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Abrahams Muttersöhnchen als Schlachtvieh?
Abraham hat einen lebendigen Gott, der es ernst nimmt und der Ernst macht. Und wenn es Dir auch ernst ist, dann musst du diesen Gott haben. Wer ihn hat, der hat nämlich auch offene Ohren, offene Hände und offene Augen. - Predigt vom Jugendgottesdienst in der Stuttgarter Stiftskirche

Die Agamemnon-Sage war noch zu begreifen, liebe Freunde. An der Penne hörte ich vom Krieg gegen Troja. 1200 Kriegsschiffe lagen an der Küste von Aulis zur Ausfahrt bereit. Die See aber war glatt wie ein Teppich. Kein Hauch bewegte die Segel. Die Boote dümpelten im Wasser. In äußerster Bedrängnis entschloss sich König Agamemnon zum Letzten. Er opferte seine Tochter Iphigenie auf dem Zeusaltar: ein Kind für den Wind! Welche Rettung des Vaterlands. Unser Lehrer bekam feuchte Augen und verlor die Fassung. Die Agamemnon-Sage ist noch zu fassen, aber die Abraham-Story ist unfasslich. Jahrelang wartet ein Mann auf den Sohn, obwohl er schon ein alter Knabe ist. Endlich wird Isaak geboren, der Stammhalter, der Segensträger, der Zukunftsgarant. Lachsalven brechen los, dass die Zeltheringe wackeln. Abraham ist ganz verrückt vor Freude. In lauter Fürsorglichkeit überkugelt er sich und kegelt den Halbbruder Ismael mitsamt seiner Mutter aus dem Camp. Unliebsame Konkurrenten werden immer in die Wüste geschickt. Isaak ist der Prinz. Und dieses Muttersöhnchen soll Schlachtvieh werden! Und dieser Vaterstolz soll auf einem Steinhaufen verbluten! Diesem Isaak will Abraham an die Gurgel! Das ist nicht zu fassen. Hat der Mann getrunken? Kindsmörder pflegen sonst vor der Untat zwei Liter Wein, drei Flaschen Bier und fünf Schnäpse zu trinken. Hat der Mann eine Krankheit? Gewaltverbrecher leiden zuweilen an endogenen Depressionszuständen. Hat der Mann noch alle Tassen im Schrank? Totschläger sind manchmal geisteskrank. Aber Abraham hat keine Promille, keinen Knacks und keinen Tick, dieser Mann hat einen Gott. Gewiss keinen lieben Gott, der immer ein Auge zudrückt und fünfe grad sein lässt; gewiss keinen laschen Gott, der im Lehnstuhl sitzt und die Zügel schleifen lässt; gewiss keinen läppischen Gott, der mit Filzpantoffeln über den Globus latscht. Abraham hat einen lebendigen Gott, der es ernst nimmt und der Ernst macht. Und wenn es Dir auch ernst ist, dann musst du diesen Gott haben. Wer ihn hat, der hat nämlich auch offene Ohren, offene Hände und offene Augen. Das ist an dieser unfasslichen Story zu fassen.

1. Abraham hat offene Ohren, obwohl er tausend Dinge um die Ohren hat. Zuerst heult ihm König Abimelech in die Ohren, dass er sich nicht an seiner Frau vergriffen habe. Dann liegt ihm Sara in den Ohren, er solle endlich diese Hagar zum Teufel jagen. Schließlich schwätzt ihm der Beduinenscheich Pichol wegen den Wasserbrunnen die Ohren voll. Am liebsten würde er sich jetzt aufs Ohr hauen und Siesta halten. Aber dann ruft Gott: Abraham! Und er sagt nicht: Hier träume ich; das kann doch nicht wahr sein. Er sagt auch nicht: Hier überlege ich; der Lot ist gemeint, nicht ich. Er sagt erst recht nicht: Hier penn ich; bitte jetzt keine Ruhestörung! Abraham antwortet: Hier bin ich! Sofort ist er voll da. Wenn Gott ihn ruft, dann spitzt er die Ohren.

Und wenn Gott uns ruft, dann verstopfen wir die Ohren. Gott hat nicht nur im Nomadenzelt gesprochen. Er hat nicht nur in der Stiftshütte geredet. Er meldet sich auch in der Stiftskirche zu Wort. Jedesmal wenn diese Bibel aufgeschlagen wird, dann ruft er dich beim Namen. Deine Nummer ist gefragt. Du bist gemeint. Das ist kein Traum, der nicht wahr sein darf. Das ist kein Anruf, der den Nebensitzer angeht. Das ist keine Ruhestörung, die dich aus deinem Dämmerstündchen aufschreckt. Das ist Gottes Stimme, die dir durch Mark und Pfennig gehen will. Vielleicht hast du auch viel um die Ohren: die Lehrer schimpfen, die Alten weinen, die Kumpels maulen, die Freundinnen flennen. Am liebsten würdest du Ohropax in die Ohren stecken. Aber Gott ruft. Seine Stimme ist wichtig. Ohne sie bist du führerlos, herrenlos, gottlos. Abraham hat offene Ohren - und das Zweite:

2. Abraham hat offene Hände, obwohl er fast leere Hände hat. In seiner Heimatstadt Ur ließ er schon das Meiste zurück: seinen Lehmbungalow, seinen Händlerjob, seinen Stammtisch. Um Gottes willen ließ er seine ganze Vergangenheit und Gegenwart sausen. Jetzt hält er mit seinem Sohn Isaak nur noch die Zukunft in Händen. Und Gott befiehlt: Opfere ihn! Jetzt muss doch Abraham mit seinen Händen abwehren: Herr, bei aller Liebe, mein Herzstück nicht! Jetzt muss er doch mit seinen Händen auf die Hammelherde zeigen: Herr, nimm dafür den schönsten Bock, den ich besitze! Jetzt muss er doch mit seinen Händen eine Faust machen, gegen den Himmel ballen und aus Leibeskräften brüllen: Du entsetzlicher Gott! Du maßloser Gott! Du grausamer Gott! Abraham aber nimmt wortlos den Buben und führt ihn nach Morija. Er will alles aus der Hand geben, um ganz mit Gott zu leben. Er will alles aus der Hand lassen, um ganz Gottes Hand zu fassen. Nur leere Hände packen richtig. Packen wir das?

Wir haben auch schon einiges gegeben, nicht so viel wie Abraham, aber immerhin: unser Jawort bei der Konfirmation, unser Silberstück bei der Opfersammlung, unsere Mithilfe bei der Christbaumaktion, unseren Gottesdienstbesuch am Sonntagabend. Aber einiges behalten wir in der Hinterhand: das Beste, das Teuerste, das Liebste: den Freund, die Freundin, den Beruf, die Karriere, den Erfolg, das Glück. Jeder hat seinen Isaak. Er hat nur einen andern Namen. Wie heißt er bei dir? Und Gott befiehlt: Opfere ihn! Der Abrahamtest ist kein Sondertest für Superfromme, sondern der Regeltest für jeden Christen. Könntest du deinen Freund lassen? Könntest du deine Freundin hergeben? Könntest du deinen Beruf an den Nagel hängen? Könntest du deine Karriere opfern? Ich frage nur, könntest du es? Gott will nicht nur den kleinen Finger, sondern die ganze Hand. Deshalb kralle dich an niemand und an nichts fest. Gib Gott die Hand und du hast mehr in Händen, als du je ahnen kannst. Abraham hat offene Hände - und das Dritte:

3. Abraham hat offene Augen, obwohl er am liebsten die Augen verschließen möchte. Die Szene ist furchtbar. Er sieht in der Ferne die Knechte mit dem Reittier, die er zurückgelassen hat. Er sieht in der Nähe den Buben, dem man das Brennholz geschultert hat. Er sieht vor sich die Steine, über die das Blut schießen soll. Er sieht neben sich das Messer, mit dem ein Kind ermordet wird. Er sieht das alles, aber er sieht noch etwas. Er sieht hinter sich den Widder, der an der Stelle des Knaben stirbt. In aller Dunkelheit entdeckt er das Licht. In aller Schrecklichkeit entdeckt er die Liebe. In aller Grausamkeit entdeckt er die Barmherzigkeit. Das ist der Punkt, auch wenn wir nicht mehr auf dem Morija stehen, sondern auf Golgatha. Dieser Hügel vor Jerusalem ist uns doch bekannt. Die Szene ist noch furchtbarer. In der Ferne die Knechte, die dem Sohn die Kleider vom Leib gerissen und seine Haut gegerbt haben. In der Nähe der Geschundene, dem man das Schimpfholz geschultert hat. Vorne die Richtstätte, wo nur Verbrecher ihr Leben aushauchen. Daneben Hammer und Nägel, mit denen der Gebeutelte ermordet wird. Und hinten ist kein Gestrüpp, in dem sich ein Tier verfangen kann. Und hinten ist kein Ersatzopfer, das jetzt gepackt werden könnte. Und hinten ist keine Stimme, die im letzten Augenblick "halt" ruft und das Schlachten verbietet. Der Hammer hämmert, der Spieß sticht, die Nägel dringen ein. Jesus Christus lässt seinen Kopf fallen und stirbt.

Am liebsten möchte man die Augen verschließen, aber mach die Augen auf! In dieser Dunkelheit ist Licht. In dieser Schrecklichkeit liegt Liebe. In dieser Grausamkeit steckt alle Barmherzigkeit. Dieser Gott verlangt nur das, was er sich selber abgefordert hat. Er gibt seinen einzigen Sohn hin. Dieses Opfer, an unserer Statt und uns zugut, ist sichtbares Zeichen, ja greifbares Pfand dafür, dass auch in schwersten Stunden in dunkelsten Nächten, in schwierigsten Augenblicken auf ihn felsenfest Verlass ist. Und wenn dein Lebensweg stockfinster wird, vielleicht ist deine Mutter krank, vielleicht stirbt dein Vater, vielleicht verlierst du deine Arbeitsstelle, vielleicht entdecken sie bei dir ein Sarkom oder Karzinom, das unheilbar ist, wenn das so ist, dann verschließe nicht die Augen und heule über deinen Holzweg. Mach die Augen auf und entdecke den Morijaweg, der deinen Glauben testet und dich trotz allen Windungen ans richtige Ziel bringen wird.

Also um deine Augen geht’s, um deine Hände und um deine Ohren, einfach deshalb, weil es um Gott geht. Ohne deinen Gott geht nichts in deinem Leben.

Amen