Augenblick

Konrad Eißler
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Wir erleben Sternstunden, Schickssalsstunden oder Abschiedsstunden. Aber Paulus mahnt: Vergesst eure Stunden! Werft den Blick auf den Augenblick! Wer diesen Durch­blick hat, wird jeden Augenblick mit ihm rech­nen, durch ihn füllen und auf ihn hoffen. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart


Zeiten haben wir schon erlebt, Zeiten, von denen wir tagelang erzählen könnten.

Kriegszeiten zum Beispiel, als wir jede Nacht im Keller hockten und vor dem nächsten Luftangriff zitterten. Der Vater war im Feld und der Bruder bei den Flakhelfern. Nicht nur einmal flogen die Fenster heraus und mussten mit Pappe ersetzt werden. Kriegszeiten, oder Nachkriegszeiten zum Beispiel, als wir mit dem Leiterwägelchen loszogen, um zu hamstern. Weil wir keine Ami-Zigaretten besaßen, bekamen wir auch nichts. Die Mutter musste Bratkartoffeln ohne Fett auftischen. Nachkriegszeiten, oder Krankheitszeiten zum Beispiel, als wir immer schwächer wurden und schließlich im Krankenhaus landeten. Die Ärzte machten ernste Gesichter und die Schwestern sagten kein Wort. Sollte das Leben schon in der Mitte des Lebens zu Ende sein? Krankheitszeiten.

Zeiten waren das! Was für Zeiten? “Von den Zeiten ist nicht nötig euch zu schreiben.” Der Apostel hat recht. Die sind uns ins Gedächtnis geschrieben und Stunden haben wir schon erlebt, Stunden, von denen wir stundenlang berichten könnten.

Sternstunden zum Beispiel, als wir unseren Stern zum Traualtar führen konnten. Die Schwiegermutter war schließlich unter Zurückstellung erheblicher Bedenken mit der Ehe einverstanden. Der Himmel hing voller Bassgeigen. Sternstunden, oder Schicksalsstunden zum Beispiel, als wir mit dem Auto in die Leitplanken krachten. Gott sei Dank hielt der Gurt. Unversehrt entstiegen wir einem Trümmerhaufen. Schicksalsstunden, oder Abschiedsstunden zum Beispiel, als wir die Tochter aus dem Haus geleiteten. Ohne große Ankündigung hatte sie ihre Sachen gepackt. Sie wollte jetzt einfach mit ihrem Freund zusammenziehen. Abschiedsstunden.

Stunden waren das! Was für Stunden? “Von den Stunden ist nicht nötig euch zu schreiben.” Der Apostel hat wieder recht. Die sind uns ins Herz geschrieben. Aber, das ist die Frage, ist uns über diesen Zeiten und Stunden nicht der Augenblick seines Kommens aus dem Blick gekommen? Kennen wir noch Daniel 7: “Und siehe, er kommt auf den Wolken des Himmels?” Wissen wir noch Jesaja 2: “Der Tag des Herrn wird kommen!” Glauben wir noch Jesus selbst, der gesagt hat: “Ich werde wiederkommen”?

Nichts ist so sicher wie dieser Termin. Deshalb mahnt der Apostel: Lasst einmal eure Zeiten! Vergesst einmal eure Stunden! Werft den Blick auf diesen Augenblick!

Das ist kein Seitenblick auf eine Illusion, wie Max Frisch meinte, als er schrieb: “Sein Reich komme! Nichts auf Erden ist wirklicher als diese Illusion!” Das ist kein Fernblick auf den Sankt-Nimmerleinstag, wie Bert Brecht meinte, als er dichtete: “Der Tag steht in den Türen, ihr könnt den Nachtwind spüren. Es kommt kein Morgen mehr.” Das ist kein Angstblick auf den Tag X, der in immer schrecklicheren Horrorvisionen abgefilmt wird und nur noch den verwüsteten “day after” übrig lässt. Nein, das ist der Durchblick auf den Augenblick seines Kommens, den Philipp Nicolai so beschrieb:

“Zion hört die Wächter singen,
das Herz tut ihr vor Freude springen,
sie wachet und steht eilend auf.
Ihr Freund kommt vom Himmel prächtig,
von Gnaden stark, von Wahrheit mächt­ig,
ihr Licht wird hell, ihr Stern geht auf.”

Wer diesen Durch­blick hat, der wird, und so erläutert es der Völkerapostel Paulus seiner Gemeinde in Thessalonich, jeden Augenblick mit ihm rech­nen, jeden Augenblick durch ihn füllen und jeden Augenblick auf ihn hoffen.

1. Jeden Augenblick mit Jesus rechnen

Der Kaminfeger klebt einen Zettel an die Gartentür: “Komme am Donnerstag.” Nun weiß die Haus­frau, dass sie ihr Damenkränzchen absagen muss. Der Autovertreter kündigt seinen Besuch telefonisch an: “Bin am Samstag in Ihrer Gegend!” Nun weiß der Hausherr, dass er trotz besten Vorsätzen beim neuen Modell wieder weich wird. Die Großtante schreibt in einem Brief: “Verbringe den nächsten Urlaub bei euch!” Nun weiß die Familie, dass es diesmal mit der Erholung nichts wird.

