen, die letzte Woche die Prüfung hatten, wissen genau, wie diese dritte Missionsreise verlaufen ist.
Paulus musste in Jerusalem seine Kollekte abgeben, die er in Griechenland, Mazedonien, Achaia und Kleinasien gesammelt hatte. Er wollte dort auch die Jerusalem-Urgemeinde besuchen und das Geld übergeben. Doch ihm war klar, dass die Sache schwierig werden könnte.
In Jerusalem waren nicht alle gut auf ihn zu sprechen. Er war einst Oberpharisäer und Christenverfolger gewesen. Aus ihrer Sicht war er vom rechten jüdischen Glauben abgefallen, weil er Christ geworden war. Auch in der Urgemeinde gab es viele, die wenig begeistert davon waren, dass Paulus eine beschneidungsfreie, das heißt torahfreie, Heidenmission propagierte. Einige hätten ihn am liebsten an Ort und Stelle gesteinigt.
Das ist der Hintergrund der folgenden Szene: Paulus und seine Begleiter sind auf dem Weg nach Jerusalem und machen Zwischenstation in Caesarea am Mittelmeer. Wenn man nach Jerusalem will, kommt man an Caesarea vorbei. Von dort aus geht es 900 Meter hinauf nach Jerusalem.
In Apostelgeschichte 21,10-14 heißt es dazu:
„Und als wir mehrere Tage dableiben, kam ein Prophet mit Namen Agabus aus Judäa herab. Als er zu uns kam, nahm er den Gürtel des Paulus, band sich damit die Füße und Hände und sprach: ‚So sagt der Heilige Geist: Der Mann, dem dieser Gürtel gehört, werden die Juden in Jerusalem so binden und überantworten in die Hände der Heiden.‘
Als wir das hörten, baten wir, also Lukas und die anderen aus dem Ort, Paulus, dass er nicht nach Jerusalem hinaufziehen solle. Paulus aber antwortete: ‚Was macht ihr, dass ihr weint und mein Herz zerbrecht? Denn ich bin bereit, nicht nur gebunden zu werden, sondern auch zu sterben in Jerusalem für den Namen des Herrn Jesus.‘
Da er sich nicht überreden ließ, schwiegen wir und sprachen: ‚Des Herrn Wille geschehe.‘“
Das ist eine interessante Szene. Ein christlicher Prophet namens Agabus, durch den der Heilige Geist spricht, tritt auf. Agabus vollzieht eine sogenannte Zeichenhandlung. Solche Zeichenhandlungen kennen wir aus dem Alten Testament. Viele Propheten übten diese aus, um symbolisch ihre Botschaft zu dokumentieren und zu unterstreichen.
Der Heilige Geist spricht hier durch den Propheten Agabus, und das ist völlig unbestritten. Es gibt niemanden, der das anzweifelt. Die Prophetie des Agabus ist rückblickend betrachtet wahr, richtig und korrekt. Der Geist hat durch ihn gesprochen.
Nun kommt die Interpretation dieser Botschaft, und damit stehen wir an einem sehr interessanten Punkt. Auch das Reden des Geistes muss interpretiert, also ausgelegt werden. Wenn der Geist redet, ist nicht von vornherein alles klar. Man denkt oft, wenn der Geist redet, dann ist alles paletti, alles klar. Doch das ist nicht so.
Die Begleiter des Paulus und die Gemeindeglieder in Caesarea legen die prophetischen Worte des Agabus folgendermaßen aus: Paulus, wenn der Geist so redet, wie Agabus es gesagt hat, dann geh nicht hinauf nach Jerusalem. Warum? Weil du sonst gefangen genommen wirst, vielleicht sogar gefoltert, und am Ende bringen sie dich möglicherweise um.
Geh nicht hinauf, weil dort Gewalt und Leid auf dich warten. Dein Leben ist in Gefahr. Geh nicht nach Jerusalem, weil dann deine Missionsarbeit als Apostel zu Ende sein könnte. Du könntest kein Zeuge mehr für Jesus sein. Was wird dann aus den Gemeinden, die du gegründet hast? Was wird aus deinem geplanten Besuch in Rom? Dort warst du ja noch nicht. Und was wird aus deiner Mission in Spanien, wohin du noch gehen willst?
