Und hilf ihm aus der Sündennot. Er erträgt für ihn den bitteren Tod und lässt ihn mit ihr leben. So hat Gott zu seinem Sohn gesagt. Besonders schön ist jetzt zu sehen, wie gehorsam der Sohn dem Vater war.
Er kam zu mir auf Erden von einer Jungfrau, rein und zart. Er soll mein Bruder werden. Hurra, so ist die Jungfrau und Geburt einzuschätzen – nicht, dass Jesus irgendetwas anderes gewesen wäre. Besonders war er heilig, weil er der Sohn der Jungfrau war, auf wunderbare Weise geboren ist und die Tiefe des Abstiegs zu uns gegangen ist. Er hatte eine Mutter wie wir. So wurde in der Reformation die Jungfrauengeburt verstanden.
Er ist Mensch geworden und hat menschliche Gestalt angenommen. Bei den Liedern Luthers ist fast zu viel Theologie drin, sodass man sie als Loblied singen kann. „Freut euch, liebe Christengemeinden, und lasst uns fröhlich springen!“ Man könnte über jede einzelne Strophe eine Bibelstunde halten.
Aber jetzt war ja Ihre Frage, die mich sehr beschäftigt hat: Was ist eigentlich in der Reformation geschehen? Und ich habe nur eine Bitte: dass Sie mich unterbrechen, liebe Bibelschüler und Gäste. Wir sollten überhaupt nichts mehr sehen – was war da eigentlich los?
Wenn wir auf einen Stoff stoßen, der so komprimiert ist, dass man zurückfragen muss, sollten wir uns nicht verlieren. Lieber bleiben wir dran, auch wenn wir im Stoff nicht sofort fertig werden.
In Waiblingen, falls Sie wissen, wo Waiblingen liegt – aber Archivistinnen kommen ja nicht aus Württemberg und können daher gar nicht wissen, wo Waiblingen liegt – das ist eine kleine freie Reichsstadt vor den Toren von Stuttgart, im Remstal gelegen.
Ich komme schon wieder auf den Begriff zurück: Was ist eine freie Reichsstadt? Das waren Städte im Mittelalter, die sagten: „Wir wollen mit dem Fürsten hier, mit Eberhard im Bad in Württemberg, nichts zu tun haben. Wir wollen direkt abhängig sein vom Kaiser.“ Der Kaiser war nun mal unsere Obrigkeit, aber wir sind frei von den kleinen Fürstentümern um uns herum. Wir sind etwas Besonderes.
Waiblingen war ein kleines Städtchen mit einer stolzen Tradition. Reutlingen war ein Ministädtchen, aber es stellte sich als freie Reichsstadt dar, nur damit es nicht unter den württembergischen Herzögen steht, sondern selbständig bleibt. So gab es bis hin nach Popfingen in Württemberg eine Vielzahl freier Reichsstädte, große und kleine, wie beispielsweise Heilbronn.
In Waiblingen begann die Reformation in dieser freien Reichsstadt so, dass plötzlich in der Michaelskirche, der ältesten Kirche der Stadt, während des katholischen Messgottesdienstes die Menge zu singen begann. Es war das Lied „Es ist das Heil und Kommen her“ von Paul Speratus, einem frühen Reformator. Er war wegen seines Glaubens inhaftiert und hatte dieses Lied im Kerker in Olmütz gedichtet. Schlagen Sie es einmal auf, 242.
Das Lied „Es ist das Heil und Kommen her von Gnad und lauter Güte“ sangen sie bis zu Vers elf oder zwölf. Im Grunde genommen ist das Lied in Verse gefasst, ähnlich wie das „Vater unser“. Es gab also nicht nur in unserer Zeit das „Vater unser, der du bist im Himmel“, sondern auch „Sei Lob und Ehr dem, der den Tod zerreißt, Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist. Sein Reich komme, sein Wille geschehe auf Erden wie im Himmelsthrone.“
Sie sangen die zwölf Strophen und dann wollte der Priester mit seiner Eucharistiefeier, mit seiner Mahlfeier weitermachen. Doch da begannen sie wieder mit Vers 1. Sie sangen dem Priester einfach Lieder vor und hielten etwa zweieinhalb Stunden lang ununterbrochen dieses Lied.
Es ist das Heil und das Kommen her aus Gnade und lauter Güte. Die Werke helfen nicht mehr, die Werke, damit wir bei Gott sagen könnten: „Ich habe doch anständig gelebt.“ Sie können nicht bewahren. Der Glaube sieht auf Jesus Christus, der alles für uns getan hat. Er ist der Mittler.
Das ist die ganze reformatorische Botschaft: Wir werden vor Gott nicht gerecht, weil wir sagen, wir waren anständig, haben keinen Bankeinbruch begangen, niemanden getötet oder unseren Kindern ein Sparkonto hinterlassen, sodass große Erbschaften frei wurden. Die Werke helfen nicht mehr, sie können nicht bewahren. Der Glaube sieht auf Jesus. Das ist der Glaube: das Aufsehen auf Jesus, der für uns alles getan hat. Er ist der Mittler.
So hat man es in Waiblingen gesungen. Man sagte, es sei der Sturmgesang der Reformation gewesen. Der Grundcharakter, das Wesen der Reformation, war eine Neuentdeckung dessen, was wir an Jesus haben. War es wieder eine Gottesstunde, wie es am Anfang des Markus-Evangeliums heißt: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist ganz nahe gekommen; tut Buße!“ Die erste These von Martin Luther bei seinem Thesenanschlag war ja, dass unser ganzes Leben Buße sein soll. Nicht bloß mit ein bisschen Ablassfeierlichkeit.
Die Zeit ist herbeigekommen, das Reich Gottes ist nahe, tut Buße und jauchzt dem Evangelium! War das die Reformation, dass das ganz neu entdeckt wurde, dass es eine neue Gottesstunde war? So etwa wie damals, als Jesus aufgetreten ist? Oder war es einfach eine religiöse Panne, wie es heute noch in der katholischen Kirche dargestellt wird? Es wäre überhaupt nicht nötig gewesen, wenn da nicht ein paar schlechte Päpste gewesen wären. Und Luther, der war doch nicht ganz dicht. Vielleicht hatte er sogar schizophrene Züge, war schwer depressiv.
Man muss mal die katholischen Luther-Darstellungen lesen, in denen an Luther gekratzt wird, als sei da nichts Echtes. Und wenn die katholische Kirche der Zeit damals, wenn Tetzel nicht mit seinem Ablasswesen gewesen wäre, wäre alles ganz gut weitergegangen. Damals gab es zwar ein paar Pannen.
Seit der Reformation haben wir das Verrückte, dass jeweils, wenn ein katholisches Lutherbuch erscheint, die evangelische Seite dagegenhält.
Als ich mein Studium in Tübingen begann, hielt Professor Rückert eine Vorlesung, die von geheimen Anspielungen geprägt war. Ich habe mich oft gefragt: Was ist hier eigentlich los? Warum regt er sich so auf? Man könnte das doch klar darstellen. Gerade war wieder ein katholisches Buch erschienen – und dagegen gab es keinen Widerstand. Oder denken wir an das Ende des 19. Jahrhunderts, als die katholische Zentrumspartei, eine bündige Partei der Katholiken im Deutschen Reichstag, die stärkste Partei war – sogar stärker als die Sozialdemokraten.
Damals bekam der Reichskanzler Bismarck plötzlich Angst. Man begann eine Gegenbewegung in Deutschland, weil die Katholiken zu stark wurden. In dieser Zeit stellte man fast vor jeder Kirche eine Lutherstatue auf: Luther mit der Bibel in der Hand, die Faust auf der Bibel, mit den Worten „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“. Das war eine Gegenbewegung, die aus Angst vor einem erstarkenden Katholizismus entstand.
So war es auch in der Nachkriegszeit. Das muss ich Ihnen als jungen Leuten erzählen: Plötzlich bemerkten wir, dass die eigentlich evangelischen Länder – Sachsen, Thüringen, Württemberg, Baden – nominell zu vier Fünfteln evangelisch waren. Doch Achtung, liebe Zuhörer: Herr Adenauer war schwarz-katholisch. In seinem Kabinett waren drei Viertel Katholiken, und die CDU war dort stark katholisch geprägt. Plötzlich rappelten sich die Evangelischen auf, hielten Reformationsvorträge und sangen wieder „Eine feste Burg ist unser Gott“ – aus lauter Angst vor dem Katholizismus.
