Liebe Freunde, zwei Brüder, Kuno und Arno, spielen im Kinderzimmer. Jeder baut mit Bauklötzen einen Turm. Der Turm von Arno steht, doch der Turm von Kuno fällt um.
Was macht Kuno daraufhin? Zuerst zieht er eine schiefe Grimasse. Dann schlägt er Arno seinen Turm um. Schließlich gibt er ihm noch eine Ohrfeige.
Schon entsteht die heftigste Keilerei – Mord und Totschlag in der Kinderstube.
Der Ursprung der Gewalt in der Menschheitsgeschichte
So beginnt die Geschichte der Menschheit mit einem Mord. Im Ersten Buch Mose, Kapitel 4, Vers 8 heißt es: Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: „Lass uns aufs Feld gehen.“ Und es begab sich, als sie auf dem Feld waren, dass Kain gegen seinen Bruder Abel aufstand und ihn erschlug.
Dieser Mord unter freiem Himmel kam natürlich nicht aus heiterem Himmel, sondern hatte eine Vorgeschichte – ähnlich wie die Keilerei von Kuno und Arno. Kain und Abel, das wisst ihr, waren Brüder. Eines Tages brachten sie Gott ein Opfer dar. Jeder baute einen Altar und zündete sein Opfer an. Bei Kain zog der Rauch schief, während er bei Abel kerzengerade in die Höhe stieg.
Das konnte Kain nicht ertragen, und aus Neid erschlug er seinen Bruder. Leider ist das keine längst überholte Geschichte aus der Kinderstube der Menschheit und auch keine Familientragödie aus einer primitiven Urzeit. Schön wäre es ja, denn dann wäre es nicht nötig, dass wir wieder eine Friedensdekade abhalten.
Ihr habt doch alle so ein Geschenk vor euch liegen, das ihr mit nach Hause nehmen könnt. Friedensdekaden sind notwendig, weil manche Menschen – egal aus welchen Motiven – Probleme der menschlichen Gesellschaft immer noch mit Gewalt lösen wollen.
Die Geschichte von Kain und Abel ist das Urmuster der Menschheitstragödie aller Zeiten. Diese Geschichte spielt sich jederzeit und überall ab, wo Menschen zusammenleben – auch in deinem Leben. Und bei uns in der DDR läuft die Kain-und-Abel-Story leider live.
Die Gewaltspirale der Menschheit und ihre Eskalation
Bevor wir uns mit uns selbst und unserem Land befassen, müssen wir zunächst ganz allgemein feststellen, dass die Menschheitsgeschichte mit einem Mord beginnt. Sie ist eine einzige Kette von Morden. Wenn wir so weitermachen, wird sie mit einem Selbstmord der Menschheit enden.
Heute ist jedem vernünftigen Menschen klar: Die Methode von Kain hat versagt. So wird kein Frieden entstehen. Die Menschheit steht vor der Frage: Entweder Schluss mit der Methode Kains, also mit dem Krieg, oder Schluss mit der Menschheit.
Die Zeiten sind längst vorbei, in denen sich zwei Menschen mit einem Hackebeilchen gegenüberstanden und sich gegenseitig die Birne einschlugen. Solche primitiven Morde kommen heutzutage relativ selten vor. Was die Mordwaffen betrifft, haben wir uns von der plumpen Keule zur perfekten Bombe weiterentwickelt. Wir sind eleganter, technisch vollkommener, perfekter geworden.
Unsere Methoden haben sich verfeinert, das heißt, man muss eigentlich sagen, sie haben sich vergröbert. Im Krieg 1871 gab es 54 Gefallene. Im Ersten Weltkrieg waren es 2 Millionen und 50 Gefallene. Im Zweiten Weltkrieg gab es 3 Millionen und 250 Gefallene sowie 3 Millionen und 350 Ziviltote – und das sind nur die Zahlen von Deutschland.
Wir dürfen aber nicht vergessen, dass auch andere Völker viele Tote zu beklagen hatten. Zum Beispiel die Sowjetunion mit 7 Millionen Opfern. Außerdem dürfen wir nicht übersehen, dass es seit dem Zweiten Weltkrieg noch 175 andere Kriege gegeben hat, in denen 20 Millionen Menschen getötet wurden.
Zwischendurch gab es in verschiedenen Ländern und Diktaturen viele weitere Tote. Allein Stalin hat Millionen Menschen umgebracht. Schließlich dürfen wir nicht vergessen, dass jährlich Millionen Menschen im Mutterleib getötet werden. In einem so kleinen Land wie der DDR sind es jedes Jahr 90. In der Bundesrepublik sind es 300.
Wenn man sich das einmal vergegenwärtigt, ist unsere Welt ein einziges Schlachthaus. Also soll mir niemand erzählen, die Geschichte von Kain und Abel sei eine verstaubte Story aus der Frühgeschichte der Menschheit. Das spielt sich heute ab, und wir alle spielen mit.