Wenn du nach Jerusalem gehst und das passiert, was der Heilige Geist hier angekündigt hat, dann geht alles schief. Dann ist alles verloren. Das Reden und die Führung des Geistes sind so, und ich kann das verstehen. Ich kann die Begleiter, ich kann Lukas, ich kann die Gemeindeglieder in Caesarea verstehen.
Ein Prophet kommt, der Geist redet, die Botschaft ist völlig klar: Paulus, geh wohin du willst, aber nicht nach Jerusalem. Und Paulus geht trotzdem. Auch Paulus will, dass der Wille des Herrn geschehe.
Verstehen Sie das spannende Problem in dieser Geschichte? Wir haben in fünf Versen scheinbar ein widersprüchliches Reden Gottes. Wir haben einen Führungswiderspruch, wenn man so will.
Einerseits gibt es ein aktuelles prophetisches Wort. Und ich habe schon gesagt und betont: Gott kann so reden durch seinen Geist. Klar, Gott hat auch durch Agabus geredet, und diese prophetische Begabung gibt es bis auf diesen Tag.
Nun kommen ebenfalls vom Geist geleitete Paulusbegleiter und legen dieses Reden des Geistes aus. Zu diesen Begleitern gehört Lukas, das habe ich schon erwähnt. Dem trauen wir ebenfalls den Geistbesitz zu, weil seine Werke auch im Neuen Testament zu finden sind. Dort sagen wir auch: Das ist inspiriert, vom Geist durchweht.
Paulus, geh nicht, es kann nur schlecht für dich ausgehen, sagt auch Lukas. Und Paulus geht trotzdem. Auch er will, dass der Wille Gottes geschieht.
Interessant, sehr interessant. Für Paulus ist offensichtlich nicht letztlich entscheidend, was die Begleiter für Schlüsse aus dem Reden des Geistes durch den Propheten Agabus ziehen, sondern für ihn ist etwas anderes entscheidend. Für ihn ist entscheidend, was er von Jesus selbst gelernt hat. Er deutet diese Prophetie, die er auch ernst nimmt, im Licht dessen, was er von Jesus weiß.
Was hat Paulus von Jesus gelernt?
Als Jesus damals hinauf nach Jerusalem zog, wusste er genau, was ihm dort blühen würde. Er kündigte es dreimal in seinen Leidensweissagungen an. Jesus wusste sehr gut und präzise, was ihn erwarten würde, und ging trotzdem. Er ging, weil er wusste, dass der Wille Gottes gerade durch sein Leiden und Sterben zur Vollendung kommt.
Er wusste, dass der Wille Gottes nicht immer das ist, was wir im ersten Moment meinen. Der Wille Gottes bedeutet nicht immer, Schwierigkeiten, Leid, Verfolgung und Not zu vermeiden. Oft weicht er von dem ab, was wir rational im Moment als das Sinnvollste betrachten.
Das haben wir auch in den letzten Schwarzbrot-Predigten von Hartmut Schmid, Tobias Schuckert und Johannes Lüdle gelernt. Sie haben den Psalm 23, die Klagelieder Jeremias und Johannes 21 ausgelegt. Dort wird gezeigt, wie Petrus die Hände gebunden werden und er einen Weg gehen soll, den er sich nicht ausgesucht hat.
Paulus hört das Reden des Geistes durch den Propheten Agabus. Er zweifelt nicht daran, dass der Geist durch Agabus gesprochen hat. Doch das, was er am Vorbild Jesu gesehen hat, was er von den Worten Jesu wusste und was er bei seiner Berufung durch den auferstandenen Jesus Christus gelernt hat, bringt ihn zu einer anderen Sicht des Willens Gottes als die von Lukas und den Freunden der Gemeinde in Caesarea.
Hat der Geist hier falsch gesprochen? Nein, hat er nicht. Der Heilige Geist hat durch Agabus präzise vorhergesagt, was passieren wird. Aber der Heilige Geist hat nicht gesagt: „Paulus, du sollst nicht gehen.“ Das hat der Geist nicht gesagt. Das war die Auslegung von Lukas und den Schwestern und Brüdern aus Caesarea.
Wir nehmen ihr Urteil ernst und schätzen es. Wahrscheinlich hat Paulus es auch geschätzt, aber er ist ihnen nicht gefolgt.