Man muss sich klarmachen, dass das deutsche Wesen ohnehin sehr rechthaberisch ist. Es gibt keine Nation auf der Welt, die so rechthaberisch, kämpferisch und oberlehrerhaft ist wie die Deutschen. Sie sagen immer: „Nein, es ist doch ein bisschen anders.“ Dieses deutsche Wesen wollen wir ins Konzert der Weltchristenheit einbringen, auch international. Doch dadurch sind wir nicht besonders beliebt.
Dieses Wesen – rechthaberisch und eigentlich auch ängstlich – lassen wir uns nicht nehmen. Sobald etwas erscheint, das uns nicht passt, muss sofort ein Artikel dagegen veröffentlicht werden, ein Leserbrief folgen. Das hat dazu geführt, dass es bis heute ein Hickhack zwischen Evangelischen und Katholiken gibt. Wir wissen eigentlich gar nicht richtig objektiv, was in der Reformation geschehen ist. Was war das eigentlich? War es eine Gottesstunde, ein Heilkommen aus Gnade und lauter Güte? Oder war Martin Luther ein bisschen verrückt? War es einfach nur Zeitgeschehen, das leicht erklärbar ist?
Falls ich Sie jetzt mit diesen Einwänden überfordere, lassen Sie es einfach geschehen. Sie hören es einmal und können es später vielleicht besser einordnen. Wir müssen nun einige dieser Einwände näher betrachten und stoßen dabei auf ganz interessante historische Gegebenheiten.
Ich bin nach wie vor überzeugt, dass die Reformation für Deutschland eine ganz besondere Gottesstunde war. Alles, was seitdem an Erweckungen kam, auch im Pietismus, hat im Grunde genommen Bezug auf die Reformation genommen. Die Reformation war nichts anderes als die Entdeckung des Evangeliums, eine Rückbesinnung darauf, was das Evangelium ist. Sie hat uns nur neu bewusst gemacht, was wir an Jesus und seiner guten Botschaft haben.
Also, der erste Einwand gegen die Reformation als besondere Gottesstunde lautet: War die Reformation wirklich eine besondere Gottesstunde? Einwand eins: Es ging doch gar nicht um Glauben und Religion, sondern nur um Machtpolitik.
Hierzu muss ich Ihnen zwei Dinge erzählen, die Ihnen helfen, ein besseres Verständnis für den Charakter des mittelalterlichen deutschen Staates zu bekommen. Sie hatten damals einen Flickenteppich aus weltlichen Herrschaften, freien Reichsstädten und angegliederten Fürstentümern.
Die Fürsten, besonders die sieben größten Kurfürsten – zum Beispiel die Kurfürsten von Sachsen und vom Rhein – hatten die entscheidende Stimme bei der Wahl des Kaisers. Gleichzeitig hatten die Fürsten das Anliegen, dass der Kaiser, den sie gewählt hatten, nicht zu viel Macht bekommt. Das ist bis heute so geblieben.
Die Bundesrepublik Deutschland ist ein föderalistischer Staat. Und unser Ministerpräsident hat klargemacht: Bonn kann beschließen, was es will – aber im Bundesrat, der die Vertretung der Länder ist, wird das scheitern. Denn alle Gesetze, die im Bundestag beschlossen werden, müssen im Bundesrat ratifiziert werden. Dort hat die CDU die Mehrheit, und so lassen sie viele Gesetze nicht durch.
Bis heute haben die einzelnen Länder ein enormes Gewicht. Das geht zurück bis ins frühe Mittelalter. Man wollte in Deutschland keine Zentralgewalt aufkommen lassen. Für einen Engländer ist das völlig unverständlich, für einen Norweger auch. Um das deutsche Wesen zu verstehen, muss man diesen Flickenteppich sehen.
Wenn wir in der Synode beschlossen hatten, eine neue Agende einzuführen, zum Beispiel wie man eine Beerdigung hält – dass der Pfarrer vor dem Sarg geht, das Gebet spricht und dann die Versenkung folgt – dann war das einheitlich, damit nicht jeder macht, was er will. Doch die Pfarrer sagten: „Das ist ja ein schönes Buch geworden, aber ich mache es nur so.“ Keiner richtete sich nach etwas Allgemeinem, und mit gewissem Stolz sagten sie: „Ich mache es dann besser.“
Ich erinnere mich noch, als wir im Pfarrseminar waren, als junge Vikare. Der damalige Kirchenrat gab uns Hilfen, wie eine Stunde aufgebaut sein kann. Doch keiner von uns zwanzig Vikaren machte es so, wie er vorgeschlagen hatte. Dann fragte er: „Warum übernimmt ihr das nicht?“ Wir wollten etwas Eigenes machen. Das ist das deutsche Wesen.
Die Kurfürsten sagten: Wir wollen nicht, dass der Kaiser zu mächtig wird. Wir haben ja eine Nationalhymne, wissen Sie, von Hüge, Gemeckl und östlichen Nationalhymnen. Wir müssen fast aufstehen und singen, mitreißend und mit schönen Reden. Horst Döbel könnte es mitunter singen:
Vier Länder, Wert und Zahl,
saßen einst viele deutsche Fürsten zu Worms im Kaiserzahl.
Silberhängende Seilekerle,
sie verschönern seine Berge, Bärschen,
dank der Schüsse von Sachsen.
Und der Rheinfürst sagt:
„Seht mein Land in bücker Fülle“,
sprach der Kurfürst vom Rhein,
„goldene Saaten in den Tälern,
goldene Saaten in den Tälern,
auf den Bergen edler Wein.“
„Edler Wein“, Ludwig von Bayern sagt:
„Große Städte, reiche Klöster“,
so rühmen sie ihre Länder,
bis Eberhard von Württemberg sagt:
„Mein Land hat kleine Städte, trägt keine Berge aus Silber,
doch ein Kleinod hält es verborgen,
dass ich in Wäldern noch so groß mein Haupt kühnlich legen kann.“
Jedem Unterteil im Schoß sprach der Herr von Sachsen, der Herr von Bayern, der Herr vom Rhein, Graf im Bad: „Ihr seid die Reichsten.“
Württemberg hatte damals nicht viel zu bieten, nur kleine Städte wie Zabelstein mit achtzig Einwohnern. Doch die Treue der Württemberger war groß. Die anderen hatten größere Städte und Weinberge. Dieses Lied macht deutlich, wie die Macht der Fürsten bei Kaiser Karl V. verteilt war.
Die Fürsten warfen im Augenblick der Reformation die Lunte. Das ist eine historische Stunde, in der wir dem Kaiser Karl V. aufs Dach geben können. Karl V. Habsburg, von dem man sagte, in seinem Reich geht nie die Sonne unter, weil auch die Besitzungen in Lateinamerika ihm gehörten. Wenn dort die Sonne scheint, ist bei ihm Nacht, und umgekehrt – die Sonne geht nie unter.
Karl V. war ein körperlich schwacher Mann, der aber ein riesiges Imperium hatte. Die deutschen Fürsten sagten: Wir wollen dem Kaiser zeigen, dass seine Macht in Deutschland begrenzt ist.
Auf dem Reichstag zu Worms musste Luther vorreiten. Der Kaiser wollte hören, was dieser Mönch Martin Luther vertrat. Gab es eine Rebellion? Sollte man sie im Keim ersticken? Nach dem Verhör sprach der Kaiser die Reichsacht über Luther aus. Das bedeutete, Luther war vogelfrei – jeder, der ihn fand, durfte ihn ermorden, ohne Strafe zu befürchten.
Im gleichen Moment sagten die Fürsten: Aha, da ist offenbar etwas dran an Martin Luther. Wenn der Kaiser ihn mit der schärfsten Waffe verfolgt, dann stellen wir uns auf Luthers Seite, um dem Kaiser ein Stück Macht zu entreißen. Das ist doch reine Machtpolitik.
