Über dem Kreuz oder unterm Kreuz?

Konrad Eißler

Das Kreuz wurde im wahrsten Sinne zum Höhepunkt in Jesu Dasein, wenn auch nicht zum Schlusspunkt. An diesem Kreuz scheiden sich die Geister. - Passionsandacht zum Gründonnerstag aus der Stiftskirche Stuttgart


Jesus ist umgebracht. Der Unschuldige ist tot, die Schuldigen sind frei und ledig. Aber Hand aufs Herz, geht uns dieses Geschehen noch an die Nieren? Ist dieser Anblick nicht nur ein Ausschnitt aus der Welt, in der wir leben? Kann uns das, was vor den Toren Jerusalem sich abspielte, noch einen besonderen Ein­druck machen? Fangen wir nicht an, uns an solche Vorgänge zu gewöhnen? Täglich ziehen sie beim Zeitungslesen an uns vorüber und stumpfen das Gemüt ab. Wie schrieb doch kürzlich ein aus­ländisches Magazin: “Unsere Kampfflieger sind absolut hart. Sie gehen nieder, feuern aus kurzer Entfernung und sehen ihre Gegner 40 Fuß weiter zu blutigen Klumpen verwandelt. Nach gewonnenem Gefecht landen sie, steigen aus und zählen die Toten. Jeder nimmt sein Seitengewehr, um Verwundete zu erledigen.” Durchnagelte Hände oder durchschossene Glieder, Lanzen oder Seitengewehre: Sie sind umgebracht.

Das Kreuzigungsbild der Bibel ist tatsächlich modern. Die einen sagen: Das ist der Juden König? Das ist das Zeichen des Sieges? Dass wir nicht lachen! Wir haben eine Sichel auf der Fahne, das ist das Zeichen der Ernte und der Frucht. Und wir haben einen Halbmond auf der Fahne, der wächst zum Vollmond zum beherrschenden Licht der Nacht. Und wir haben Sterne auf der Fahne, tausend Lichter, die das Firmament erhellen. Und Ihr? Wirklich ein Kreuz, einen Schandpfahl, ein Exekutionsinstrument? So sagen sie.

Die andern würfeln. Sie spielen um das große Los. Ob es der lederne Würfelbecher in der Hand römischer Soldaten ist oder ob es der Tippschein in der Brieftasche unserer Zeitgenossen ist, immer geht es um den großen Schnitt, der dies Leben mit einem Schlag verändern könnte.

Die dritte Gruppe hat Mitleid. Sie gibt ihm einen Essigschwamm, ein kleines Opfer für die Brüder, eine Ehrenbezeugung am Karfreitag.

Doch, liebe Freunde, auch wenn es hier um einen Ausschnitt aus unserer Welt geht, so geht es doch um einen Abschnitt in der göttlichen Welt. Auch wenn es für uns den Anschein der Alltäglichkeit gewinnt, so ist es doch für Gott eine Tat der Einmaligkeit. Hier stirbt nicht irgendeiner, sondern ein gewisser. Hier verblutet nicht eines Menschen Sohn, hier verblutet Gottes Sohn, Jesus Christus, der Welt Heiland. Weil dem so ist, deshalb schauen wir noch einmal auf diesen Schmerzensmann, dessen Kleider verwürfelt werden und dessen Leichnam durchstochen wird: Er ist umgebracht, aber nicht erledigt. Das Kreuz wurde im wahrsten Sinne zum Höhepunkt in Jesu Dasein, wenn auch nicht zum Schlusspunkt. An diesem Kreuz scheiden sich die Geister. An ihm muss sich jeder Geist entscheiden.

Zwei Gruppen lassen sich deutlich erkennen. Zur einen Gruppe gehört die Volksmenge, die lästert, die sich an dem furchtbaren Schau­spiel ergötzt und die Köpfe schüttelt: “Nun zeig deine Kunst, wenn du schon so ein solcher Künstler bist und den Tempel in drei Tagen aufstellen kannst! Steig vom Kreuz und stelle dich selber einmal auf die Füße!” Zu dieser Gruppe der Lästerer zählen sich die Hohenpriester, die Schriftgelehrten und Ältesten. Sie haben nur einen beißenden Spott übrig: “Der Alleskönner kann sich nicht einmal selber helfen. “Selbst die mitgekreuzigten Revolutionäre stimmen in diesen Chor mit ein und schmähen den Herrn. Das ist die eine Gruppe, die gleichsam überm Kreuz steht, die Jesus lästert, spottet, schmäht und auf ihn überlegen herunterschaut.

Daneben ist die andere, viel kleiner und weniger laut­ stark. Man übersieht sie fast im Gedränge der Schaulustigen. Simeon gehört dazu, der als zufälliger Passant in das Geschehen hineingezogen wird. Dieser Mann aus Kyrenaika leistet keinen Wider­stand, als sie ihm den schweren Querbalken aufs Kreuz legen. So wird er zum ersten Kreuzträger hinter Jesus drein, so wird er zum großen Symbol für all die, die auch ihr Kreuz tragen und von denen es heißt: “So wir anders mit leiden, auf dass wir auch zur Herrlichkeit erhoben werden.” Auch der kommandierende Hauptmann gehört zur zweiten Gruppe. Aus nächster Nähe sieht er die Verlassenheit des Gekreuzigten. Die Massen, die ihm täglich nachliefen, sind weg. Die Leute, die ihm noch beim Einzug in Jerusalem zujubelten, sind weg. Die Jünger, die um seinetwillen alles verließen, haben ihn verlassen. Ja, Gott selbst hat ihn dahingegeben. Er hilft ihm nicht mehr. Er zieht seine Hand zurück. Er gibt ihn in der Sünde Hände: “Mein Gott, warum hast du mich verlassen?” Aber der Haupt­mann versteht. Das ist Gottes Sohn gewesen.” Der Hauptmann ahnt: “Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.” Der Hauptmann begreift: “Er ward gehorsam bis zum Tod, ja zum Tod am Kreuz. Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm einen Namen gegeben, der über alle Namen ist.” Auch Josef von Arimathia gehört auf diese Seite. Mit seinen Freunden bittet er um den Leichnam und stellt sein eigenes Grab zur Verfügung. Er liebt, wo andere nur hassen können. Das ist die zweite Gruppe, die gleichsam unterm Kreuz bleibt und Jesus trägt, versteht und liebt.

Menschen unter dem Kreuz und Menschen überm Kreuz. Wo stehen wir? Fühlen wir uns über das Kreuz erhaben, weil wir meinen, einen Gekreuzigten nicht nötig zu haben? Oder aber bleiben wir darunter, tragen das Kreuz, das er uns auflegt, verstehen seinen Tod als meines Todes Tod und lieben ihn als meines Lebens Leben. Unter dem Kreuz oder überm Kreuz, Liebe oder Spott, Leben oder Tod. Zwei Möglichkeiten.

Amen