Was möchte ich damit sagen? Wenn wir uns nach dem Willen Gottes und seiner Führung erkundigen, sollten wir nicht davon ausgehen, dass ein prophetisches Wort für unser individuelles Leben die Dinge immer einfacher macht.
Oft denken wir, wenn Gott mir direkt eine Botschaft oder einen Zettel schickt, wird alles leichter. Dann hätte ich keine großen Schwierigkeiten mehr, keine Unsicherheiten darüber, ob ich nach links oder nach rechts gehen soll, oder was ich tun soll. Doch das ist nicht der Fall. Es wird nicht einfacher, überhaupt nicht. Ein prophetisches Wort löst nicht alle Probleme und bietet keine Abkürzung, wenn es darum geht, den Willen Gottes für unser Leben zu erkennen.
An dieser Stelle wird etwas anderes deutlich: Es wird sichtbar, wie viel geistliche Reife, wie viel – ich sage es mal schlicht – Bibelwissen, Schriftkenntnis und Weisheit nötig sind, um das Reden des Geistes richtig zu hören. Paulus befand sich in einer ähnlichen Situation. Was ihn befähigte, das Reden Gottes und seine Führung richtig zu verstehen, war ein großes Paket, das wie eine Art Zusammenfassung unserer Schwarzbrotreihe ist.
Paulus war sich bewusst, dass es bei seinem Weg nach Jerusalem nicht nur um sein individuelles Glück und Wohlergehen ging. Er wusste, dass er Teil einer großen Geschichte ist, dass sein Weg ein Teil des Weges ist, den Gott mit seiner Gemeinde geht. Gottes Führung betrifft niemals nur ein Ich, sondern immer ein Wir.
„Gott führt Menschen, die Glieder seines Gottesvolkes sind, sei es das Volk Israel oder das Volk der Gemeinde.“ Das hat Roland Deines in der ersten Schwarzbrotpredigt dieser Reihe deutlich gemacht. Wir sind Teil eines Volkes, Teil einer Geschichte – nicht nur ich allein. Es geht immer um ein Wir.
Der große Wille Gottes für seine große Heilsgeschichte und sein kleiner Wille für mein kleines Leben stehen niemals im Widerspruch, weil wir ein Teil seiner Geschichte sind. Wer lernt, die große Geschichte Gottes zu verstehen, der hört Gottes Reden auch in seiner kleinen Geschichte besser.
Gott führt uns durch die Heilige Schrift und durch das Vorbild Jesu. Ebenso führt er uns durch die Vorbilder, die wir im Alten und Neuen Testament präsentiert bekommen.
Beim Vorbild Jesu geht es im Neuen Testament nicht um seine Ehelosigkeit oder seine Armut. Diese Eigenschaften werden nie als Vorbild für die Gemeinde herangezogen. Sie können zwar vorhanden sein, müssen es aber nicht.
Wichtig ist beim Vorbild Jesu immer seine Demut sowie seine Opfer- und Leidensbereitschaft. Es geht darum, dass Jesus seinen Nächsten höher geachtet hat als sich selbst.
Paulus kannte die Heilige Schrift und erkannte den Weg Jesu. Er verband diese Erkenntnisse mit seiner Lebenserfahrung. Das ist Weisheit, über die Dave Yazitz in seinen Predigten zu den Sprüchen gesprochen hat.
Paulus wusste, dass Gottes Führung nicht nur über die Höhen eines glücklichen Lebens führt. Gottes Wege können auch durch das Tal des Todesschattens gehen (Psalm 23,4: „Ob ich schon wanderte im Tal des Todesschattens“).
Hartmut Schmidt hat uns ausgelegt, dass Gottes Führung auch in den Katastrophen eines Lebens und eines Volkes nicht endet. Tobias Schückert hat anhand der Klagelieder deutlich gemacht, dass es nicht aus ist mit uns, weil Gott auch durch Katastrophen hindurch weitermacht und weiterführt.
Manchmal geschieht Gottes Führung mit „gebundenen Händen“, wie am Ende des Lebens von Petrus, der von Gott ins Martyrium geführt wird. Johannes Lügle hat uns dies ausgelegt.
