
Ich beginne mit einem Datum, das zunächst nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Reformationsjubiläum zu stehen scheint. Sie werden jedoch, hoffe ich, gleich erkennen, warum ich dieses Eingangszitat gewählt habe.
Als der Mediziner Alexander Fleming am 28. September 1928 sein Labor in London betrat, ahnte er noch nicht, dass er an diesem Tag eine der wichtigsten Entdeckungen der Medizingeschichte machen würde. Zunächst sah es aus wie ein misslungener Versuch: In einer Glasschale, in der der schottische Forscher Bakterien züchtete, hatte sich ein Schimmelpilz gebildet.
Fleming schaute genauer hin und bemerkte, dass dort, wo der Schimmelpilz sich angesiedelt hatte, keine Bakterien, keine Staphylokokken vorhanden waren. Die Schlussfolgerung lag nahe: Der Pilz musste einen Stoff produzieren, der die Bakterien zerstört. Diesen Stoff nannte der Forscher Penicillin, in Anlehnung an den lateinischen Namen des Schimmelpilzes.
Damit wissen Sie, dass Alexander Fleming das Mittel gegen bakterielle Infektionen entdeckt hatte. Es dauerte jedoch noch zehn Jahre, bis Penicillin schließlich als Antibiotikum am Menschen eingesetzt wurde.
Wie gefährlich bakterielle Infektionen früher waren, zeigt zum Beispiel die Pest im Mittelalter. Damals starb ein Viertel der Bevölkerung an dieser Krankheit. Das bedeutet, dass das, was ein Mann an einem Tag entdeckte, Auswirkungen über viele Jahrzehnte, ja manchmal Jahrhunderte hinweg hatte.
Noch heute profitiert jeder von uns, wenn er Antibiotika benötigt, von Flemings Tat und Entdeckung am 28. September 1928.
Was kann ein Einzelner bewirken? Wenn wir heute die Entdeckung des Penicillins feiern würden, würde jeder Zeitgenosse sagen: „Klar, das ist sinnvoll, das lohnt sich, dafür kann man ein Jubiläum feiern.“ Aber wie verhält es sich eigentlich mit der Reformation?
Das Lutherjubiläum war in den Medien kaum zu übersehen. 500 Jahre – was feiern wir eigentlich? Sicherlich wurde heute besonders an den Thesenanschlag gedacht, der am 31. Oktober in Wittenberg stattfand. Es spricht vieles dafür, dass Luther seine Thesen nicht nur an Kollegen zur Disputation verschickte, sondern dass es üblich war, sie auch wie Plakate an Kirchentüren anzubringen. Deshalb ist es sehr wahrscheinlich, dass er sie an der Tür der Schlosskirche in Wittenberg angebracht hat.
Das war jedoch nur ein Mosaikstein in einem großen Drama. Die Erträge des Ablasshandels wurden teilweise für den Bau des Petersdoms verwendet. Wenn das Geld im Kasten klingt, springt die Seele aus dem Fegefeuer – gegen diese Praxis richteten sich unter anderem Luthers Thesen.
Die Art und Weise, wie das Jubiläum von vielen offiziellen Stellen gefeiert wird, ist inzwischen sehr umstritten. Vielleicht haben Sie auch den Artikel im aktuellen Spiegel gelesen, der eine sehr kritische Färbung hatte. Das kennen wir vom Spiegel, und das liegt sicherlich nicht nur an der Reformationsbotschafterin Frau Käßmann. Von etlichen Kirchengeschichtlern wird ihr vorgeworfen, man habe den Eindruck, alles, was sie schon lange sagen wollte, würde sie Luther in den Mund legen.
Das hat auch nicht nur mit der Vermarktung des Lutherjubiläums zu tun, für das diese Playmobil-Figur, die übrigens auch auf meinem Schreibtisch steht, zum Symbol geworden ist. Die Welt am Sonntag schrieb am 16. April: „Es ist jedenfalls eine Pointe dieses Lutherjahres, dass ein frommer Mönch, der einst in heiligem Zorn über den Ablasshandel der katholischen Kirche eine Weltrevolution in Gang setzte, sich ein halbes Jahrtausend später als Tourismusbotschafter und Kommerzikone für alles und jedes wiederfindet.“
Viele scheint das Lutherjubiläum trotzdem nicht zu interessieren. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung bezeichnete dieses Jubiläum neulich als Pleite des Jahres. Es drohe zur Pleite des Jahres zu werden. Viele Veranstaltungen seien nicht wirklich frequentiert, vieles an öffentlichen Versuchen verpuffe – und das trotz der 50 Millionen Euro, die von der EKD investiert wurden beziehungsweise ihr zu großen Teilen aus der Staatskasse zur Verfügung gestellt wurden.
Warum diese gewisse Zähigkeit? Der Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann hat wiederholt beklagt – und er steht damit nicht allein –, dass man die religiösen Kernthemen Luthers weitgehend gemieden habe. Er kritisiert, dass sich die evangelische Kirche in Deutschland vorwiegend so präsentiere, wie Kaufmann es als sozialmoralische Weltverbesserungsagentur bezeichnet.
Die Betonung, dass die Reformation Demokratie und Menschenrechte hervorgebracht habe, bezeichnete er als einen Propagandaslogan. Das Reformationsjubiläum insgesamt nannte er, so Kaufmann, vergeigt. Ich weiß nicht, ob dieser Ausdruck auch in Memmingen bekannt ist. „Vergeigt“ bedeutet eine verpasste Gelegenheit.
Kaufmann bestreitet nicht die kulturellen Auswirkungen der Reformation, und diese sind auch in der Tat nicht zu übersehen. Zu Beginn dieses Monats konnte ich in Skopje, der Hauptstadt Mazedoniens, an der Balkankonferenz zum Reformationsjubiläum teilnehmen. Diese Tagung fand im nationalen Parlamentsgebäude statt. Wir hielten unsere Vorträge also in einer Art Plenarsaal.
