Passt auf!

Konrad Eißler
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Habt acht auf eure Frömmigkeit, sagt Jesus. Und er konkretisiert sein An­liegen am Beispiel des Gebets: Keine Demonstration, keine Gewaltaktion, keine Resignation! Das ist bedenkenswert.


Dass wir auf unsere Gesundheit achten sollen, sagt jeder Arzt, liebe Gemeinde. Wer also raucht wie ein Schlot und jeden Atem­zug zum Lungenzug macht, der muss sich nicht wundern, wenn ihm sein Teerlager zu schaffen macht. Wer also arbeitet wie ein Pferd und von einem Termin zum andern hetzt, der muss sich nicht aufregen, wenn ihm sein Herzrhythmus außer Tritt gerät. Wer also isst wie ein Wolf und nur noch zwischen Autositz und Fernsehsessel hin und her pendelt, der muss sich nicht fragen, wenn ihm sein Kreislauf übel mitspielt. Niemand ist schlecht beraten, wenn er etwas für seine Gesundheit tut. Es muss nicht immer die neuste Masche sein, die die Amerikaner ausdenken und die Deutschen ausführen, vorgestern Hula-hoop, gestern Jogging, heute Aerobic. Aber kein Nikotin, kein Dauerstress, keine Bewegungslosigkeit ist bedenkenswert. Habt acht auf eure Gesundheit!

Und dass wir auf unsere Sicherheit achten sollen, sagt jeder Polizist. Wer also sein Fahrrad abstellt und kein Schloss durch die Speichen zieht, der muss sich nicht wundern, wenn nachher zwei Fahrräder auf dem Platz stehen. Wer also auf Schlüssel verzichtet und die Haustür offen lässt, der muss sich nicht aufregen, wenn ungebetene Gäste nach Wertsachen suchen. Wer also auf Banken pfeift und den Sparstrumpf zum Geldsafe macht, der muss sich nicht fragen, wenn auf einmal andere diese Strümpfe tragen. Niemand ist falsch belehrt, wenn er etwas für seine Sicherheit tut. Er muss nicht gleich eine elektrische Warnanlage mit Sirene sein, die beim kleinsten Windstoß losheult. Aber kein Plastikschloss, kein Kinderschlüssel, keine Großzügigkeit ist bedenkenswert. Habt acht auf eure Sicherheit!

Aber dass wir auf unsere Frömmigkeit achten sollen, ist neu. Dass wir auch auf unsere Frömmigkeit aufpassen sollen, ist fremd. Dass wir auch auf unsere Frömmigkeit ein Auge werfen sollen, ist verwunderlich. Genau das aber sagt Jesus in seiner berühmt gewordenen Predigt. Er spricht nicht zu denen, die Frömmigkeit mit einem frommen Augenaufschlag verwechseln und alle Mäuse gegen jede fromme Helene haben. Jesus redet mit denen, die Frömmigkeit auf Dankbarkeit reimen und nicht mehr ohne diese persönliche Verbindung zu ihrem Herrn leben wollen. Bergpredigt ist immer nur Jüngerrede. Gebt acht, denn Frömmigkeit kann außer Tritt geraten wie der Herzrhythmus oder fallieren wie der Kreislauf. Niemand ist an dieser Stelle immun. Passt auf, denn Frömmigkeit kann einem wegkommen wie ein Fahrrad oder abhandenkommen wie ein Hundertmarkschein. Keiner kann sich seiner Sache sicher sein. Habt acht auf eure Frömmigkeit, sagt Jesus. Und weil er kein Mann allgemeiner Ermahnungen, Freund besonderer Ermunterungen ist, konkretisiert er sein An­liegen am Beispiel des Gebets: Keine Demonstration, keine Gewaltaktion, keine Resignation! Das ist bedenkenswert.