Friedrich der Weise von Thüringen sagte zu seinen Leuten: „Schnappt Luther, setzt ihn auf die Wartburg, damit er ein paar Monate versteckt ist.“ Die deutschen Fürsten haben sich mehrheitlich auf Luthers Seite geschlagen.
Die freien Reichsstädte waren die ersten, die die Reformation einführten: Nürnberg, Weißenburg und Reutlingen. Also ging es doch nicht um religiöse Glaubensfragen, sondern um Machtpolitik. Luther wurde benutzt, um dem Kaiser Macht zu entziehen – so lautet der Einwand vieler Historiker bis heute.
Es ist merkwürdig still geworden bei den Reformationsfeiern. In meiner Jugend gab es noch Vorträge über Luther, seine Theologie und wie er mit wuchtigen Schlägen an der Kirchentür in Wittenberg seine Thesen anschlug. Das hört man heute nicht mehr.
Die evangelische Seite ist verschüchtert, weil sie sagen: Das stimmt ja auch, Luther hat die Thesen nicht mit Hammerschlägen angebracht. Es war eine Einladung zur Diskussion. Wahrscheinlich hat er sie gar nicht an der Schlosskirche von Wittenberg angeschlagen, und schon gar nicht am 31. Oktober, sondern am Allerheiligentag.
Die evangelische Seite ist unsicher geworden wegen dieses Einwands, dass es ja nur eine politische Machtfrage war. Darf ich das noch sagen, oder haben Sie Fragen?
Man kann viel dagegen sagen, aber es gab damals im Mittelalter eine große geistige Verunsicherung – auch durch die Entdeckung Amerikas. Man merkte, eine alte Zeit geht zu Ende, etwas Neues beginnt. Es gab revolutionäre Kräfte.
Wir haben das etwa bei der 68er-Revolution erlebt, wenn ein ganzes Weltbild zusammenbricht. Zwar hielt sich die 68er-Revolution mit ihren Anliegen und der RAF nicht, aber es gibt solche revolutionären Zeiten.
So war es im Mittelalter eine Zeit des Umbruchs, in der man sich nach neuen geistigen und religiösen Grundlagen sehnte. Da kam Luther, und viele sagten: Das ist es.
So wie man sich heute auf manche Philosophien stürzt – vor 20 Jahren war es der Wirtschaftswissenschaftler Keynes. Im Moment gibt es nicht viele Philosophien, aber früher gab es Rousseau in der Französischen Revolution.
In Umbruchzeiten stürzt man sich auf Menschen, die eine neue Idee und eine neue Gesamtschau bieten. Nach dem Ersten Weltkrieg war es Oswald Spengler mit „Der Untergang des Abendlandes“. Luther war ein Fanal, der etwas Neues und Begeisterndes brachte.
Das merkt man an den Weißenburgern aus der Schailung. Sie hätten das Lied nicht gesungen, wenn es keine Botschaft gegeben hätte, für die man sich begeistern konnte.
Aber der Einwand, dass es nur Machtpolitik war, wird oft zu hoch gespielt. Frau Zahn hat uns daran erinnert, dass es nicht gegangen wäre, wenn nicht etwas Besonderes an Martin Luther gewesen wäre.
Ich muss den Einwand aber auch unterstützen: Neben den Fürsten gab es damals eine aufkommende Macht – und das waren die Städte.
Zusammen mit Weidlingen hatte ich bereits die freien Reichsstädte erwähnt, die sich auch von der Herrschaft des Kaisers abgesondert hatten, darunter auch Reutlingen. Diese Städte wollten also direkt mit dem Kaiser zu tun haben. In schwierigen Justizfällen wandten sie sich jedoch sofort an das kaiserliche Obergericht.
Wie stark die Macht der Städte war, sieht man besonders in Oberitalien. Dort gab es keine Zentralmacht, kein Herzogtum oder Ähnliches. Es gab das Gebiet um Florenz und die reichen Städte wie Genua. Eine Zentralgewalt eines Königs gab es im Mittelalter in Italien nicht.
Auch im Norden Deutschlands war die Situation ähnlich. Wer gerade Herzog von Pommern war, wurde oft vergessen. Die Städte von Lübeck über Wismar, Rostock, Greifswald, Stralsund bis hinauf ins Baltikum, wie etwa Reval, schlossen sich zum Städtebund der Hanse zusammen. Die Hanse-Städte bestimmten Handel und Wandel und waren praktisch die Landesherren.
Am deutlichsten sieht man das an den beeindruckenden Backsteindomen in Wismar und Stralsund. Diese wurden gebaut, obwohl die Bevölkerung der Städte dafür eigentlich zu klein war. Die Kirchen waren fast überdimensioniert und wirkten fast unsinnig, doch sie waren Denkmäler für den Reichtum der Stadt. Man sagte zwar, sie seien zur Ehre Gottes gebaut, doch sie waren auch Ausdruck des städtischen Wohlstands.
Ein Beispiel dafür ist Ulm, wo ich dreimal im Leben Dienst war. Die Ulmer hingen sehr an ihrem Münster, das 1377 begonnen wurde, zu einer Zeit, als das ulmische Geld das wertvollste in ganz Europa war. Zwar wurde das Münster zu Ehren Gottes gebaut, aber auch stark zur Ehre der Ulmer.
Am 17. Dezember 1944 gab es einen verheerenden Fliegerangriff auf Ulm. Die ganze Stadt lag in Schutt und Asche, nur das Münster blieb erhalten. Es wird heute noch in Ulm erzählt, dass die Ulmer aus ihren Luftschutzkellern und zerstörten Häusern krochen und sagten: „Unser eigenes Haus ist kaputt, egal, aber das Münster, unser Münster, Ulm ist das Münster.“ Manche Ulmer sagen sogar, ihr Großvater sei im Münster geboren und getauft worden – und sie selbst auch.
Die Kirchen, wie der Kölner Dom, sind Ausdruck dessen, was die Städte nach außen hin zeigen: Das sind wir. Besonders beeindruckend war das im Herzogtum Württemberg, später Kurfürstentum Württemberg. Diese Städte führten als erste, noch vor den Fürsten und vor den Reichstagen, die Reformation ein.
Nun zurück zu Ulm: Die Stadt hat sich zur Reformation bekannt. Als deutlich wurde, dass diejenigen, die sich zur Reformation bekannten, es mit Kaiser Karl V. zu tun bekamen, bekam dieser etwas Luft von seinen Feinden.
Wissen Sie, wer die Feinde des Kaisers waren? Die Türken, die damals vorrückten. Die Türkengefahr war groß. Man sagte, der Kaiser habe bei der Ermordung seines Bruders gelitten, und die Angst vor dem Türken war tief verwurzelt. Der Kaiser hatte es mit dem Islam nicht leicht, denn die Türken hatten bereits versucht, Europa zu überwinden.
Karl V. versuchte alles, um dem entgegenzuwirken. Damals wurden die Siebenbürgen angesiedelt, deutsche Siedler ins Banat und in die Slowakei geholt, um Bollwerke gegen den Islam zu bilden. Im Mittelmeer gab es zudem viele Seeräuber, die als Reaktion auf die reichen Städte auftraten. Gegen diese Seeräuber musste Karl V. ebenfalls kämpfen.
So war er mit der Abwehr der Türken und Seeräuber beschäftigt. Erst um 1530/1531 bekam er etwas mehr Luft und erklärte in Worms, dass Luther in Reichsacht sei. Wer die Luthersache unterstützte, lag damit im Konflikt mit ihm.
Die Ulmer führten daraufhin eine demokratische Abstimmung durch, bei der die einzelnen Berufsgruppen – Bäcker, Metzger, Tuchhändler, Weber und andere – gefragt wurden: Wollt ihr lieber Gottes Gnade und des Kaisers Ungnade oder des Kaisers Gnade und Gottes Ungnade?
Dass es um Gottes Gnade geht, ist eine typische reformatorische Erkenntnis. Es geht um die Gnadenbotschaft Gottes. Die Frage war also, ob man diese verschweigen und lieber mit dem Kaiser gutstehen wolle oder um der Wahrheit willen die evangelische Predigt halten und damit riskieren wolle, dass der Kaiser gegen das schöne Ulm und das Ulmer Münster vorgeht.
