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Jedes Gotteshaus ist eine Hochschule der Dankbarkeit und Danken kommt durchs Denken. Dankbarkeit ist Denkarbeit. Das älteste Glaubensbekenntnis der Bibel bringt uns auf die richtigen Gedanken. - Predigt zum Erntedankfest aus der Stiftskirche Stuttgart


Liebe Gemeinde, der Fächerkatalog im heutigen Bildungsangebot ist wahrlich breit gefächert. Malen, Singen, Spielen lernt man schon mit vier Jahren im Kindergarten. Dann kommt das Rechnen, Schreib­en und Lesen in der Grundschule. Englisch, Französisch, Latein bietet das Gymnasium an. Medizin, Philosophie oder Jurisprudenz gehört zu den Klassikern auf der Universität. Aber auch Zimmern, Mauern, Schlossern lässt sich bei einer Handwerkerlehre aneignen. Und wer noch Buchführung, Betriebswirtschaft oder Datenverarbeitung benötigt, belegt einfach einen Abendkurs im Volksbildungswerk. Dort gehören auch Hobbys wie Töpfern, Klöppeln oder Ikebana zum Bildungsprogramm. Alles ist angeboten. Nichts ist vergessen. Das Bildungsangebot ist total - mit einer Ausnahme:

Das Fach Danken gibt es an keiner Lehranstalt. Das Thema Danken steht in keinem Lehrplan. Die Lektion Danken kommt als Lehrangebot schlicht nicht vor. Kein Wunder, dass wir mit der Dankbarkeit nicht mehr viel am Hut haben. Wer dankt schon, wenn er morgens zur Arbeit fahren kann? Lieber stöhnt er über so viel Stress am hellen Morgen. Oder wer dankt schon, wenn er abends heil aus dem Auto steigt? Lieber schimpft er über den üblen Stau im Berufsverkehr. Oder wer dankt schon, wenn er freitags zwei freie Tage vor sich hat? Lieber mault er über eine miese Wettervorhersage, ausgerech­net wieder am Wochenende. Oder wer dankt schon, wenn er am 31. sein Geld überwiesen bekommt? Lieber grantelt er über solchen Hunger­lohn für seine Spitzenleistung. In Sachen Dankbarkeit gehören wir zu den Unterentwickelten.

Weil aber das Danken für jeden Menschen so wichtig ist wie das ABC für den Erstklässler oder das Einmaleins für den Pennäler, deshalb müssen wir die Dankbarkeit wieder lernen, so wie jener Bauer im alten Israel. Irgendwo in der Tief­ebene des Jordans oder auf dem Hochland Judas mag er zuhause gewesen sein. Interessanterweise geht er dazu nicht hinaus aufs Feld. Wohl sieht er dort das wogende Getreide und das schießende Kraut, aber auch die öde Steppe und das verbrannte Land. So wie wir das auch sehen können, wenn wir Bilder von den Kornkammern Kanadas und Obstplantagen Kaliforniens, aber auch von den Trockengebieten Südindiens und den Hungergürteln Nordafrikas am Bild­schirm verfolgen. Unsere Welt ist keine Schule der Dankbarkeit und Danken kommt nicht durchs Sehen.

Auffallenderweise geht unser Bauer auch nicht hinein ins Haus. Wohl hört er dort das laute Lachen und das fröhliche Singen, aber auch das leise Weinen und das traurige Klagen. So wie wir das auch hören können, wenn wir offene Ohren für die Freude der Kinder und das Glück der Liebenden, aber auch für den Schmerz der Kranken und die Last der Alten daheim haben. Unser Haus ist auch keine Schule der Dankbarkeit und Danken kommt nicht durchs Hören.

Der israelitische Landwirt geht also weder hinaus aufs Feld, noch hinein ins Haus, sondern hinauf in den Tempel. Dort setzt er seinen Korb voller Früchte am Altar ab, faltet seine verschafften Hände zum Gebet und denkt mit jenem uralten Glaubensbekenntnis an seinen gnädigen und gütigen Vatergott. So wird er ein dankbarer Mensch, der uns zu diesem Lernschritt ermuntert. Also sehen wir nicht hinaus und hören wir nicht hinein, sondern denken hinauf zu Gott! Jedes Gotteshaus ist eine Hochschule der Dankbarkeit und Danken kommt durchs Denken. Denke an den Vatergott. Jede Ähre weist wie ein Wegweiser zu ihm hin. Denke an den Allmächtigen! Jede Knolle zeugt wie ein Beweis­stück von seiner Gegenwart. Denke an den Schöpfer des Himmels und der Erde! Jede Frucht ist ein Liebeszeichen seines Herzens. “Denke daran, was der Allmächtige kann, der dir mit Liebe begegnet!”

Dankbarkeit ist Denkarbeit und dieses älteste Glaubensbekenntnis der Bibel bringt uns auf die richtigen Gedanken.