1. Keine Demonstration beim Gebet

Jesus zeigte auf die Juden. Das waren Beter von Format. “Beten ist wichtiger als alle guten Werke”, sagten sie. Dreimal am Tag, um 9, um 12 und um 15 Uhr sprachen sie das Shema, dieses “Höre Israel, der Herr, unser Gott ist der einzige Gott”, und das Shemoneh esreh, dieses Achtzehnbittengebet. Wir vespern um 9 unser Wurstbrot, essen um 12 zu Mittag und trinken um 3 eine Tasse Kaffee. Wir haben andere Kon­takte, die uns wichtiger sind. Wir sagen: “Keine Lust, kein Bock, keine Kraft, keine Zeit.” Die Juden nahmen sich Zeit. Sie ließen es sich etwas kosten. Israeliten beteten. Nur zogen sie dabei eine Schau ab. Wenn die Gebetsglocke läutete, dann blieben sie mitten in der Fußgängerzone oder im Kaufladen wie angewurzelt stehen, streckten die Arme mit nach oben gerichteten Handflächen aus und bewegten den Kopf. Jedermann konnte die Gebetsdenkmäler bestaunen. Für die einen war es ein Vorbild an Frömmigkeit. Für die andern war es ein Hindernis im Verkehr. Für Jesus war es schlicht Heuchelei, sprich Schauspielerei. Schauspieler lernen ihre Rollen. Sie setzen sich in Szene. Sie spielen für andere und meinen sich selbst. Immer dann, wenn bei dem Gebet nur eine Rolle spielen wollen, immer dann, wenn wir aus dem Gebet nur eine große Szene machen wollen, immer dann, wenn wir mit dem Gebet nur andern etwas vorspielen wollen, ja immer dann, wenn wir im Gebet letztlich nur uns selber meinen, dann sind wir Staatsschauspiel­er in einem frommen Theater. Deshalb schickt Jesus in die Speisekammer. Ein Mehlstumpen und eine Ölkanne standen darin. Aber dieser prosaische Raum war der einzig verschließbare Ort im Lehmhaus einfacher Leute. Dorthin konnte man sich eine Viertel­stunde zurückziehen. Kein Publikum klatschte Beifall. Nicht einmal Fenster spiegelten das eigene Gesicht wider. Im Tameion, im Gebetskämmerlein, war jeder mit seinem Gott allein. Und solch einen Platz braucht es heute wieder, wenn das Gebet nicht ganz verkommen soll. Kapellen, in denen eine Kerze brennt, sind schön. Kirchen, in denen gesungen wird, sind wichtig. Kathedralen, in denen das Licht durch die Rosetten bricht, sind gewaltig. Aber für ein persönliches Gebet braucht es sie alle nicht. Zwischen Mehl und Öl, zwischen Herd und Spüle, zwischen Leitern und Stangen, zwischen Akten und Briefen können und sollen wir mit Gott ungestört in Verbindung sein. Dietrich Bonhoeffer, der Blutzeuge aus dem 3. Reich, hatte es richtig verstanden, wenn er zur Stelle bemerkte: “Wer betet, kennt sich selbst nicht mehr, sondern nur noch Gott, den er anruft. Weil das Gebet auf ihn gerichtet ist, ist es das undemonstrativste Handeln.” Also keine Demonstration beim Gebet.

2. Keine Gewaltaktion beim Gebet

Jesus zeigte auf die Heiden. Das waren auch Beter von Format. “Beten ist der wichtigste Dienst”, sagten sie. Auf dem Karmel zum Beispiel stapelten sie einen Holzstoß auf. Ein zerstückelter Stier wurde wie ein Spießbraten darauf gepackt. Dann legten sie Feuer an. Und um diese Opfer­stelle hallten die langgezogenen Schreie aus 850 Kehlen über den kahlen Bergrücken: “Baal, erhöre uns!” Baal, erhöre uns! Der unheimliche Chorus wurde immer lauter. Der kultische Tanz steigerte sich zur wilden Ekstase. Der Schaum auf den Lippen vermischte sich mit dem eigenen Blut: “Baal, erhöre uns! Baal, erhöre uns!” Die Rasenden schnitten sich in die Haut. Die Taumelnden verbissen ihre Schmerzen. Die Schreienden hörten nicht auf: “Baal, erhöre uns! Baal, erhöre uns!” So ist das bei allen Göttern, ob sie auf dem himmalayischen Hochplateau oder im afrikanischen Busch oder in der zivilisierten Großstadt angebetet werden. Man muss sie nötigen. Man muss sie bedrängen. Man muss sie breitschlagen. Man muss sie umstimmen. Man muss ihnen auf den Leib rücken. Man muss sie zwingen, ja, man muss wie mit Fäusten gegen eine verschlossene Tür schlagen. Und Jesus sagt: “Die Tür ist offen. Der Vater weiß, was ihr nötig habt, noch ehe ihr den Mund auftut. Ihr müsst keine Türen aufschließen. Ihr müsst auch keine Türen einrennen. Und ihr müsst erst recht keine Türen einschlagen.” Gebet ist ein Gehen durch sperrangelweite Türen hindurch. Vielleicht hat es Friedrich von Bodelschwingh, der Gründer Bethels, mit einer Kindheitserinnerung am einfachsten und schönsten illustriert. Als kleiner Bub mit drei Jahren war er neben seinem Schwesterchen im Schlafzimmer eingeschlafen. Dann aber wurden sie durch irgendetwas plötzlich geweckt. Aufrecht saßen sie im Bett und fürchteten sich. “Komm”, sagte die Schwester, “wir stehen schnell auf und gehen ins Wohnzimmer!” Das aber war für den Buben ein schreckliches Unternehmen. Man musste durch zwei stockfinstere Stuben hindurch. Deshalb zögerten sie einen Augenblick. Aber als die Not immer größer wurde, wagten sie es doch. Hand in Hand pilgerten sie in ihren weißen Nachthemden durch die erste Stube und dann durch die zweite. Die Herzen klopften vor Angst und Erwartung. Aber wie dann die letzte Tür sich auftat, weil der Vater seine kommenden Kinder gehört hatte, da war auf einmal alles wieder gut. Unter der Hand des Vaters, die sich auf den Kopf legte, waren alle Wünsche vergessen, und es blieb nur noch der Satz: “Vater, ich wollte nur zu dir!” Dann schrieb Bodelschwingh wörtlich: “Beten heißt: sich aus der Angst der Welt aufmachen und zum Vater gehen.” Beten heißt: sehen, wie die Tür sich auftut, Beten heißt, seinen Kopf neigen, dass der Vater seine Hand drauflegen kann. Beten heißt so sagen: “Vater, ich wollte bloß zu dir!”