Die Konferenz wurde von vier verschiedenen wissenschaftlichen historischen Instituten ausgerichtet. Deren Leitungen kamen aus sehr unterschiedlichen weltanschaulichen Hintergründen, darunter Christen, aber auch Muslime. Im Konferenzprogramm hieß es, es bestehe ein breiter Konsens darüber, dass die Reformation signifikante Veränderungen für unsere Gesellschaft und Zivilisation bewirkt habe. Zudem habe sie neue Perspektiven für die Künste, Wissenschaften und die Arbeitswelt eröffnet.
Beim Mittagessen kam ich mit einem Historiker der Universität von Ankara ins Gespräch, einem Moslem. Ich fragte diesen Professor, warum er sich als Moslem mit Reformationsgeschichte befasse. Seine Antwort: Die Auswirkungen sind einfach zu stark, als dass man daran vorbeisehen könnte.
Diese kulturellen und politischen Effekte sind also nicht zu bestreiten – bis in den Balkan hinein. Aber das war nur ein Nebenprodukt der Reformation. Das Herz der Reformation schlug anderswo. Ä...
Ähnlich hat es Helmut Mattis, der Chefredakteur von Ideaspektrum, ausgedrückt. Er schrieb neulich: „Es fehlt im Protestantismus mittlerweile an Dankbarkeit für das Eigentliche, das wir Luther verdanken. Vermutlich liegt das auch daran, dass man heute gar nicht mehr genau weiß, was es überhaupt heißt, evangelisch zu sein.“
Mattis fährt fort: Es sei ein Fehler gewesen, dass die entscheidenden Fragen der Menschheit nach Leid, Schuld und Tod nicht in den Mittelpunkt des Reformationsjubiläums gestellt wurden. Die Festakte heute, soweit ich sie verfolgen konnte, haben diese Diagnose bestätigt. Denn an dem Punkt, wo es um Leid, um Schuld und Tod geht, da wird es plötzlich spannend für jeden.
Eigentlich wäre es gar nicht so schwierig, diesen Graben zwischen 1517 und 2017 zu schließen. Die Geschichte der Reformation in ihren Anfängen ist zugleich die Geschichte einer persönlichen Krise. Martin Luther hat seine Überzeugung nicht am Reißbrett entworfen. Er hat sie nicht in einer stillen Bibliothek ausgetüftelt, sondern sah sich in einer persönlichen Notlage.
Er fand auf seine zentrale Existenzfrage keine Antwort, mit der er ruhig schlafen konnte, obwohl er zu dem Zeitpunkt als Mönch im Kloster lebte. Die Frage, die ihn umtrieb, lautete: Wo finde ich Wahrheit über mein Leben? Und was kommt nach dem Tod? Gibt es einen Himmel, und wie komme ich dorthin?
Es gibt manche Zeitgenossen, nicht zuletzt in kirchlichen Gremien, die sagen, das sei eine Frage, die eigentlich ins Mittelalter gehöre und die den modernen Menschen nicht mehr interessiere. Ich meine, das ließe sich leicht widerlegen. Denn treibt diese Frage nicht letztlich uns alle um? Weil wir Menschen sind, nicht nur für diese Welt gemacht.
Weil wir Menschen sind, ganz gleich, aus welcher geistigen oder religiösen Tradition wir kommen.
Als Beispiel möchte ich auf Michel Ulbeck verweisen, einen kritischen französischen Schriftsteller unserer Zeit, der mit mehreren seiner Bücher für Aufsehen sorgte. Er hat genau den Punkt getroffen, als er in einem Spiegel-Interview im Juni 2016 Folgendes sagte: Die christlichen Kirchen sollten sich auf die Ewigkeit konzentrieren, statt auf ihr humanitäres Engagement im Diesseits.
Der Spiegel fragte nach: „Monsieur Ulbeck, ist der Tod eine Erlösung?“ Ulbecks Antwort lautete entschieden: „Nein, ich habe meinen toten Vater gesehen. Die letzte Konfrontation mit der Ewigkeit bleibt einem nicht erspart.“ Jeder Schriftsteller, so Ulbeck, müsse etwas zum Tod zu sagen haben, und man müsste hinzufügen: jeder Theologe erst recht.
Aber diese Frage ist nicht auf den kritischen Geist eines Intellektuellen beschränkt. Das Bild dieses Mannes werden Sie sofort erkennen: Es handelt sich um Franz Beckenbauer. Letztes Jahr erschien eine Jubiläumsausgabe der Bild-Zeitung am 22. Juni. Der interessanteste Beitrag dieser Ausgabe bestand in einem Interview mit allen noch lebenden Bundestrainern der Fußballnationalmannschaft.
Jetzt könnte man testen, auf wie viele Sie noch kommen: Berti Vogts, Jürgen Klinsmann, Rudi Völler, natürlich Franz Beckenbauer und auch der amtierende Jogi Löw waren dabei. Die letzte Frage, die Bild den versammelten Altbundestrainern und dem aktiven Bundestrainer stellte, lautete: „Angenommen, wir sitzen hier in zehn Jahren wieder beim Interview zusammen. Wird dann ein weiterer Trainer hier in unserer Runde sitzen oder wird Jogi Löw noch zehn Jahre weitermachen?“
Alle antworteten mehr oder weniger humorvoll. Die letzte Antwort gab Franz Beckenbauer. Er sagte: „Was in zehn Jahren ist, ob ich dann noch da bin, diese Frage beschäftigt mich mehr. Wo geht es hin, was kommt, gibt es Ewigkeit?“
Ein letztes Beispiel für die Relevanz dieser Frage möchte ich Ihnen am Spiegel-Journalisten Jan Fleischhauer verdeutlichen. Er hat sich wiederholt in die Debatte eingemischt und der evangelischen Kirche Selbstverharmlosung und Selbstsekularisierung vorgeworfen.