Die Abstimmung ergab, dass 87 Prozent lieber Gottes Gnade und des Kaisers Ungnade wollten. Die Bäcker stimmten fast einstimmig für Gottes Gnade, die Metzger am wenigsten mit 42 Prozent. Bis heute gibt es nicht viel mehr christliche Bäcker als christliche Metzger.
Diese demokratische Entscheidung bestimmte, dass die Stadt evangelisch wurde und evangelische Predigt eingeführt wurde. Was in den freien Reichsstädten geschah, war also von großer Bedeutung.
Jetzt sind wir schließlich nach 45 Minuten beim ersten Einwand angekommen. Es handelt sich um eine rein politische Angelegenheit. Ich würde sagen, wir müssen das zur Kenntnis nehmen, da sehr viel Politisches mitgespielt hat. Aber es ist, wie Frau Zahn uns daran erinnert hat, historisch wahnsinnig zu glauben, dass nur Machtpolitik etwas Geistliches klären kann.
Haben Sie noch Kraft, oder singen wir einen Vers dazwischen? Sonst würde ich vorschlagen, dass wir gerade von dem 242. Lied, es ist „Das Heil und das Kommen her“, eine Strophe singen. Oder machen wir eine Pause dazwischen, oder geht es in einem Zug durch?
Ja, 242, die erste Strophe, von Paul Speratus. Im Choralbuch auf Seite 71. Viele dieser Melodien wurden auch in der Reformationszeit aus der weltlichen Musik übernommen. Wenn wir heute rhythmische Melodien haben, müssen wir daran denken, dass diese frühe Musik auch einfach wandelbar war. Sie konnte Freude ausdrücken, aber auch in allem Leide Trost spenden.
„O du süßer Jesus“ ist eine Tanzmelodie, und hier ist es „Das Heil und das Kommen her“ – eine ganz bewegte Manier-Melodie, die in höfischen Kreisen gespielt wurde. Die Melodie wurde übernommen, und nach der Melodie hat man dann das Lied komponiert, das eine typische Erscheinung der Reformationszeit ist.
In der katholischen Kirche des Mittelalters hat man außer Kyrie und Gloria nicht gesungen. Der Choral ist typisch evangelisch, und wir müssen aufpassen, dass wir ihn in unserer Zeit nicht innerhalb von zwanzig Jahren ganz verlieren. Er hat 450 Jahre Deutschland geprägt.
Aber jetzt singen wir die erste Strophe von 242. Vielen Dank!
Zweiter Einwand.
Gut, es war etwas Religiöses, aber das gab es doch schon lange vor Luther. Es war nichts völlig Neues, und es war auch etwas Wahres daran.
Der Eberhard im Bad Württemberg, geliebter Herr, sprach: Mein Land hat kleine Städte. Er gründete die Universität Tübingen und war ein begabter Herrscher. Schon 100 Jahre vor der Reformation, sogar um 1450, ließ er in Württemberg riesengroße Kirchen bauen: die Stiftskirchen in Tübingen, die Stadtkirchen in Schöndorf, die Alexanderkirchen in Marbach – lauter Kirchen, die viel mehr Menschen sammelten, als damals überhaupt in diesen Städten wohnten.
Es gab die Erwartung einer Erweckung. Es konnte doch nicht so weitergehen mit dem Tod unserer Kirche. Aber es gab die katholische Kirche, und es musste doch etwas Neues kommen. Da Neues durch Menschen kommt, holte er aus den Niederlanden die Brüder vom gemeinsamen Leben, einen neuen Orden. Dieser Orden bestand aus sehr vielen Laien, nicht nur aus Theologen und Klerikern. Sie leisteten auch viel Sozialarbeit und hatten einen besonderen Stil der Verkündigung. Es war nicht nur Predigt, sondern man kann heute am ehesten sagen, es war eine gemeinschaftliche Unterredung von Brüdern mit viel Zuhören.
Ein neuer Geist kam nach Württemberg. Die Brüder wurden überall in Urach, Stuttgart, Böblingen angesiedelt. Oft findet man noch heute Ortsbezeichnungen wie Brüterhof. Einsiedel bei Tübingen war ein Zentralkloster. Die Universität Tübingen wurde mit Professoren von den Brüdern vom gemeinsamen Leben ausgestattet. Das weibliche Pendant dazu waren die Beginen – ein dritter Laienorden mit viel Sozialarbeit. Auch heute findet man in vielen Städten noch Beginenhöfe oder Beginenplätze. Sie waren die Jesus People der damaligen Zeit.
Es gab eine Erweckung in Holland, aber auch Widerstand aus Köln. Eberhard Barth sagte, die Brüder müssten nach Rückenberg, um Impulse zu setzen. Er richtete in Urach eine Druckerei ein. Das war damals völlig unklar, aber er wollte etwas zur geistigen und geistlichen Belebung tun.
Er nahm Kontakte mit Bursfelde auf, das an der unteren Weser liegt. Bursfelde war ein damals bedeutendes Reformkloster, heute fast vergessen. Es war eine Reformzentrale, von der Impulse ausgingen. Von dort aus breitete sich die Bewegung bis nach Hüttenberg aus. Nichts war umsonst, auch wenn vieles kaum sichtbar blieb.
Ab 1536 konnte die Reformation in Württemberg einströmen. Plötzlich waren die Kirchen der Alexanderkirche in Marbach, der Stadtkirche in Schörndorf und der Universitätskirche in Tübingen voll von Menschen. Es gab vorreformatorische Strömungen mit großer Sehnsucht nach Veränderung.
Man kann all die Vorreformatoren nennen: Wyclif in England, den tschechischen Vorreformator Hus, der 1418 in Konstanz als Ketzer verbrannt wurde, Savonarola, der Mönch in Italien, der gegen den Reichtum des Papsttums predigte, und Franz von Assisi. Es gab viele vorreformatorische Bewegungen. Deshalb sagen manche heute, Luther sei nichts Besonderes gewesen, das habe es doch alles schon vorher gegeben.
Wichtig ist, dass es vorreformatorische Strömungen gab. Doch der wirkliche Durchbruch kam erst durch den fast bäuerlich aussehenden, dicken, feisten Mönch Martin Luther – ohne Unterstützung von Mächten, an dem Gott Glauben wirkte. Ich sehe an ihm, der lebenslang unter Nierenkoliken litt und schwermütig war, wie Gott etwas bewirkte.
Plötzlich kam wie ein Sturzbach die reformatorische Erweckung. Es gab vorreformatorische Strömungen und eine Sehnsucht nach geistigem Leben. Aber Gott wirkte das Entscheidende durch Martin Luther. Was durch Calvin, Zwingli und andere Mitreformatoren wie Melanchthon geschah, war zwar auch wichtig, aber nicht zu vergleichen mit dem, was Gott durch Luther bewirkte.
Es war eine Gottesstunde. Die Zeit war gekommen, das Reich Gottes war nahe. „Tut Buße, glaubt dem Evangelium!“
Noch einmal: Ich sage es wie ein Sturzbach. Der verehrte Lehrer der Eidlinger Schwesterschaft, Doktor Hans Brandenburg, hat uns immer gesagt: Betet nicht zu sehr für eine Erweckung Deutschlands. Als wir große Hoffnungen hatten, sagte er, eine Erweckung sei wie ein Sturzbach. Im ersten Augenblick bringt er eine große Wassermenge, die auch zerstörerisch sein kann. Wenn der Sturzbach vorbei ist, bleiben nur Geröll und alte Äste zurück, und man hat viel Schlamm. Es folgt eine lange Zeit der Aufräumarbeit.
Das stille, sanfte Quellwasser sei wichtiger als der Sturzbach. So war es auch bei der Reformation: Es gab eine stürmische Begeisterung, doch danach musste Luther selbst im eigenen Leib erleben, wie viel Aufräumarbeit nötig war – gegen Schwärmer und die Folgen der Reformation.