Und wenn ich so nicht sagen kann? Und wenn ich Schwierigkeiten damit habe? Und wenn mir das Wort “Vater” nicht über die Lippen geht? Was dann? Jesus sagt ein Letztes.

3. Keine Resignation beim Gebet

Jesus zeigt neben Juden und Heiden auf eine dritte Gruppe. Das waren Beter von Format, aber sie sind es nicht mehr. “Des Vaters Angesicht hat sich ganz verdunkelt”, sagen sie mit Reinhold Schneider: “Ich kann eigentlich nicht mehr Vater sagen. Die grausigen, die unergründlichen Möglichkeiten der Quälerei, die in der Natur angelegt sind, überfordern nachgerade meinen Glauben.” Noch manchen andern ist der liebe Vater von Bomben erschlagen, auf der Flucht erfroren, in brennenden Städten verbrannt. Noch vielen andern ist der liebe Vater von Gemeinheiten getötet, vom Krebs zerfressen, von Sorgenbergen erstickt. Nur zu viele verstehen den Kellner in Hemingways Kurzgeschichte, der lange nach Mitter­nacht gähnend in das leer gewordene Lokal schaut: “Was war der Tag?” fragt er sich. “Es war ein Nichts und der Mensch war auch ein Nichts.” Und dann fängt er zu beten an: “Unser Nichts, der du bist im Nichts, Nichts ist dein Name. Dein Nichts komme, Dein Nichts geschehe, wie im Nichts, so im Nichts.” Dieses abgrundtiefe Nichts ist kein seltener Gast. Es ist nicht nur im Cafe. Es ist nicht nur in der Disco. Es ist nicht nur in der Schule. Es kann uns am Arbeitsplatz, am Feierabend, am Sonntag anfallen, ja mittendrin im schönsten Gotteshaus. Aber Jesus steht gegen die Resignation. Er weiß um diese lästigen Tiefs. Deshalb legt er klar, dass Christen nun eben nicht Nichts sagen müssen, sondern Vater sagen dürfen. Im Grunde ist der ganze christliche Glaube nichts anderes als die von Jesus Christus vermittelte und verbürgte Erlaubnis, zu Gott Vater zu sagen. “Ihr habt doch keinen knechtischen Geist empfangen”, schreibt Paulus, “dass ihr euch fürchten müsst, sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch welchen wir rufen: “Abba, lieber Vater!” (Römer 8,15). Jesus hat diesen Vaterbegriff gefüllt. Sein erstes Wort, das wir von ihm kennen, heißt; “Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?” Und sein letztes Wort hieß: “Ich befehle meinen Geist in deine Hände, Vater!” Zwischen beiden Worten spannt sich sein Reden und Wirken, sein Sterben und Auferstehen, seine Rettung und Erlösung. So gefüllt können wir den Vaterbegriff übernehmen und ihn bei unserem Gebet verwenden:

“Vater unser, der du bist im Himmel. Dir gehört meine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Vater, dein Reich komme. Alle Mächtigen sind ja nur Schachfiguren auf deinem Brett. Vater, dein Wille geschehe. Ich brauche meinen Kopf nicht mehr durchzusetzen. Vater, unser täglich Brot gib und heute. Meine Brötchen, meine Lohntüte, mein Arbeitsplatz ist dir nicht egal. Vater, vergibt uns unsere Schuld. Nichts darf mehr die Beziehungen zwischen dir und mir belasten. Vater, führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel. Den Teufel hast du endgültig zum Teufel gejagt. Vater, dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.”

[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]