Jesus aber macht es anders. “Der Tag des Herrn wird kommen wie ein Dieb in der Nacht.” Der Langfinger klebt keinen Zettel ans Gartentor. Der Einbrecher kündigt seinen Hausbesuch nicht telefonisch an. Der Räuber schreibt erst recht keinen Anmeldebrief. Jesus kommt unerwartet. Alle Spekulationen sind falsch. Jesus kommt unberechenbar. Alle Prognosen sind aus den Fingern gesogen. Jesus kommt unerwartet. Alle apokalyptischen Terminkalender sind Makulatur. Jesus kommt wie ein Dieb in der Nacht.

Aber nun nicht so, dass er durchs Kellerfenster unseres Lebenshauses steigt, Schränke und Schubladen durchstöbert und schließlich das Wertvollste mit­laufen lässt. Jesus kommt nur wie ein Dieb, nicht als ein Dieb, der es auf unseren Krimskrams abgesehen hätte. Als Herr tritt er durch die Haustür und steht plötzlich vor uns.

Dann mag der Eine zu ihm sagen: “Haben Sie denn das Schild an der Tür nicht gelesen? Hausieren verboten! Ich mag mit ungebetenen Gästen nichts zu tun haben. Machen Sie, dass Sie schleunigst wegkommen!” Aber Jesus kommt. Dann mag der andere zu ihm sagen: “Ich bin eben voll be­schäftigt. Jetzt geht es wirklich nicht. Kommen Sie doch später wieder vorbei.” Aber Jesus kommt. Dann mag der Dritte zu ihm sagen: “Ich habe es doch studiert, dass das Grab nicht leer war. Ihre Auferstehung ist glatter Betrug. Sie gibt es ja gar nicht!” Aber Jesus kommt entgegen allen Verboten, Wünschen und Erwart­ungen. Einmal steht er leibhaftig vor uns. Um eine Christusbe­gegnung kommt keiner herum.

Carl Friedrich von Weizsäcker , Physiker und Philosoph, sagte es vor ein paar Jahren in einem Festvor­trag so: “Die Kirche, die nicht - um die alten Worte noch einmal zu gebrauchen - auf die Wiederkunft des Herrn wartet, hat den Kern ihres Wesens, ihre Kraft aufgegeben.” Wir können es heute noch zugespitzter sagen: Der Mensch, der nicht mit der Wiederkunft des Herrn rechnet, verrechnet sich gründlich.

Der Mensch, der nicht mit der Wiederkunft des Herrn rechnet, verrechnet sich gründlich.

Nicht einmal der Tod kann uns um dieses letzte, große Zusammentreffen bringen. Wenn wir vor seinem Kommen aufs Leidenslager geworfen werden, wenn wir vor seinem Erscheinen den Todeskampf durchstehen müssen, wenn wir vor der Wiederkunft Jesu für immer die Augen schließen, dann wird unser Sterbetag zum Begegnungstag mit dem Herrn. Martin Luther hatte recht: “Auch der Tod ist eines jeden Menschen Jüng­ster Tag.”

Deshalb lasst uns nicht in den Tag hineinleben.
Lasst uns nicht die Tage einfach ausleben.
Lasst uns auf den Tag des Herrn hinleben.

Wer den Durchblick hat, der wird jeden Augenblick mit ihm rechnen.

2. Jeden Augenblick mit Jesus füllen

Das Wissen, dass der Gast jeden Augenblick im Zimmer stehen könnte, löst bei einer Haus­frau zwei mögliche Reaktionen aus. Entweder wird sie in eine hohe Aktivität verfallen, so nach dem Motto: “Jetzt aber nichts wie los!” Atemlos keucht sie zwischen Küche, Keller und Kaminzimmer. Das Wasser muss aufs Feuer, der Sekt muss ins Eis und die Blumen auf den Tisch. Jeden Augenblick wird sie mit Hektik füllen. Die Frau rotiert.

Oder, und das ist die andere Möglichkeit, sie wird in tiefe Passivität verfallen, so nach dem Satz: “Es hat ja doch alles keinen Wert mehr!” Müde lässt sie sich in den Sessel fallen. Nur nicht an nachher denken. Jeden Augenblick wird sie mit Schlaf füllen. Die Frau resigniert.

Und das ist bei Menschen nicht anders, die mit Jesus rechnen. Entweder werden sie so aktiv, dass sie nichts mehr hält. Atemlos rannten sie damals bis nach Russland oder Amerika, um die Wiederkunft nicht zu verpassen. Jeder Augen­blick war mit Hektik ausgefüllt. Oder sie werden passiv, dass sie keinen Strich mehr tun. Felder wurden nicht mehr bestellt und Häuser nicht mehr gerichtet, weil ja der Herr wiederkomme. Jeder Augenblick war mit Schlaf gefüllt.