Zitat: „Wenn die Kirche den Erlösungshorizont immer weiter auf das Diesseits verschiebt“, so Fleischhauer, „beraubt sie sich einer Kompetenz, die sie einzigartig gemacht hat, nämlich der Auskunftsfähigkeit über das Jenseits. Um die Umwelt kümmern sich auch andere. Aber eine Antwort auf die Frage, wie es denn aussieht mit Himmel und Hölle, die kann nur die Kirche geben.“
Und genau das war die Frage, die Luther umtrieb. Damit sind wir wieder ganz nah dran an seiner Schicksalsfrage. Die spannende Frage heute Abend lautet: Können die Antworten, die Luther damals gefunden hat, auch für uns, für Franz Beckenbauer, Jan Fleischhauer und Michel Ulbeck von Bedeutung sein?
Dafür wollen wir uns nun in den nächsten Minuten an die Verse dieses Mannes heften. Wir wollen drei Kapitel durchlaufen: Erstens ein Student in der Krise, zweitens die Entdeckung einer Quelle und schließlich drittens die Entdeckung einer Person.
Fangen wir an mit dem Studenten in der Krise. Die Ereignisse lesen sich wie ein Krimi; es fehlt nichts, einschließlich der abgelegenen Burg, wo ein Verfolgter Zuflucht sucht. Martin Luthers Weg beginnt in einer ganz normalen Arbeiterfamilie im Schoß der katholischen Kirche als Sohn des Bergmanns Luder, also Eisleben. Ich denke, mit sehr scharfen Fernlesern können Sie das dort an der Karte erkennen.
Ab 1501 ist der Student in Erfurt, damals eine führende europäische Universitätsstadt. Er beschließt 1505, sein Grundstudium in Logik, Dialektik und Philosophie aufzunehmen. Danach will er eigentlich Jura studieren, das ist der Wunsch des Vaters.
Doch am 2. Juli 1505 gerät Luther dann in der Nähe von Erfurt in ein schweres Gewitter. Überrascht von dieser Situation ruft er ein Gelübde zur heiligen Anna aus: „Ich will Mönch werden, wenn ich hier lebendig wieder rauskomme.“ Nun, wir wissen, dass Luther dieses Gewitter überlebt hat. So tritt er dann am 17. Juli bereits ins Augustinerkloster in Erfurt ein.
Seine Freunde hatten ihn gewarnt und gesagt, das sei nichts für ihn. Aber er antwortete: „Ich habe es gelobt.“ Hier in diesem Kloster beginnt er zu grübeln und über seine Existenz nachzudenken. Er rechnet mit der Realität Gottes, hat aber Furcht vor Gott, weil er nicht weiß, wie er mit seinem Leben vor ihm bestehen kann.
So erlebt er schwierige Zeiten im Augustinerkloster von Erfurt. Er wird schließlich zum Priester geweiht. Hier ein Bild von Luther, damals als Mönch – mit einer sehr interessanten Frisur, die für manchen vielleicht eine Option gewesen wäre. 1507 erfolgt die Priesterweihe.
1508 ruft ihn sein Mentor Johannes Staupitz nach Wittenberg. Staupitz war Gründungsdekan der dortigen theologischen Fakultät. Er erkannte die Begabung dieses jungen Mannes. Hier soll Luther nun Theologie studieren und selbst Grundkurse in Moralphilosophie unterrichten.
Man muss wissen, zu dem Zeitpunkt ist Wittenberg ein ziemlich verschlafenes Nest. Luther selbst nannte es „eine Stadt am Rande der Zivilisation“. Er wäre eigentlich lieber in Erfurt geblieben, da war mehr los. Dieses Bild steht jetzt hier symbolisch für Wittenberg.
Friedrich der Weise, der Kurfürst, hatte dort am Rande der Zivilisation eine Universität gegründet. Er hatte sich das in den Kopf gesetzt, und viele fragten: „Was will der Kurfürst mit einer Universität am Rande der Zivilisation?“
Luther legt die Prüfung zum theologischen Doktor ab und leistet an der Wittenberger Schlosskirche seinen Eid auf die Bibel. Kurz danach macht er eine steile Karriere: Mit etwa dreißig Jahren darf er von seinem Mentor Staupitz den Lehrstuhl für Bibelwissenschaften übernehmen.
Interessanterweise wird der Reformator im Rückblick auf diese Zeit, als er promovierte, feststellen: „Wir haben das Licht später wiedergewonnen. Doch als ich Doktor wurde, kannte ich es nicht.“
Luther gerät philosophisch und religiös ins Schwimmen. Trotz des akademischen Erfolgs findet er nicht die Wahrheit über den Sinn seines Lebens. Er merkt, dass die vertrauten Lehrmeinungen und Traditionen nicht tragen und sich teilweise gegenseitig widersprechen. Die Antworten seiner Zeit können ihn nicht zufriedenstellen.
Geistesgeschichtlich ist das hochinteressant: Wir befinden uns an der Bruchstelle zwischen Mittelalter und Renaissance, einem Aufbruch von Bildungsbewusstsein. Der Humanismus strebt zurück zu den Quellen der Antike, Ad Fontes. Die Naturwissenschaften erobern sich neue Freiräume. Kopernikus und Galileo sind Luthers Zeitgenossen. Alte Gewissheiten werden plötzlich in Frage gestellt – von wegen mittelalterliche Gewissheiten.