Es gab vorreformatorische Strömungen, aber Gott wirkte durch Martin Luther das Entscheidende. Jetzt wird es höchste Zeit, zu fragen, was von der Reformation geblieben ist.
Als der Staubhitz zu seinem Beichtvater sagte, er solle doch das Neue Testament lesen, kam er auf den Römerbrief, Kapitel eins. Falls Sie gerade eine Bibel zur Hand haben, schlagen Sie einmal Römer 1 auf. Wir müssen nicht so vorgehen, wie er es gesagt hat, indem ich unten im Grundgesetz um den armen Römer herumrücke. Ja, Römer 1,16 und 17.
Luther liest den Römerbrief: „Ich schäme mich des Evangeliums, der guten Botschaft von Jesus Christus nicht, denn es ist eine Kraft Gottes, eine Dynamis, eine Dynamitkraft, die selig macht, die rettet, alle, die daran glauben. Denn in ihm wird geoffenbart die Gerechtigkeit.“ Luther hat später übersetzt: „die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt.“
An dieser Stelle hat Gott ihm eine Erleuchtung geschenkt. Er hatte natürlich in der lateinischen Bibel gelesen, wo es heißt: „in ihm wird geoffenbart die Justitia Dei.“ Justitia heißt Gerechtigkeit, so wie die Göttin der Gerechtigkeit, Deus bedeutet Gott, also die Gerechtigkeit Gottes.
Luther rebellierte gegen den Begriff „Gerechtigkeit Gottes“. Wo ist denn die Gerechtigkeit Gottes? Die Reichen werden immer reicher und die Armen immer ärmer, die Frommen werden krank – wo ist da die Gerechtigkeit Gottes? Ich habe Angst vor einem gerechten Gott, der mich einmal bestrafen wird, vor dessen Feueraugen ich stehen muss. Ich bemühe mich als Mönch, deshalb bin ich ins Kloster gegangen, damit ich vor Gott gerecht bin.
Jetzt merke ich immer mehr, wie viel in meinem Leben nicht gestimmt hat und vielleicht falsch war. Als ich von meinen Eltern weggegangen bin, hätte ich meine Eltern lieber unterstützen sollen, statt ins Kloster zu gehen. Die Gewissensbisse und die Angst vor der Gerechtigkeit Gottes quälten mich.
Plötzlich kam die kenterevatorische Entdeckung, die auch eine grammatikalische Entdeckung war. Ist Ihnen klar geworden, dass heilige Stunden, wenn Ihnen plötzlich Dinge von Gott klargemacht werden, dass dieser Genitiv, diese Wessenform – die Gerechtigkeit des Gottes – ja zwei Bedeutungen haben kann? Es heißt nicht nur die Gerechtigkeit des Gottes, der da sitzt auf seinem Thron und sagt, ob du vor mir bestehen kannst oder nicht.
Sondern die Gerechtigkeit kann auch die sein, die Gott in mir schaffen will, die er mir schenken will. Ich will ein ganz einfaches Beispiel nehmen: die Frisur des Friseurs. Das kann einmal die Frisur des eigenen Haares sein, aber es kann auch die Frisur sein, die der Friseur mir verpassen will.
So hat Luther entdeckt: Das ist ja die Gerechtigkeit, die Gott mir verpassen will. Das heißt nicht nur die Gerechtigkeit, die Gott hat, mit der er mich auf dem Korn hat und fertig machen will. Luther sagt: „Mir ist der Himmel aufgetan worden.“ Die ganze Bibel spricht doch in den Psalmen und bei den Propheten davon, was Gott tut.
Ich sehe an den Elenden, der sich fürchtet vor meinem Wort, sagt Gott. Psalm 147: „Er sendet sein Wort, er verbindet die Elenden, er hebt die Verstreuten Israels auf.“ Das, was Gott mir schenken will, darin besteht seine Gerechtigkeit.
Wir Menschen sind ungerecht, weil wir alles, was uns gehört, bei uns behalten wollen. Gottes Gerechtigkeit ist, dass er sich verströmt, dass er hergeben kann, dass er teilhaben lässt.
Also das war die eigentliche reformatorische Entdeckung. Der Römerbrief wurde zum Zentralbrief der Reformation, besonders Vers 16: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht.“ Luther hat sich sozusagen von dieser Mitte der Justitia, dem Begriff der Gerechtigkeit, nach vorne bewegt.
Jetzt ist ja alles da: „Ich schäme mich des Evangeliums von Christus nicht, denn es ist eine Kraft Gottes.“ Wir müssen als Prediger nicht überzeugen, denn das Evangelium hat eine Kraft, die selig macht, die rettet.
Deshalb ist der Kernbegriff der Reformation die Rettung des Menschen, die Rettung vom Vermögen. Das ist ja herrlich: Gott rettet mich, wenn ich jetzt zweifelnd bin, ob ich vor dem heiligen Gott bestehen kann. Gott will retten, und zwar in diesem großen Begriff von Seligkeit.
Nicht bloß aus dem Wasser ziehen und dann noch das Wasser aus dem Anzug tropfen lassen, sondern Gott legt mir neue Kleider um, er wärmt mich, er bildet mich. Deshalb hat Luther oft das Wort „retten“ mit „selig machen“ übersetzt, weil er gemerkt hat, es geht nicht mehr nur darum, mich aus dem Schlamm herauszuziehen, sondern Gott macht mich zu seinem Kind.
Jetzt noch einmal: Man klärt auf, dass Gott Martin Luther eine ganz große Sprachbegabung geschenkt hat. Das wollte er eben beitragen. In Deutschland gab es im Mittelalter im Kriegsunterricht die verschiedensten Sprachen, es gab keine einheitliche Schriftsprache. Die Dialekte, die wir heute noch haben, sind das letzte Überbleibsel. So wie wir heute Schwierigkeiten haben, Plattdeutsch zu verstehen, und die Plattdeutschen es schwer haben, richtig Schwäbisch zu verstehen, war das damals im Mittelalter noch viel ausgeprägter.
Luther hat die sächsische Kanzleisprache einfach bei seiner Bibelübersetzung verwendet. Zuerst hat er auf der Wartburg das Neue Testament übersetzt und lebenslang an der Bibelübersetzung gearbeitet. Damit hat er eine einheitliche deutsche Schriftsprache, das Hochdeutsch, erst geschaffen. Seine Sprache war eine Kunst. Neben allem, was er an der Reformation getan hat, merkt man das immer wieder, wenn man aufmerksam ist bei Bibelübersetzungen.
Mir tut es immer ein bisschen leid, wenn neue Bibelübersetzungen gelobt werden, die sehr stark unserer prosaischen heutigen Sprache angepasst sind. Sie sind gut für Anfänger, die in die Bibel hineingewachsen wollen. Aber wenn man etwa die Abendmahlsworte hört: „Der Jesus in der Nacht, da er verraten ward und mit seinen Jüngern zu Tische saß, nahm er das Brot, sagte Dank, brach’s, gab seinen Jüngern und sprach …“ – das klingt wie ein Orgelton. Wenn man hört: „Das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend“, da hört man schon die Weihnachtsglocken läuten.
Die heutige Lutherbibel ist so exakt übersetzt, dass man gar nicht sagen muss, ob das gut ist. Wir Pfarrer sagen zwar: „Im Griechischen steht hier das Wort Dynamis“, um auch zu beweisen, dass wir bis ins Griechische kommen. Aber mit einer Luther-Übersetzung kommt man sprachlich wunderbar zurecht, sie ist exakt. Ein Problem ist die Sprache: Luther hat das Verb, die Satzaussage, nach vorne gezogen, also etwa „Er verbindet die Verwundeten und holt zusammen die Verstreuten Israels“ (Psalm 147,3-4). Im richtigen Deutsch müsste das heißen: „Er holt die Verstreuten Israels zusammen.“
Deutsch ist bei der Simultanübersetzung fast überhaupt nicht zu übersetzen, weil die Simultanübersetzer immer warten müssen, wann endlich das Verb, die Satzaussage, kommt. Im Englischen ist das Verb nach vorne gezogen: „He came and went there.“ Und wir sagen: „Er ist gekommen und ist dann in die Stadt gegangen“, bis endlich das Verb hinten kommt. Luther ist davon ausgegangen, dass, wenn die Leute das Evangelium hören – sie haben ja nichts zu Hause, keine Bibel, die Bibel war wertvoll –, wenn sie von der Kanzel das verlesene Predigtwort hören, muss das wertvoll sein. Zum Beispiel: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden“, nicht: „Mir ist alle Gewalt im Himmel und auf Erden gegeben.“ Man wartet immer, was mit der Gewalt ist. Das ist jungen Deutschen heute, wenn sie normal in die Schule gehen, widerstrebt uns, was wir von uns gefragt haben. Aber es war eine geniale Entwicklung von Luther, das Werk nach vorne zu ziehen.