Ich möchte mit einem berühmten Zitat von Dietrich Bonhoeffer schließen. Ich habe bereits einmal daraus zitiert, und für mich ist es wirklich eine theologische Wegmarkierung. Wenn wir das verstanden haben, dann haben wir die Hälfte unseres Theologiestudiums bewältigt. Doch es braucht Jahre, vielleicht ein ganzes Leben, um zu begreifen, was Bonhoeffer in seinem Buch vom gemeinsamen Leben schreibt.
Er beschreibt die fortlaufende Lesung biblischer Bücher und fordert jeden, der hören will, auf, sich dorthin zu begeben und sich dort finden zu lassen, wo Gott zum Heil der Menschen ein für allemal gehandelt hat. Wir werden Teil dessen, was einst zu unserem Heil geschah.
Wir ziehen mit durch das Rote Meer, durch die Wüste, über den Jordan ins gelobte Land. Wir fallen mit Israel in Zweifel und Unglauben und erfahren durch Strafe und Buße erneut Gottes Hilfe und Treue. All das ist keine Träumerei, sondern heilige göttliche Wirklichkeit.
Wir werden aus unserer eigenen Existenz herausgerissen und mitten hineinversetzt in die heilige Geschichte Gottes auf Erden. Dort hat Gott an uns gehandelt, und dort handelt er noch heute an uns – an unseren Nöten und unseren Sünden, durch Zorn und Gnade.
Es geht nicht darum, dass Gott Zuschauer und Teilnehmer unseres heutigen Lebens ist, sondern dass wir, die andächtigen Zuhörer und Teilnehmer an Gottes Handeln in der heiligen Geschichte, an der Geschichte des Christus auf Erden, dabei sind. Nur sofern wir dort dabei sind, ist Gott auch heute bei uns.
Hier tritt eine völlige Umkehrung ein: Nicht in unserem Leben muss sich Gottes Hilfe und Gegenwart erst noch erweisen, sondern im Leben Jesu Christi hat sich Gottes Gegenwart und Hilfe für uns erwiesen.
Für uns ist es tatsächlich wichtiger zu wissen, was Gott an Israel und was er an seinem Sohn Jesus Christus getan hat, als zu erforschen, was Gott heute mit mir vorhat.
Ich bin mir nicht sicher, ob wir alle schon verstanden haben, was Dietrich Bonhoeffer uns hier mitteilen will.
Was bedeutet das für die Frage nach dem Führen Gottes?
Gott spricht in aller Regel nicht so in mein Leben hinein, dass mir sein Geist an jeder Wegehälfte des Lebens wie bei einem Navigationsgerät im Auto eine Ansage macht: rechts abbiegen, links abbiegen, rechts abbiegen, links abbiegen, links abbiegen, links abbiegen, links abbiegen, links abbiegen, links abbiegen, links abbiegen, links abbiegen, links abbiegen, links abbiegen, links abbiegen, links abbiegen, links abbiegen, am Kreisverkehr die dritte Ausfahrt nehmen und so weiter.
Stattdessen lädt Gott mich ein, in seine Geschichte einzutreten. Ich soll mit meinem Volk aus Ägypten ausziehen, mit meinem Volk durch die Wüste ziehen, mit König David in den Krieg gehen. Dann wandere ich mit Jesus und seinen Jüngern über die Höhen Galiläas und ziehe mit ihm hinauf nach Jerusalem. Schließlich gehe ich mit Paulus auf Missionsreise.
Indem wir in die biblische Geschichte eintreten – und dazu sollten wir sie kennen und lesen – erfahre ich die Führung Gottes, erfahre ich das Leiten des Heiligen Geistes. Das ist zugegebenermaßen deutlich unpraktischer als die Vorstellung einer Navi-Ansage des Heiligen Geistes.
Aber es gibt nichts Tröstlicheres, nichts Kräftigeres und nichts Hoffnungsvolleres, als zu begreifen, dass ich mit meinem Leben eingebunden bin in Gottes große Geschichte. Nichts Tröstlicheres, nichts Kräftigeres und nichts Hoffnungsvolleres: Ich bin Teil seiner Geschichte.
Deshalb ist es in der Tat wichtiger für uns zu wissen, was Gott an Israel und was er an seinem Sohn Jesus Christus tat, als zu erforschen, was Gott mit mir heute vorhat. Amen.