Und mittendrin der Augustinermönch Martin Luther, philosophisch geschult an Aristoteles. Aber was ist jetzt noch sicher?
In dieser Krise stellt sich für Luther mit brutaler Klarheit die Frage nach der Autorität: Wer hat die Wahrheit? Kann sie geschöpft werden? Nach römisch-katholischer Lesart liegt diese Autorität allein beim Papst und dem offiziellen kirchlichen Lehramt. Das gilt bis heute.
Aber Luther kann belegen, dass Päpste und Konzilien sich mehrfach geirrt und einander widersprochen haben. Selbst die akademische Schultheologie kann diesen Mangel nicht ausgleichen. Denn hier stößt Luther immer wieder auf den Meinungsstreit seiner Zeit, etwa zwischen der Via moderna und der Via antiqua, zwischen dem Nominalismus und dem Thomismus (Thomas von Aquin).
An seiner Erfurter Fakultät war Aristoteles-Bashing sehr an der Zeit gewesen. Aber all diese philosophischen Debatten und Diskurse können ihm keine Gewissheit vermitteln, keine sicheren Ergebnisse, die er sucht und braucht.
In diesem Prozess wird Luther klar: Wenn es wirklich Gewissheit über Gott geben sollte, dann könnte die nur von Gott kommen – wenn er denn bereit wäre, sich zu zeigen, zu offenbaren und mitzuteilen.
Damit wird der Bibelforscher wieder auf den Gegenstand seiner Studien zurückgeworfen, verwiesen. Er lehrt ja die Studenten seit 1512. Je länger er sich mit der Bibel befasst und je klarer ihm wird, dass er neue Antworten braucht, umso mehr findet er hier in dieser Heiligen Schrift jene Klarheit.
Er nennt das dann „claritas scripturae“, die Klarheit der Heiligen Schrift, und jene Überzeugungskraft, nach der er im theologischen Meinungsstreit bisher vergeblich gesucht hatte.
Mitten in dieser Krise gewinnt Luther die Gewissheit: Hier redet Gott. Er wird später schreiben, es müsse unter Christen als vollkommen verbürgt und sicher gelten, dass die Heilige Schrift ein geistliches Licht ist, viel klarer als die Sonne selbst.
In der Debatte mit dem Humanisten Erasmus von Rotterdam wird er später schreiben: „Der Heilige Geist ist kein Skeptiker, wir müssen nicht immer in Ungewissheit bleiben.“
Und so gewinnt Luther in der Heiligen Schrift, in der Bibel, den erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt für die Reformation. Dies sollte ihn und die evangelische Kirche fortan von der römisch-katholischen Kirche trennen.
Das reformatorische Schriftprinzip akzeptiert die Bibel als letztgültige Norm und als letztgültige Instanz aller theologischen Erkenntnis. Aus dieser Bindung an die Bibel gewinnt Luther eine neue Freiheit. Diese neue Freiheit verleiht ihm im Ablassstreit eine geradezu mitreißende Durchschlagskraft.
Im Ablasssystem lehrte die römische Kirche, dass man seine Stellung vor Gott verbessern und sogar die seiner verstorbenen Angehörigen verbessern könne, indem man Geld bezahle und bestimmte kirchliche Regelungen einhalte. Luther erkennt jedoch anhand der Bibel, dass man auf diese Weise Gott nicht gewinnen oder überzeugen kann.
Als er sich rechtfertigen muss, antwortet er mit den Worten: „In den aufgeführten Punkten hege ich keinen Zweifel, denn sie sind deutlich in der Schrift bezeugt. Darum sollt auch ihr keinen Zweifel haben, und lasst doktores scholasticos scholasticos bleiben.“ Das heißt: Lasst doch die Experten erzählen, was sie wollen, ich habe die Bibel.
Die Entdeckung dieser Quelle ist in gewisser Hinsicht der Abschied vom mittelalterlichen Autoritätsdenken. Denn damit legt Luther die Axt an die Wurzel der kirchlichen Macht. Wenn es stimmt, dass die Bibel eine zuverlässige Grundlage darstellt, dann wäre die Macht des Papstes und der römischen Institution relativiert. Sie wären nicht mehr die Richter über den Glauben, sondern müssten sich vielmehr selbst dem Urteil der Heiligen Schrift unterwerfen.
Dann könnte jeder Einzelne, der die Bibel befragt, erwarten, hier die Stimme Gottes zu hören und seinen Willen in den klaren Aussagen der Schrift zu erfahren.
Das ist also die entscheidende erste Entdeckung, die Luther macht – die Voraussetzung für alles, was dann folgen wird: sola scriptura, allein die Heilige Schrift.
Auch uns bleibt dieser praktische Weg letztlich nicht erspart, den Luther gehen musste. Wenn wir Gewissheit darüber finden wollen, ob man Gott wirklich in diesem Buch, in dieser Urkunde begegnen kann, dann müssen wir denselben Weg gehen wie er. Wir müssen uns die Mühe machen, die Schrift zu studieren.
Wir sind zwar nicht so souverän im Griechischen und Hebräischen, den Ursprachen des Neuen und Alten Testaments, wie Luther es war. Trotzdem gibt es viele gute Übersetzungen – auch dank Luthers Mitarbeit –, durch die man authentisch dem Text und der Bedeutung der Bibel nahekommen kann.
Auch uns bleibt dieser Weg nicht erspart, zu prüfen, ob dieses Buch tragfähig ist und ob es einen Weg findet zu unserem Denken und unserem Herzen.
Was Luthers Glaubwürdigkeit enorm unterstreicht, ist die Tatsache, dass er für diese Entdeckung und das Propagieren dieser Entdeckung Kopf und Kragen riskiert hat. Schon bald schlägt das Imperium zurück.