Ich möchte nur ein paar Dinge zur Genialität Luthers zeigen, aber jetzt kann ich zu Ende kommen: Es geht um die Rettung. Sie können heute eine Predigt beurteilen, ob es eine evangelische Predigt ist oder nicht, ob dieser Grundton drin ist. Normalerweise sage ich: „Ich bin verloren.“ Nicht: „Ich gehe erst im Jüngsten Gericht verloren“, sondern: „Ich bin verloren.“ Alles, was mein Herz mir sagt, mein Stolz, meine Selbstliebe – ich bin doch durch und durch verloren. Und Jesus zieht mich heraus, will mich nicht im Schmutz lassen. Wo diese Bewegung drin ist, da ist evangelische Predigt. Das ist Evangelium.
„Dachäus, ich will in dein Haus eingehen.“ Kennst du Evangelien? Und er ergriff sie und segnete die Kinder. Das hat Luther begriffen: Es geht um Rettung. Das Evangelium ist eine Kraft, die selig macht, die rettet.
In unserem württembergischen Konfirmationsbuch hieß die Frage: „Warum bleiben wir unserer evangelischen Kirche treu?“ Die Antwort: „Weil uns allein die Heilige Schrift sagt, wie wir gerettet werden. Allein die Heilige Schrift gibt Auskunft über Rettung. Nämlich allein durch die Gnade Jesu Christi, allein durch den Glauben an ihn.“ Kurz gesagt: Es geht um Rettung.
Zweitens: evangelisch ist es, wo es um Jesus Christus geht. Dieser Paul Speratus hat gesagt: „Der Glaube zieht Jesus Christus an.“ Auch hier noch einmal (Klammer auf): Gewöhnen Sie sich an, von Jesus zu reden und nicht von „Jesu“ oder „Jesi“ oder „Ich gehöre Christa“. Das ist eine ganz komische Sache, dass das ein Mönchslatein ist, das noch nicht einmal im Lateinischen richtig stimmt. „Ich glaube an Jesum“ – das ist leider in der Bibelübersetzung durchgekommen. Nein, ich glaube an Jesus. Nur ist beim Genitiv etwas schwierig: „Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus.“ Da muss man „Herrn“ dazu sagen. Der Heiland ist Jesus Christus. Aber es gibt im Englischen nicht, im Französischen nicht, dass der Name unseres Retters Jesus dauernd verunstaltet wird (Klammer zu).
Es geht um Jesus Christus. Christus ist der Titel, der Messias. Jesus ist der Name, den Jesus Matthäus 1,21 bekommen hat: „Du sollst seinen Namen Jesus heißen“, Retter, den Gott für diesen Retter Jesus bestimmt hat. Luther hat uns Jesus Christus wichtig gemacht. Als Lukas Cranach, der große Maler des Mittelalters, Gemälde geschaffen hat, die heute in Weimar zu sehen sind – die Predella des Altars –, sieht man, wie Luther predigt. Unten stehen die ganzen Fürsten und Familien von Wittenberg. Zwischen dem predigenden Luther und der Gemeinde steht riesengroß Jesus, der Gekreuzigte, auch natürlich aufgenommen. Es ist ein Guarderbrief: „Ich habe unter euch Jesus bekannt gemacht als den Gekreuzigten.“
Aber wenn Luther gepredigt hat, ging es ihm um Jesus. Er hat Jesus bekannt gemacht, nicht: Ich oder wir müssen dem Kaiser etwas ums Haupt geben. Verkündigung von Jesus Christus. Sie wachsen jetzt in eine Zeit hinein, in der wir mitten in unserer evangelischen Kirche Christus, Jesus verlieren, mitten in der Christenheit. Und die Leute können schon in manchen Gottesdiensten, wenn es beginnt, Gott wird meistens nicht Gott gesagt, sondern „Gott,“ und dann kommt ein Komma: „den Himmel hast du geschaffen“, damit man ja nicht sagen muss „Gott welcher“ oder so etwas, damit es auch ein weiblicher Gott sein kann.
Vor wenigen Tagen riefen wir jemanden an. Ich war in München in der Matthäuskirche. Außer im Glaubensbekenntnis ist der Name von Jesus Christus überhaupt nicht gefallen. Um nicht die Juden zu ärgern, erst recht nicht die Muslime, schweigen wir von Jesus. Sprich: Was noch von Gott? Und Luther, wenn er von Gott redet, hat er von Jesus Christus gesprochen. Gott war ihm Jesus Christus. Der zweite Brünerkön: „Wer mich sieht, sieht den Vater.“ Wer den Sohn nicht ehrt, ehrt auch den Vater nicht. Luther hat all diese Stimmen ernst genommen, von Jesus Christus zu reden, den Retter.
Evangelische Predigt macht Jesus Christus wichtig. Damit sind wir beim Dritten: Wir werden gerettet allein durch den Glauben an diesen Christus, also nicht durch Werke, wie man es im Mittelalter wohlmeinend gesagt hat. Der Glaube sieht Jesus Christus an, der hat Blut für uns vergossen.
Denn vielen Worten, es ist ja unglaublich, auch die Arbeitskraft von Martin Luther, die er gehabt hat: Wenn Sie mal in einer Bibliothek die Weimarana sehen, so heißt die Sammlung der Briefe und Schriften Luthers, 32 dicke, voluminöse Bände. Aber das darf ich mal Luther nochmal im Originaltext hören: „Es müssen sich die Heiligen immer mit dem Teufel raufen und zuletzt mit dem Tod beißen. Aber in solchem Kampf ist das allerbeste, sich selbst zu verleugnen, also auch nicht den Tod zu sagen: ‚Oh lieber Heiland, ich möchte nur gerne ein bisschen länger, lass die Metastasen doch ein bisschen absterben‘. Sich selbst verleugnen und an die rechte Hand von Jesus Christus hängen. Da geschieht dem Teufel ein großer Ärger. Er findet nichts als leeres Stroh zu dreschen. Tu dem Teufel einen Tort, einen Schaden, und sage: ‚Was fichtest du mich an, was fechtest du mich an?‘, indem du mir beweisen willst, dass ich keine Heiligkeit habe. Nein, ich habe keine Heiligkeit in mir, aber ich hänge an Christus Jesus.“
Das war Luther, nicht wahr? Mensch, halt nicht, ach ich war gut und habe doch geschafft, wie es die meisten Beerdigungspredigten heißen: „Euer Vater hat für euch gesorgt und er war ein guter Nachbar.“ Und alle, die drumherumstehen, haben gemerkt, wie er geschrien hat, nicht wahr? Nein, die guten Werke galten nichts. Ich hänge an Jesus Christus allein durch den Glauben. Glaube ist ein Ansehen Jesu Christi, ein Festhalten an Jesus Christus.
Und deshalb kann man auch das Ganze jetzt sagen von diesem Glauben. Nicht allein in der Heiligen Schrift, der Bibel, deshalb hat uns die Bibel übersetzt und in Deutsch gegeben. Im Lateinischen hat man die Ausschließlichkeitsbegriffe „Solus Christus“ (allein Christus), „Sola Scriptura“ (allein durch die Schrift), „Sola Fide“ (allein durch den Glauben). Aber das kann die Schwester Friederike noch beibringen, und was sie muss: „Sola Gratia“ (allein durch die Gnade).