Und der Apostel sagt: Beide Reaktionen sind falsch. Die hohe Aktivität und die tiefe Passivität sind angesichts der Realität Jesu vom Übel. Er will doch keine abgerackerten Leute, die jappend durch die Tage hetzen und sich keine Stille mehr gönnen. “Ruhet ein wenig”, hat er den Jüngern nach einem schweren Einsatz befohlen. Aber er will auch keine verschlafenen Leute, die alle Viere von sich strecken und nur noch vor sich hindämmern.

Lasst uns wachen und nüchtern sein, lasst uns arbeiten und ausruhen, lasst uns reden und schweigen, lasst uns lieben und loben, lasst uns jeden Augenblick durch Jesus füllen! Und das heißt doch, lasst jeden Augenblick so gefüllt sein, dass ihr euch nicht schämen müsst, wenn er kommt.

Als Kinder verbrachten wir unsere Ferien bei der Oma, die nicht nur ein großes Haus, sondern auch ein weites Herz hatte. Fast alles war er­laubt. Aber als wir einmal Kastanienlaub und Zeitungspapier besorgten, um daraus eigene Zigaretten zu drehen, verzogen wir uns doch vorsichtshalber ganz hinauf unters Dach. Dort entstanden jene lungenfeindlichen Glimmstengel, die jeden Kammerjäger er­setzten. Aber mitten im schönsten Tabakkollegium hörten wir langsame Schritte. Bevor wir unsere Markenerzeugnisse aus der Dachluke werfen konnten, stand die Oma vor uns. Mit ihren liebenden Augen schaute sie sich um. Noch heute schäme ich mich in den Boden hinein!

Sicher drehen wir keine Kastanienblätter mehr, aber wir drehen ganz andere Dinge: Manchmal werden krumme Sachen ge­dreht; manchmal drehen wir andern etwas an; manchmal drehen wir uns immer nur um uns selber; manchmal sind wir selber ganz ver­dreht.

Es gibt ein apokryphes Jesuswort: “Wobei ich euch antreffe, danach werde ich euch richten.“ Gewiss muss ich nicht immer in Hochform sein, aber mein Herr soll mich so finden, dass ich mich nicht in den Boden hinein schämen muss. Mein Herr soll mich so finden, dass ich nicht gerade mit Schmutzigem und Hässlichem be­schäftigt bin. Mein Herr soll mich so finden, dass ich nicht mit Kleinlichem und Gehässigem und Nichtigem und Zerstörendem meine Zeit vertrödle. Jeder Moment meines Lebens enthält einen kost­baren Augenblick, den ich nicht verplempern will.

Wer den Durch­blick hat, der wird jeden Augenblick durch ihn füllen.

3. Jeden Augenblick auf ihn hoffen

Vor uns wird der stehen, der schon auf dieser Erde gestanden ist. Der Wiederkommende ist kein anderer als der Gekommene. Jünger werden ihn sofort wiedererkennen als den Heiland, der in die Hütten der Ärmsten ging und durch Handauflegung Heilung schaffte, als den Lehrer, der sich auf den Berg setzte und seine Leute mit dem Wort unterwies, als den Gastgeber, der zu Tisch lud und die Hungrigen satt machte, als den Gekreuzigten, der am Holz hing und für uns Entsetzliches durchlitt, als der Auferstandene, der seine durchgrabenen Hände zeigte und Friede verkündigte, als der Erhöhte, der das Zepter in Händen hält und dem alle Macht gehört im Himmel und auf Erden.

Weil dem so ist, deshalb rechnen wir nicht mit einem Tag, an dem menschliche Wirrköpfe durch einen Druckknopf die Erde in einen Feuerball ver­wandeln werden. Deshalb denken wir nicht an einen Tag, an dem menschliche Hybris durch einen Befehl sich selber ausrottet. Deshalb befürchten wir nicht einen Tag neuer Sintfluten oder Sintverstrahlungen. Christen hoffen auf den Tag des Herrn, an dem es heißen wird: “Siehe, ich mache alles, alles, alles neu.”

Bei wissenschaftlichen Ausgrabungen im Sinaigebiet wurde ein im Wüstensand erhaltener Brief gefunden. Er stammte laut Unter­schrift von einer ägyptischen Bäuerin, die an eine trauernde Familie als Trost nur die resignierenden Worte schreiben konnte: “Aber freilich, nichts, aber auch gar nichts kann man hoffen. So tröstet euch denn gegenseitig.”

Liebe Freunde, der uns in der Bibel erhaltene Brief lautet anders. Er stammt laut Unterschrift von einem apostolischen Zeugen, der diese Wahrheit im Leiden er­fuhr und der es jedem Trauernden, Verzweifelten, Verletzten, Kaputten und Geschlagenen schreiben will: “Hoffe auf ihn, er wird’s wohl machen.”

Ich wünsche Ihnen keinen Augenblick ohne diesen Durchblick.

Amen


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]