Hier noch einmal zwei Zitate aus den Thesen, in denen er sagt: „Deshalb irren jene Ablassprediger, die sagen, dass durch die Ablässe des Papstes der Mensch von jeder Strafe frei und los werde“ und in These 27 über die Menschenlehre. Also Menschenlehre im Unterschied zu dem, was Gott sagt, im Unterschied zu dem, was die Bibel zeigt. Menschenlehre verkündigen diejenigen, die sagen, dass die Seele aus dem Fegefeuer emporfliege, sobald das Geld im Kasten klingt. Das war ein Angriff auf das System.
Und wie gesagt, das Imperium schlägt zurück. Im Herbst 1518 muss sich der Mönch nun in Augsburg verantworten. Die Kurie beginnt einen Ketzereiprozess gegen ihn. Er tritt zum Augsburger Verhör durch den päpstlichen Gesandten Cajetan im Herbst 1518 an.
Im Sommer 1519 folgt dann die berühmte Disputation in Leipzig mit Johann Eck. Das war eine Hochkultur des theologischen Streits. Sie standen sich dort an zwei Pulten gegenüber und tauschten Argumente aus. Luther erinnerte daran, dass der Papst niemals die gleiche Autorität beanspruchen kann wie die Bibel, denn auch Päpste und Konzilien können irren.
Kaiser Karl will Ordnung haben. Er, der ein universales Reich anstrebt, möchte dieses gern durch eine universelle Kirche stützen. Deshalb hat der Kaiser, genauso wie der Papst, ein substanzielles Interesse daran, die lutherische Bewegung zum Schweigen zu bringen.
Er beruft einen Reichstag nach Worms ein. Immerhin gelingt es Luthers Kurfürst durch zähes Verhandeln, dass Luther seine Position vor dem Reichstag noch einmal erläutern darf und dass ihm freies Geleit zugesichert wird. Aber was bedeutet freies Geleit?
Luther wusste sehr genau, dass einer seiner Vorgänger, nämlich Johann Hus, Rektor der Prager Universität und jener Mann, der hundert Jahre früher schon gesagt hatte, die heilige Schrift stehe höher als der Papst, freies Geleit zum Konzil nach Konstanz zugesichert bekommen hatte. Das Ergebnis dieses freien Geleits war jedoch, dass er auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde.
Damit musste auch Luther im Letzten rechnen: dass diese Reise nach Worms möglicherweise eine seiner letzten sein würde. Aber er wagt es, weil er in seinem Gewissen an diese Wahrheit gebunden ist.
Jetzt kommt also die Reise in den Süden nach Worms. Am 17. und 18. April steht Luther dort vor dem Reichstag, vor den versammelten Fürsten und Reichsständen. Er verantwortet sich vor dem Kaiser. Zweimal muss er innerhalb von zwei Tagen seine Position darlegen. Man fordert ihn auf, endlich zu widerrufen.
Nach einem Moment Bedenkzeit und dem Wissen darum, dass dies seinen Tod bedeuten könnte, antwortet Luther:
„Es sei denn, dass sich durch Zeugnisse der Schrift, also der Bibel, oder durch klare Gründe der Vernunft, also durch eindeutige Argumentationen auf dem Boden des Wortsinns der Bibel, überführt werde; es sei denn, denn ich glaube weder dem Papst noch den Konzilien allein, da feststeht, dass sie öfters geirrt und sich selbst widersprochen haben. So bin ich überwunden durch die von mir angeführten Schriftstellen und mein Gewissen ist gefangen in Gottes Wort. Daher kann und will ich nichts widerrufen, da es weder sicher noch recht ist, gegen das Gewissen zu handeln.“
Hier zeigt sich die klassische evangelische Berufung auf das Gewissen.
Dann verlässt Luther den Tagungssaal. Er wird nicht verhaftet. Ein Schutzbrief gewährt ihm 21 Tage freies Geleit. Am 25. April tritt er die Rückreise an.
Jetzt tickt die Uhr. Der Kaiser verhängt die Reichsacht. Von nun an ist es verboten, Luther zu unterstützen. Es ist verboten, seine Schriften zu lesen oder zu drucken. Wer ihn findet, kann ihn festsetzen oder – lieber gleich – umbringen. Wahrscheinlich hofft man auf einen wirkungsvollen Anschlag.
Aber Luther weiß, dass sein Kurfürst etwas geplant hat. Er schreibt an seinen Freund Lucas Cranach am 28. April: „Ich lasse mich eintun und verbergen, ich weiß selbst nicht wo.“
Dann kommt es nach dem Reichstag zu Worms zu dieser inszenierten Entführung auf der Rückreise – hier auf die Burg Wartburg in Eisenach. Dort wird Luther gewissermaßen aus der Öffentlichkeit herausgenommen. Es gibt Gerüchte, dass er möglicherweise umgebracht worden sei.
Aber hier hat ihn sein Kurfürst, sein Landesfürst, erstmals in Sicherheit gebracht. Hier findet Luther nun die Zeit, die Bibel zu übersetzen, zunächst das Neue Testament. Und so ganz nebenbei entwickelt er auch noch die deutsche Sprache in einer Weise, wie es das vorher nie gegeben hat.
Hier versucht er, die Worte zunächst des Neuen Testaments aus dem Griechischen so zu übersetzen, dass die Menschen sie wirklich verstehen können. „Er schaut dem Volk aufs Maul“, wie er sagt.
Hier entstehen Begriffe, die wir noch heute ganz selbstverständlich verwenden: die Zähne zusammenbeißen, ein Buch mit sieben Siegeln, ein Herz und eine Seele, der Wolf im Schafspelz, Gewissensbisse, Lückenbüßer, Schandfleck, Machtwort, Selbstverleugnung – alles von uns selbstverständlich verwendete Begriffe.