1. Denke an seinen starken Arm

Die Israeliten schmachteten in Ägypten. Eigentlich waren sie mit höchststaatlicher Genehmigung in das Land eingewandert und hatten sich als freie Bürger ihren Lebensunterhalt redlich verdient. Aber dann gerieten sie mehr und mehr unter den Arm des Pharao, der sie zu minderwertigen Gastarbeitern stempelte und als billige Arbeitskräfte schamlos aus­nützte. In Pithom brannten sie Ziegel. In Ramses bauten sie Häuser. Am Nil wuchteten sie riesige Quadersteine und schichteten sie zu Pyramiden auf. Wer aufmuckte, hatte nichts zu lachen. Die Kapos knüppelten die Aufmüpfigen kalt nieder. Jeder Widerstand wurde vom staatlichen Arm im Keime erstickt. Die Israeliten waren im Kulturland gefangen. Aber dann trat Gottes Arm in Aktion. Die Hochkonjunktur der ägyptischen Wirtschaft gerät durch göttliche Dämpfungsmaßnahmen in die Rezession. Eine allgemeine Verdunklung und Verdüsterung greift im geplagten Land um sich. Schließlich befällt noch eine unheimliche Krankheit die Jugend und rafft die Zukunft des Landes hinweg. Israel kann sein Gefängnis verlassen. Mit Sack und Pack machen sie sich auf und davon. Immer wieder brandet der Jubel auf. Sein starker Arm führte heraus.

Und das ist 1400 Jahre später nicht viel anders. Die Aussätzigen sind in ihrer Isolierstation gefangen. Eine unheimliche Krankheit hat sie fest im Griff. Aber Jesus sieht das und sagt: Seid gereinigt! Und die Männer kommen mit heiler Haut davon. Oder die Tauben sind in ihrer Einsamkeit gefangen. Nichts geht mehr durch die Ohren. Aber Jesus sieht das und ruft: Hephata! Tue dich auf! Und die Männer erleben eine neue Wirklichkeit. Oder die Besessenen sind in ihrer Höhle gefangen. Die Geister kennen kein Pardon. Aber Jesus sieht das und befiehlt: Fahret aus! Und die Männer ziehen in die Freiheit.

Liebe Freunde, nun gibt es kein Gefängnis mehr, das er nicht öffnen könnte, nun gibt es keine Ketten mehr, die er nicht lösen könnte, nun gibt es keine Gefangenschaften mehr, die er nicht beenden könnte, denn Jesus ist der starke Arm Gottes. Wer in der Bindung von Menschen geraten ist, der denke daran: Er führet her­aus. Wer unter den Druck der Verhältnisse gekommen ist, der denke daran: Er führet heraus. Wer in die Abhängigkeit von Alkohol oder Drogen geraten ist, der denke daran: Er führet heraus. Wer in den Banden der Schuld liegt, der denke daran: Er führet heraus. Nicht einmal der Kerker des Todes kann uns lähmen, weil er an Ostern auch diese Schlösser aufgebrochen und einen Weg zum Leben gebahnt hat. “Er weiß viel tausend Weisen, zu retten aus dem Tod.” Wer an seinen starken Arm denkt, der dankt.

2. Denke an seine offene Hand

Die Israeliten marschierten durch die Wüste. Anfangs ging es mit Schwung durch das unwegsame Gelände und Mann und Maus freute sich über die neu gewonnene Frei­heit. Aber dann ließen sie die Flügel hängen. In Schur war kein Tropfen Wasser mehr. In Mara war nur Salzwasser aufzutreiben. In Sin war der letzte Riegel Brot aufgezehrt. Kinder schrien: Hunger, Hunger! Alte stöhnten: Durst, Durst! Das ausgemergelte Vieh blieb im heißen Sand auf der Strecke. Die Israeliten waren in der Wüste am Ende. Aber dann trat Gottes Hand in Aktion. Abends rauschte es am Himmel und plötzlich war die Gegend mit Wachteln übersät. Jeder griff nach dieser Delikatesse und haute sie in die Pfanne. Und morgens wurden die Brötchen dazu geliefert, frei Haus, gratis, direkt von oben: Manna, Vollwertkost, ökologisch einwandfrei, mit Honiggeschmack. Wie das schmeckte? Wahrscheinlich so wie das Stück Bauernbrot, das wir im Sommer 1945 gegen ein paar Feuersteine eintauschen konnten: echter Lachs mit Kaviar hätte nicht besser munden können. Israel kann seines Weges ziehen. Die Kara­wane kommt wieder in Trab. Immer wieder ist es zu hören: Seine offene Hand gab uns genug.