Aber allein die Heilige Schrift sagt, wie wir gerettet werden, nämlich allein durch die Gnade des Herrn Jesus Christus, allein durch den Glauben an ihn. Und deshalb gibt es auch Früchte, allein durch die Gnade – das sind wir. Und da habe ich das ganz ernst genommen. Das ist ja: „Ich habe mich auch bemüht, ich bin fromm und bete jeden Tag.“ Nein, ich bin einer, der verloren ist, völlig unwürdig. Aber ich nehme es ernst, dass Gott gesagt hat, schon beim Propheten Jesaja: „Ich sehe an den Elenden, der sich fürchtet vor meinem Wort. Ich bin nahe dem zerbrochenen Herzen.“
Allein durch die Gnade Jesu Christi, die sich herunterbeugt. So kann Luther es auslegen: Am Teich Bethesda sieht man den, der am schlimmsten dran ist, seit 34 Jahren dort liegt und keiner kümmert sich um ihn. Und noch im Sterben sagt der mit ihm gekreuzigte Verbrecher, der nichts mehr in seinem Leben gutmachen kann: „Du wirst mit mir, mit mir im Paradies, in der Welt Gottes sein.“
Wir werden gerettet allein durch die Gnade des Herrn Jesus Christus, allein durch den Glauben, im Ansehen und Festhalten an ihm. Und allein die Heilige Schrift bestätigt uns das. Das war der rote Faden, den Martin Luther in der Heiligen Schrift immer wieder gefunden hat und den er uns eigentlich gelehrt hat, in der Bibel zu finden und aufzuspüren.
Man kann zu jedem biblischen Text den Ausfall wie einen Teig sehen. Viele unserer Verkündigungen heute sind so ein Ausfall eines Teiges. Am letzten Sonntag wurde der Text wieder so erzählt: „Ja, ja, das haben wir schon mitgekriegt.“ So blöd war man bei der Textverlesung nicht, dass nur noch gesagt wird: „Jesus ging also zum Tempel, und der Tempel war in Jerusalem, das ist für uns heute die Kirche.“ Das bringt doch alles nichts.
Finden Sie den roten Faden: Wo steht etwas vom Glauben, von der Rettung, dass Jesus neu vor meinen Augen steht? Es kann alles ganz fromm und lieb sein, aber Luther hat uns gelehrt – und das war das, was die Reformation gebracht hat – den roten Faden zu finden.
Dadurch, dass die Reformation zuerst in Nürnberg, Nördlingen und Waiblingen in freien Reichsstädten stattgefunden hat, war schon vorauszusehen, dass plötzlich die Bibelpredigt, die evangelische Predigt, das typische Bezeichnende für die Reformation wurde. Denn die freien Reichsstädte hatten schon geahnt durch vorreformatorische Bewegungen, dass die Leute etwas anderes suchten als den katholischen Messgottesdienst mit seinem Zinggesang.
Es gibt so eine schöne Geschichte in Biberach im schwäbischen Oberland. Der Priester kam ganz empört aus der Kirche heraus. Vor der Kirche standen die Männer, und drinnen lief der Abballsgottesdienst. Er fragte: „Warum kommt ihr nicht rein zur Messe?“ Und sie sagten: „Wir haben Hunger nach dem Wort.“ Auch wenn im katholischen Messgottesdienst die Predigt bloß ganz kurz war, meist eine Moralpredigt oder so etwas, das wollten sie hören. „Wir haben Hunger nach dem Wort.“
Es gab also schon vor der Reformation eine Abneigung gegen das ganze Zeremoniell der katholischen Messe und das Verlangen nach dem verlässlichen Wort. Deshalb haben sie in den freien Reichsstädten einen Gottesdienst erfunden, schon vor der Reformation. Es war meist ein Nachmittagsgottesdienst am Sonntag, der Prädikantengottesdienst.
Dort wurde das Wort verkündet. Es war ein reiner Predigtgottesdienst nachmittags um 15 Uhr. Man hat dazu Prädikanten angestellt, die keine andere Aufgabe hatten als zu predigen. Die haben meist über einen Bibeltext gepredigt, im Unterschied zur kurzen Moralpredigt im Messgottesdienst. Man hat Leute angestellt, die entweder schon vom Beginn der Reformation angesteckt waren, wie Konrad Sam in Ulm oder Johannes Brenz in Schwäbisch Hall, der später der Reformator von Württemberg wurde.
Der Prädikantengottesdienst ging so: Der Prediger ging auf die Kanzel, brachte nichts am Altar, sondern sprach ein Vaterunser, las den Bibeltext, predigte 45 Minuten und sprach wieder ein Vaterunser. Gesungen hat man damals noch gar nicht, es gab keine Gesangbücher. Das muss man sich mal klarmachen.
Als dann die Reformation eingeführt wurde, wenn beschlossen wurde: „Wir wollen evangelisch werden“, hat man diesen Nachmittags-Prädikantengottesdienst zum Hauptgottesdienst gemacht. Das ist jetzt unser Gottesdienst, ohne Altar, ohne Kerzen, Verlesungswortgottesdienst. Wir sind als Vater, wir sprechen das Vaterunser. Deshalb, wenn Sie etwa aus Thüringen kommen und nach Württemberg, denken Sie: „Was ist das? Da gibt es überhaupt keine Liturgie, kein Glaubensbekenntnis oder nur in den seltensten Fällen, kein ‚Der Herr sei mit euch‘ und kein Responsorium im Wechsel.“ Ja, weil in Württemberg das der typische evangelische Gottesdienst war, den man nach und nach mit etwas Singen bereichert hat, als die Lieder aufkamen, vor ein paar Jahren auch mit Psalmen im Wechsel gesprochen.
Aber im Grunde genommen haben wir in Württemberg als evangelischen Gottesdienst den Predigtgottesdienst. Und der Pietismus hat ja nichts anderes gemacht, als zu sagen: „Das reicht doch gar nicht, einmal in der Woche das Wort Gottes zu verlesen. Wir müssen in den Häusern das Wort Gottes treiben und zusammenkommen in Stunden, in Gemeinschaften, wo wir uns wie in einem Hauskreis austauschen über das Wort Gottes.“ So waren die Stunden gedacht, dass man auch ins Gespräch kommt über das Wort Gottes.
Die Reformation hat vielleicht als wichtigste Frucht neben dem Kirchenlied – das ja dann vor allem hundert Jahre nach der Reformation durch Paul Gerhardt mit seinen wunderbaren Chorälen bereichert wurde – neben dem Kirchenlied ist die evangelische Bibelpredigt das typische Kennzeichen der Reformation gewesen.
Jetzt müssen Sie nicht mehr so genau aufpassen, aber eines muss ich noch erwähnen: Eine wichtige Entscheidung von Martin Luther war, nachdem Pötzinger, Thüringen und Hessen – ganze Fürstentümer – sich entschlossen hatten, das Land evangelisch zu machen. Damals sagte man: „Cuius regio, eius religio“ – wem die Region gehört, der bestimmt auch die Religion.
Wenn also Herzog Ulrich von Württemberg, Künstler 36, wieder in sein Land zurückkommt, bestimmt er, dass Württemberg evangelisch wird, weil er selbst evangelisch ist. Damit waren die mächtigen Bischöfe entmachtet. Bischöfe hatten ja, ähnlich wie in Rom, auch sehr viel weltliche Macht. Ich kann mir vorstellen, dass die Fürsten mit Begeisterung große Gebiete und Klöster von der katholischen Kirche weggenommen haben.
Der Herzog Ulrich von Württemberg brachte, als er in sein Land zurückkehrte und es evangelisch machte, von der Mehrzahl der Klöster die ganzen Abendmahlsgeräte nach Stuttgart. Diese ließ er einschmelzen und sicherten sich so wertvollen Staatsbesitz. Man hat sich durch die Reformation bereichert. Deshalb brachte die Reformation auch viele negative Seiten und Verletzungen bei der katholischen Kirche mit sich.
Luther sagte aber auch, dass es in der Kirche immer einen Chef geben muss. Wenn das nicht mehr die Bischöfe sind, wer übernimmt dann diese Rolle? Unter den evangelischen Pfarrern gab es große Spannungen: Der eine sagte, er habe etwas zu sagen, der andere widersprach ihm. Die Landesherren hatten darauf eine ungewöhnliche Idee: Sie wurden als Fürsten beauftragt, Bischöfe zu sein.