Damals hat Luther sie dort gewissermaßen gefunden und eingebracht in die Übersetzung der Bibel.
1521, hier hatte er sich als Junker Jörg ja quasi verkleidet – das war sein Inkognito. Heute hätte er wahrscheinlich einen Hut mit breiter Krempe und Sonnenbrille getragen. Er schreibt einmal: „Ich bin mir selber fremd geworden, ich lebe hier im Reich der Vögel.“
Er hat oft die Einsamkeit nur schwer ertragen können. Es kamen Freunde, die ihn besucht haben und die ihm bei der Bibelübersetzung halfen.
Aber hier entsteht dieses literarische Meisterwerk, zunächst des Neuen Testaments. Später wird er dann am Alten Testament weiterarbeiten – die Entdeckung einer Quelle.
Und wenn wir heute als Zeitgenossen des einundzwanzigsten Jahrhunderts klären wollen, ob das für uns tragfähig ist, dann müssen wir denselben Weg gehen: dass wir diese Quelle studieren und sie mit unseren Fragen konfrontieren.
Bleibt die wichtigste Frage, die wir uns für den Schluss aufgehoben haben: Wie ist es mit Luthers Suche nach dem Lebenssinn?
Hier sehen Sie noch einmal ein Arbeitszimmer dort auf der Waldburg. Das kann man heute besichtigen. Wahrscheinlich war es nicht unbedingt dasselbe Arbeitszimmer, zumindest hing damals noch kein Lutherbild dort, als er dort arbeitete.
Aber wie war es nun mit seiner Schicksalsfrage? Was fand Luther in der Heiligen Schrift? Der Historiker ist in der glücklichen Lage, dass Luther selbst das ausführlich beschrieben hat. In einem Rückblick auf sein Leben und sein theologisches Schaffen, ein Jahr vor seinem Tod im Jahr 1545, beschreibt er, wie er sich dort in diesen Räumen aufhielt. Das ist heute das Lutherhaus in Wittenberg. Es war das frühere Augustinerkloster, in dem Luther mit einem ehemaligen Kollegen lebte.
Man sagt, dass es dort ziemlich wüste Zustände gegeben habe und teilweise schon die Wanzen in den Kissen ihre Heimat gefunden hatten. 1525 heiratete Luther dann diese Frau, Käthe von Bora. Sie war eine Nonne, die das Kloster aus Überzeugung verlassen hatte. Luther suchte für sie einen Mann, damit sie existieren und in dieser neuen Freiheit bestehen konnte. Schließlich, nachdem er keinen Mann für sie gefunden hatte, heiratete er sie selbst.
Allerdings frage ich mich, wenn man liest, was Luther später über sie schreibt, ob er wirklich ernsthaft gesucht hat. Er hat sie sehr geliebt. Sie war ihm eine selbstbewusste, starke Hilfe in seinen theologischen Herausforderungen.
Aber wie ist das nun mit der Frage nach der Ewigkeit? Drittens und letztens: die Entdeckung einer Person. Luther kehrt immer wieder zum Neuen Testament zurück, speziell zum Römerbrief des Apostels Paulus. Er stellt dem Römerbrief die Frage, die Uhlbeck beantwortet wissen wollte: Wie ist es nun mit Gott und Ewigkeit?
Dort im Römerbrief entfaltet der Apostel Paulus, wie ein normaler Mensch, wie ein Mensch, der Gott durch seinen Unglauben beleidigt hat und Gottes Liebe ignoriert hat – wie jeder normale Mensch, der seine Gebote missachtet hat –, wie dieser normale Mensch, wie dieser Sünder, wie Paulus sagt, mit Gott versöhnt werden kann.
Und das war ja Luthers Frage: Was kommt? Wie steht er zu mir? Wie kann ein sterblicher Mensch ewiges Leben erhalten?
Der Apostel Paulus macht dort deutlich, dass, wenn Gott seine eigenen Maßstäbe konsequent anwenden würde, er jeden Menschen verurteilen müsste. Denn jeder Mensch hat gegen Gottes Gebote und gegen Gottes Ehre gelebt, ob ihm das bewusst ist oder nicht. Wer so ohne Gott leben will, der muss ohne Gott sterben und auf ewig von ihm getrennt bleiben.
Diese ewige Gottestrennung bezeichnet Paulus genauso wie Jesus als Hölle beziehungsweise Verdammnis. Aber Gott will seine Menschen, denen er das Leben geschenkt hat, retten. Er will ihre Sünden vergeben und ihnen ewiges Leben schenken statt ewiger Verdammnis.
Paulus stellt nun die Frage: Wie kann Gott einerseits seinen eigenen Maßstäben treu bleiben, er, der heilig und vollkommen ist, und zugleich den Menschen ihre Schuld vergeben? Wie kann Gott gerecht bleiben, wenn er die Schuldigen nicht verurteilt?
Es gibt nur einen Ausweg. Dieser Ausweg besteht darin, dass Gott die Strafe, die wir Menschen verdient hätten, stellvertretend an seinem eigenen Sohn vollstreckt. Nur so kann Schuld gesühnt werden – an Gottes eigenem Sohn – und gleichzeitig eine Chance auf Rettung für die Menschen geschaffen werden.
Deshalb sendet Gott seinen eigenen Sohn Jesus Christus in die Welt hinein. Deshalb nimmt Jesus diesen grauenvollen Tod am Kreuz auf sich, obwohl er ihn durchaus hätte vermeiden können, wenn er es gewollt hätte.
Das Kreuz ist jedoch nicht der Endpunkt. Am Freitag wird Jesus getötet, am Sonntag besiegt er den Tod durch seine Auferstehung. Das Grab kann ihn nicht festhalten. Jesus erweist sich als stärker als der Tod, und Gott beglaubigt Jesus als seinen Sohn, indem er ihn über den Tod triumphieren lässt.