Und das ist 1400 Jahre später wieder nicht anders. 5000 Menschen sind am Ostufer des Galiläischen Meer­es am Ende. Auf die Schnelle ist keine Marschverpflegung zu be­schaffen. Aber Jesus sieht das und sagt: Schaffet, dass das Volk sich lagere! Mit fünf Broten und zwei Fischen werden alle satt. Oder zwölf Jünger sind beim Passamahl in Jerusalem am Ende. Sie spüren, dass für ihren Meister das letzte Stündlein geschlagen hat. Aber Jesus sieht das und lässt das Brot durch die Reihen gehen: Nehmet hin und esset! Im Abendmahl wird er sie immer still und satt machen. Oder zwei Wanderer sind in Emmaus mit ihrem Latein am Ende. Die Total­katastrophe von Karfreitag hat sie fertiggemacht. Aber Jesus sieht das und teilt mit ihnen das Abendbrot. Wie neugeboren stürzen sie zurück und posaunen es hinaus: Der Herr ist auferstanden!

Liebe Freunde, nun gibt es keinen Hunger mehr, den er nicht stillen könnte, nun gibt es keinen Durst mehr, den er nicht löschen könnte, nun gibt es keine Wüste mehr, die er nicht in einen Garten verwandeln könnte, denn Jesus ist die offene Hand Gottes. Oft denken wir nicht mehr daran, so wie damals nach dem Kriege, als es zum Frühstück für uns Kinder nur Röstkartoffel ohne Fett und eine Scheibe Brot gegeben hat. Hunger hatten wir, Bärenhunger. Die Mutter wusste das und wischte sich heimlich Tränen aus den Augen. Aber alle sechs sind wir groß und alt geworden, die dies bestätigen müssen: Seine offene Hand gibt uns genug. Oder in diesem Frühjahr und Sommer schauten wir mit unseren Bauern in den regenverhangenen Himmel und fragten uns, ob denn bei diesem nasskalten Wetter über­haupt etwas reifen könne. Aber heute, angesichts dieses Altars, müssen wir es wieder denken: Seine offene Hand gibt uns genug. Und wenn jetzt wieder Tage kommen, die uns nicht gefallen, Wege, die uns ängstigen wollen, Wüsten, die so heiß sind wie die Wüste Sin, dann denken wir doch daran: Seine offene Hand gibt uns genug. “Hier sind die starken Kräfte, die unerschöpfte Macht, das weisen die Geschäfte, die seine Hand gemacht.” Wer an seine offene Hand denkt, der dankt.

3. Denke an seinen großen Finger

Die Israeliten lebten schließlich in Kanaan. Zuerst machte ihnen äußerer Druck und innere Spannung zu schaffen. Aber dann blühte das Land auf, ein Wirtschaftswunder in vorchristlicher Zeit. In Timna blühte der Weizen. Am Bach Eschkol reiften die Trauben. Im ganzen Südland konnte ge­erntet werden. Von Sidon im Norden bis nach Beerscheba im Süden erstreckte sich das Land, in dem Milch und Honig floss. Die Israeliten waren in Kanaan reich geworden. Aber dann trat Gottes Finger in Aktion. Bitte, das war kein drohender Zeigefinger, der den Leuten Angst einjagen und kein moralischer Zeigefinger, der den Leuten ein schlechtes Gewissen bescheren wollte. Gott ist kein moralinsaurer Landesherr, der seinem Volk das Glück nicht gönnt. “Ihr sollt fröhlich sein über alles Gut”, wird extra angefügt. Ihr sollt fröhlich sein über alles gute Essen. Ihr sollt fröhlich sein über alles gute Wohnen. Ihr sollt fröhlich sein über alles gute Verdienen. Gott aber will nicht, dass wir dabei den übersehen, der nicht fröhlich sein kann. Sein Finger ist ein deutlicher Zeigefinger auf den, der weniger oder nichts hat. Damals war es der Levit und der Fremdling. 1400 Jahre später war es der Blinde und der Aussätzige. Wer ist es heute?

Sicher das Kind in Bangladesh, das im wahrsten Sinne des Wortes am Hungertuch nagt, oder der Bauer in Peru, der nur mit neuen Saatkartoffeln über­leben kann. Aber auch das Mädchen gehört dazu, das völlig unverstanden in der eigenen Familie lebt, und der junge Mann gehört dazu, der wegen eines Unfalls im Rollstuhl sitzt, und der alte Vater gehört dazu, der im Altenheim auf einen Besuch oder Anruf wartet. Jeder von uns kennt einen Menschen, der auf ihn wartet, auf sein Verständnis, auf seinen Zuspruch, auf seine Liebe, auf sein Geld. Jesus, der große Finger Gottes, zeigt auf ihn und sagt: Gebt, so wird euch gegeben. Ich weiß, wie schwer das ist. Wir alle hängen an dem, was wir in der Tasche haben. Wir kleben daran und es klebt an uns. Aber einen fröhlichen Geber hat Gott lieb und keinen traurigen Knigger. Geben ist seliger als nehmen.

Liebe Freunde, ob wir im Fach Dankbarkeit ein Kapitel dazugelernt haben? Danken und Denken war das Thema. Denken wir an seinen starken Arm, an seine offene Hand, an seinen großen Finger. Denken wir an den Herrn, der nach Luther ein glühender Backofen voller Liebe ist. Darin werden keine kleinen Brötchen gebacken, sondern daraus kommt das Brot des Lebens für uns alle.

Amen

[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]