So blieb es bis 1918, bis die Landesherren in der Revolution von 1918 verjagt wurden. König Wilhelm II. war bis 1918 zugleich Landesbischof von Nürnberg. Sein Vorgänger, Wilhelm I., bestimmte, dass Kornthal als freie Gemeinde existieren konnte – das entschied der König selbst.
Wenn ein Pfarrer eine Pfarrstelle übertragen bekam, weil der alte Pfarrer in den Ruhestand ging, schrieb er: „Euer Majestät, ich bitte untertänigst um die Belehnung mit der erledigten Pfarrstelle Sigmar Swang.“ Der Erlass kam dann von „Seiner Majestät, König Wilhelm von Württemberg“, der die Pfarrer bis 1918 beauftragte.
Ähnlich gibt es heute noch das Patronatsrecht, wenn auch nur noch sehr wenig. Die Patronatsherren haben das auch für ihre Patronatsgemeinden gemacht, was durchaus richtig war. Im Grunde genommen waren die Landesherren die Landeskirchen. Deshalb haben wir bis heute Landeskirchen.
Wenn man fragt, warum es in Baden-Württemberg eine Landeskirche von Baden und eine von Württemberg gibt, liegt das daran, dass bis 1918 der Großherzog von Baden Chef der badischen Kirche war und König Wilhelm II. Chef der württembergischen Kirche. So entstanden Landeskirchen, die sehr viel zu bestimmen hatten. Man kann sagen: Es gibt reiche Landeskirchen und arme Landeskirchen. Diese Struktur hängt noch an der Entscheidung der Reformation, dass die Landesherren die Bischöfe sind.
Nach 1918 wurden Kirchenpräsidenten eingeführt. 1933 kam Adolf Hitler an die Macht. Er war katholischer Christ und sagte, er wolle mit keinem Kirchenpräsidenten verhandeln, weil er nicht wusste, was das ist. Er wollte Bischöfe haben. Deshalb wurden die Kirchenpräsidenten plötzlich zu Bischöfen gemacht. Seitdem gibt es den Begriff Landesbischof.
Heute stellt sich die Frage, ob durch Finanzknappheit nicht immer mehr Zentralisierung stattfindet – und ob das eine falsche Entwicklung ist.
Ich komme noch einmal auf Luther zurück: In seiner Bibelübersetzung hat er das griechische Wort „Ekklesia“ nie mit „Kirche“ übersetzt, sondern immer mit „Gemeinde“. So ist es in der ganzen Bibel. Es gibt die Gemeinde von Philippi und die Gemeinde von Korinth. Diese sollen untereinander Kontakt haben.
Gott liebt die Gemeinde. Er schreibt an die sieben Gemeinden von Ephesus und Smyrna. Im Reich Gottes gibt es keine großen Organisationen, sondern Gemeinden, die jeweils ihre Eigenart haben. Diese Gemeinden sollen vernetzt sein mit anderen. Aber immer, wenn es übergreifende Einrichtungen gibt, hat der Teufel einen Zugang.
Man hat Luther einmal gesagt, er habe riesige Wasserspeicher geschaffen – die Landeskirchen. Wenn da ein kleines bisschen Gift hineingetröpfelt wird, ergreift es die ganze Landeskirche. Unser Herr hat aber eine Einzelgemeinde gedacht. Damit haben wir schon ein Problem.
Was ist geblieben? Hoffentlich ist geblieben der Ruf zur Sache: Glaubt dem Evangelium! Das Reich Gottes ist herbeigekommen. Gott will uns in seiner Gerechtigkeit retten – allein durch Jesus Christus, allein durch den Glauben an ihn, allein durch die Heilige Schrift, allein durch die Gnade.
Ich wünsche Ihnen, dass Sie in Ihrem Bibelschulkurs dafür Stärkung und Durchblick bekommen – für dieses zentrale Anliegen, nicht nur für die Reformation, sondern für das Anliegen unseres Herrn Jesus Christus.
Aber jetzt hätten wir noch zweieinhalb Minuten für wichtige Rückfragen. Wer wagt es, sich nicht herausbringen zu lassen durch die Fülle dessen, was ich Ihnen jetzt gesagt habe?
Ich habe noch ein Zitat dabei vom großen Historiker Johannes von Müller, der in Tübingen gelehrt hat. Er war ein Balte und hat vor 50 Jahren gesagt: Der entscheidende Sinn der Reformation war, dass ein großer Teil der deutschen Nation, nämlich vier Fünftel der Deutschen, sich von Rom losriss und den Weg ins Jenseits auf eigene Faust suchte.
Verstehen Sie? So kann man über die Reformation urteilen: Jeder kann auf eigene Faust den Weg in den Himmel suchen. Haha, welche Verkennung von einem genialen Historiker, unglaublich!
Deshalb wollen wir jetzt zum Abschluss, wenn ich Sie einladen darf, wohl noch ein Lied anstimmen von Martin Luther: "Aus tiefer Not schrei ich zu dir". Es ist die Übersetzung von Psalm 130, im Gesamtbuch 195, im Choralbuch 16, Ordnungsnummer 17. Das gibt Alternativmedaillien. Im Grunde genommen ist es eine geniale Übertragung in Versform von Psalm 130.
Gott wird Israel erlösen aus seinen Sünden, allen wie die Wächter auf dem Morgen. So war Israel. Dieser Psalm beginnt: "Aus der Tiefe rufe ich zu dir, höre meine Stimme."
Hier haben sie zugleich die ganze reformatorische Theologie komprimiert, besonders im Vers 5: "Wobei uns ist der Sünden viel, bei Gott ist viel mehr Gnad." Seine Hand zu helfen hat kein Ziel, wie groß auch sei der Schaden. Er ist allein der gute Hirt, der Israel erlösen wird aus seinen Sünden allen.
Wohin greift es den fünften Vers? Hier bist du uns auch immer wieder heraus, du großer Retter, wenn wir im Sumpf des Eigenen erliegen. Mach du uns selbst los, mach uns von uns selber frei und steh uns in deiner Gnade bei. Stärk unseren schwachen Willen! Amen!
Es wäre noch viel zu sagen. Dadurch, dass der Landesherr Bischof war, ist bis heute so, dass eigentlich im württembergischen Staatshaushalt 42 Millionen Steuergelder an die württembergische Kirche fließen. Die meisten württembergischen Pfarrhäuser sind in Staatsbesitz. Der Landesherr wollte, dass in jedem Ort ein Pfarrer und ein Förster ist. Deshalb ist das Forsthaus in Staatsbesitz und der Pfarrer auch.
Wir meinen diese Dinge, wie sie die falsche Entscheidung von Luthers Weide gewirkt hat. Ja, die dringendste Frage wird jetzt sein: Wann kommen Sie wieder, Herr Schaffner? Ich weiß es auch nicht. Fragen Sie mal zuerst die lieben Bibelschülerinnen, die sagen, so war es nie mehr.
Also, wir melden uns wieder. Ganz, ganz herzlichen Dank für die Fragen. Ja, ich danke fürs Zuhören.
Es ist wahr, dass Sie schon einige Bücher haben, aber wir haben eins und haben es nicht eingepackt, um zu testen, ob Sie es schon kennen. Nein, nein, das ist ja wunderbar. Da ist ja meine besondere Liebe mit dem frommen Basenherr. Wie Sie uns schon einmal den Spittler sehr bekannt und vertraut gemacht haben. Da kommt einiges aus dem Unfall. Das habe ich über Graschona bekommen, über den Jochen Eber. Das ist ja ganz großartig. Ich freue mich sehr, vielen Dank.
Ja. Haben Sie schon mal eine Fahrt gemacht nach Basen? Nein, das fällt noch aus. Ja, ja. Die nächste Exkursion ist auch schon der Grund.
Wer jetzt weiter muss zum nächsten Programmpunkt, kann gern gehen. Aber wer noch kurz etwas fragen will, darf gern auch noch hier persönlich nachhaken. Einfach auf mich zukommen, ja.
Es ist ja wunderbar, wie die ersten Gedanken gelangt haben.