Zum Beweis dieses realen Geschehens begegnet Jesus zahlreichen Augenzeugen, die seine Auferstehung bestätigen. Nach 40 Tagen, so sagen die Evangelien, kehrt er in Gottes ewige Welt zurück, die uns Menschen heute noch unsichtbar ist.
So schafft Jesus durch Kreuzigung und Auferstehung die Basis, die Voraussetzung dafür, dass die Schuld der Menschen vergeben werden kann. Er trägt unsere Strafe und überwindet unseren Tod.
Es ist wie ein Unschuldiger, der für einen mehrfachen Mörder auf den elektrischen Stuhl geht und als Stellvertreter dessen Platz einnimmt. Damit, so Paulus, ist die Tür zu Gott wieder geöffnet – durch Gott selbst.
Die letzte Frage, die bleibt, lautet nun: Wie kann ein Mensch durch diese Tür hindurchgehen? Wie bekommt ein normalsterblicher Mensch Anteil an diesem Geschenk der Vergebung?
Die Antwort ist Paulus. Das ist die Antwort, die Luther 1500 Jahre danach wiederentdecken wird: Allein durch den Glauben, sola fide.
Glauben bedeutet, ich vertraue Gott, ich akzeptiere sein Urteil über mein Leben. Ich gebe zu, dass ich Vergebung und Rettung brauche. Ich vertraue dem Zeugnis dieser Quelle, dass Jesus’ Sühnetod am Kreuz auch um meinetwillen geschah und er auch dort meine Strafe erlitten hat.
Ich glaube, dass die Auferstehung wirklich eine historische, echte Tatsache ist und nicht nur eine religiöse Geschichte oder ein Mythos. Ich rufe den auferstandenen Jesus Christus im Gebet an und bitte ihn, mein Retter zu werden.
1517, beim Thesenanschlag, hatte Luther diese Gewissheit noch nicht. Er hatte schon viel entdeckt, aber er wird über diese Zeit einmal sagen: „Wenn ich wüsste, dass Gott mir gnädig ist, würde ich vor Freude einen Luftsprung machen.“
Dann kommt das Jahr 1518, etwa ein Jahr nach dem Thesenanschlag. Luther gräbt sich immer tiefer in die Bibel hinein, wie ein Tastender, der den Boden unter den Füßen zu gewinnen versucht. Dann stößt er an diese Stelle des Apostels Paulus, wo Paulus schreibt im Römerbrief: „Ich schäme mich des Evangeliums von Jesus Christus nicht, denn es ist eine Kraft Gottes.“
Warum? Hier offenbart Gott die Gerechtigkeit des Glaubens für den, der glaubt.
Luther selbst hat uns den Ort mitgeteilt, an dem er diese Entdeckung gemacht hat: im Hypokaustum. Das war ein Turm, der damals zu diesem Kloster gehörte, zu diesem ehemaligen Kloster. Der Turm ist nicht mehr da, aber Sie können an einer Wand in diesem Haus noch ein verputztes Loch besichtigen, durch das hindurch man wahrscheinlich die Tür erkennen kann, wo es früher zum Turm ging.
Hier in diesem Turmzimmer, das das einzige war, das man heizen konnte, entdeckt Luther diese Wahrheit, die Paulus im Auftrag Gottes im Römerbrief beschreibt. Da fängt er an zu verstehen, was Gerechtigkeit Gottes bedeutet.
Luther sagt, dass er diesen Begriff eigentlich gehasst hatte, weil er ihn immer so verstanden hatte: Gerechtigkeit – das Evangelium offenbart Gottes Gerechtigkeit, das Evangelium offenbart Gottes Maßstab, das Evangelium offenbart Gottes Vollkommenheit.
Und wenn ich den Maßstab Gottes, seine Vollkommenheit und Heiligkeit ernst nehme und mich daran messe, dann kann ich nur scheitern.
Er studiert weiter und plötzlich merkt er: Ich bin ja völlig auf dem Holzweg. Paulus sagt hier etwas völlig anderes. Er sagt, dass Gottes Gerechtigkeit dem geschenkt wird, der glaubt.
Gottes Gerechtigkeit ist nicht seine Messlatte, sondern sein Freispruch. Gottes Gerechtigkeit wird dem zugerechnet, der diesem Plan vertraut, der realisiert wurde, um Sünder zu retten.
Als Luther das begreift, als er merkt: Mensch, Paulus sagt ja, durch den Glauben werde ich dessen gewiss, bekomme ich Anteil daran. Durch den Glauben vergibt mir Gott. Ich muss nur dem vertrauen, was Christus getan hat, und zugeben, wie sehr ich ihn brauche.
In dem Moment erschließt sich dem Professor Martin Luther der gesamte Römerbrief.
Luther hat es dann sehr bewegend beschrieben. Er sagt: „Ich habe Gott geradezu gehasst, weil er uns durch seine Gerechtigkeit einen Maßstab aussetzt, an dem wir scheitern müssen, bis ich dank Gottes Erbarmen unablässig Tag und Nacht darüber nachdenkend auf den Zusammenhang der Worte aufmerksam wurde, nämlich: Gottes Gerechtigkeit wird darin offenbart, wie geschrieben steht: ‚Der Gerechte lebt aus Glauben.‘ Da begann ich, die Gerechtigkeit Gottes zu verstehen als die, durch die, als durch Gottes Geschenk der Gerechte lebt, nämlich aus Glauben.
Da hatte ich das Empfinden, ich sei geradezu von neuem geboren und durch geöffnete Tore in das Paradies selbst eingetreten. So sehr ich vorher die Vokabel ‚Gerechtigkeit Gottes‘ gehasst hatte, so pries ich sie nun mit großer Liebe als das mir süßeste Wort. So ist mir diese Paulusstelle wahrhaftig das Tor zum Paradies geworden.“
Das schreibt Luther ein Jahr vor seinem Tod als Bilanz seines Lebens.
Von da an explodiert die Reformation. Von da an explodieren seine Predigten. Von da an kommt eine völlig neue Freude und Fröhlichkeit als Ton in Luthers Schriften hinzu.
Er kann vom fröhlichen Wechsel sprechen und den Vergleich vor die Augen seiner Leser malen, wie Christus, der reiche Bräutigam, den Sünder, das arme Mädchen voller Schulden, heiratet. Dadurch kommt plötzlich der Reichtum des Bräutigams auch diesem armen Mädchen zugute, und alle ihre Schulden, die sie vorher hatte, werden von dem Bräutigam übernommen.
Das ist sozusagen der fröhliche Wechsel: Christus tritt für mich ein.
Luther kann jetzt sagen: Christus und ich sind wie ein Kuchen. Vorher waren die Zutaten getrennt, aber jetzt sind Christus und ich so ineinander verrührt, miteinander gebacken, dass sie untrennbar sind.
Ich kann ihm anvertrauen, ich weiß, dass er lebt. Ich vertraue auf seine Zusage, dass er den Sünder rettet. Ich glaube ihm, dass er mir ewiges Leben schenkt, dass er meine ganze Existenzfrage im Letzten beantwortet und dass ich mich auf ihn als meinen guten Hirten verlassen kann – für die Herausforderungen, denen ich in dieser Welt noch ausgesetzt sein werde.
Damit schließt sich der Kreis unserer Überlegungen. Wir hatten gefragt: Können Luthers Entdeckungen für uns heute bedeutsam sein? Was kann Luthers Schicksalsfrage für den Zeitgenossen des Jahres 2017 bedeuten – für die Uhlbecks, die Beckenbauers, die Fleischhauers und möglicherweise auch für uns?
Wir haben versucht zu zeigen, was die beiden entscheidenden Entdeckungen der Reformation waren. Zum einen die Entdeckung dieser Quelle, sola scriptura, und durch diese Quelle dann zweitens die Entdeckung einer Person: die Entdeckung des Jesus Christus, des Sohnes Gottes, Solus Christus – Christus allein rettet.
Ist die Beziehung zu unserem Ausgangsbeispiel von Flemming, denke ich, offenkundig. Auch hier, bei dem, was Luther entdeckt, geht es um Rettung. Aber nicht nur um Rettung vor einer medizinisch zu diagnostizierenden Krankheit, sondern um die Rettung vor der, wie Sören Kierkegaard das genannt hat, Krankheit zum Tode. Luther hat hier seinen Frieden gefunden, und jeder von uns wird sich fragen: Ist das auch der Ort, wo ich meinen Frieden mit Gott finde?
Deshalb schließe ich mit dem Beispiel von einem der besten Freunde Luthers, Lukas Cranach. Cranach war kein Theologe, er war Künstler und Geschäftsmann. Aber Cranach wurde zutiefst bewegt und beeindruckt von dem, was Luther entdeckt hatte, und er wurde daraufhin zum Maler der Reformation.
Das Thema, das er immer wieder in unterschiedlichen Facetten präsentierte, war diese Rettung des Sünders, die Rechtfertigung des Sünders durch das Vertrauen auf den auferstandenen Christus, der am Kreuz stirbt und die Schuld für uns trägt.
So ist auch dieses Bild entstanden, das Vater Cranach begann und das sein Sohn dann 1555 vollendet hat. Der Künstler steht hier rechts unten, wenn Sie das sehen, gemeinsam mit seinem Freund Luther unter dem Kreuz Jesu Christi. Der Reformator zeigt auf die Bibel und sagt: „Hier steht alles drin, was wir wissen müssen, das ist die Quelle.“
Auf der anderen Seite von Lukas Cranach sehen Sie Johannes den Täufer, den Vorläufer Jesu Christi, der die Zeitgenossen des ersten Jahrhunderts zusammengerufen hatte und gesagt: „Jetzt kommt der Sohn Gottes, werdet wach, verpasst ihn nicht.“
„Siehe, das ist Gottes Lamm“, hatte Johannes der Täufer gesagt, in Anlehnung an alttestamentliche Vorhersagen, das der Weltsünde trägt.
Cranach zeichnet sich selbst in dieses Drama hinein, zwischen Luther und Johannes den Täufer. Er selbst steht unter dem Kreuz. Und er will damit sagen: „Hier gehöre ich hin, denn Jesus starb auch für mich.“
Kranach wird diese sehr persönliche Anwendung des Kreuzes durch eine symbolische Hervorhebung besonders unterstreichen, die man an diesem Teilbild erkennen kann. Sie sehen den Blutstrahl aus der Wunde Christi, den Kranach so gestaltet hat, dass er direkt auf seinen eigenen Kopf zielt.
Damit will der Maler bekennen: Christus starb für mich. Und ich nehme das für mich persönlich in Anspruch, was vor tausendfünfhundert Jahren geschah, weil es für mich gilt.
Ich verlasse mich darauf, dass dieser Christus auch mein Retter geworden ist, wie er Luthers Retter wurde und der Retter des Paulus. Und ich will ihm glauben.
Wenn Sie genau hinschauen, dann sehen Sie, wie Kranach den Blick auf den Betrachter seines Bildes richtet. Wenn Sie genau hinschauen, dann schaut er Sie genau an, so als wollte er Sie und mich fragen: „Und du, wie stehst du zu Jesus, und worauf kannst du dich wirklich verlassen?“