Die Allgegenwart von Gewalt und ihre vielfältigen Formen
Ich sage, wir alle denken, nur nicht du: Du bist aus dem Spiel raus, weil du noch keinen Mord begangen hast. Das Töten beginnt jedoch viel früher. Es gibt Seelenmord an Kindern mit Kriegsspielzeugen, Rufmord mit der Zunge und in der Zeitung. Du bist bereits in diesem mörderischen Spiel drin, wenn du Böses wünschst oder Gewalt anwendest.
Wir alle sind in den letzten Wochen mit dem Problem der Gewalt konfrontiert worden, als Deutsche auf Deutsche mit Knüppeln eingedroschen haben. Ich, naiver Mensch, habe mich hier vor vier Wochen über die Wasserwerfer aufgeregt, ohne zu ahnen, was sich in Wirklichkeit auf den Straßen unseres Landes abgespielt hat.
Ich lese euch mal einen Bericht vor, ein Protokoll von einem jungen Mann, der in Dresden Folgendes erlebt hat:
Erschrocken wollten mein Bruder und ich die Prager Straße verlassen, als wir im selben Moment von mehreren Polizisten zu Boden geschlagen wurden. Die Polizeieinheiten begannen wahllos, Bürger aus den in der Mitte der Prager Straße zusammengedrängt stehenden Passanten herauszugreifen und zusammenzuschlagen. Das geschah ohne vorherige Provokationen seitens der Passanten und ohne dass wir die Zeit oder Möglichkeit hatten, die Straße zu verlassen.
Daraufhin wurde ich zu einem Lkw geschleift und von vier Polizisten bewusstlos geschlagen. Anschließend wurde ich auf den Lkw geworfen. Dort waren wir gestapelt und von zwei Polizisten bewacht, die wahllos auf uns einknüppelten. Nach einer zehnminütigen Fahrt wurde ich vom Lkw heruntergeschmissen und musste durch eine circa zwanzig Meter lange Gasse gehen, in der mich Polizisten weiterhin schlugen.
Ich wurde an ein Eisentor geschleudert, durchsucht und in eine große Halle getrieben. Dort musste ich mich breitbeinig mit der Stirn an die unverputzte Wand lehnen und die Hände im Nacken halten. Ständig kamen Polizisten, die uns anschrieen. Jede kleinste Bewegung, sogar ein kleines Zucken, wurde mit schmerzhaften Knüppelhieben bestraft.
In dieser ebenso anstrengenden wie schmerzhaften Position wurde es mir schon nach zehn Minuten unmöglich, noch eine Sekunde länger zu stehen. Neben mir brach ein Mann mittleren Alters zusammen. Er wurde von mehreren Polizisten brutal geschlagen und weggeschleift. Ein weiterer älterer Mann wurde geschlagen, weil er auf seinen Diabetikerausweis hinweisen wollte.
In ständiger Angst um mein Leben holte ich alles aus mir heraus, um nicht schlappzumachen. Nach späteren Berechnungen stellte sich heraus, dass ich mindestens drei Stunden in dieser Position stehen musste.
Am Schluss steht: Wir wurden unzählige Male grundlos geschlagen und ununterbrochen mit unflätigen Worten beleidigt, wie zum Beispiel: „reaktionäres Schwein“, „halt die Schnauze“, „solche Ratten wie du haben kein Recht zu leben“ usw.
Die Gefahr von Hass und Gewalt in uns allen
Wenn man so etwas hört – und die ganze Mappe ist voll davon, und es gibt ja hunderte solcher Zeugnisse – dann packt einen nicht nur das Entsetzen. Es kommen auch ganz andere Gefühle hoch.
Hier liegt ein Problem, über das wir nachdenken müssen. Der Keim steckt nämlich nicht nur in den Raudis, die mit Knüppeln auf ihre Volksgenossen eintreten beziehungsweise die Befehle dazu geben. Der Keim steckt auch in den Geschlagenen, die die Leute mit den Gummiknüppeln hassen. Mit anderen Worten: Der Keim steckt in uns allen.
Wir alle müssen in diesen Tagen sehr aufpassen, dass unsere Gefühle nicht mit uns durchgehen. Es darf nicht sein, dass Gedanken an Hass, Gewalt und Rache in uns die Überhand gewinnen – vor allem nicht gegen diejenigen, die uns so lange unterdrückt haben.
Wir wären keine Menschen, wenn wir solche Gefühle nicht hätten. Wir können nicht so tun, als ob diese Gefühle in uns nicht vorhanden wären. Aber wir wären keine Christen, wenn wir nichts gegen diese Gefühle tun würden.
Deshalb sind wir hier zusammen in einem Gottesdienst, um unsere Gefühle unter die Kontrolle Gottes zu stellen. So wie es in der Losung von heute heißt: „So seid nun Gott untertan.“
Hoffnung durch friedlichen Wandel und Erinnerung an vergangene Demonstrationen
Aber wir gehen nicht nur zum Gottesdienst, sondern auch zur Demonstration. Ich war neulich zum ersten Mal seit 36 Jahren wieder auf einer Demo. Als die Demonstranten anfingen zu rufen „freie Wahlen“, liefen mir die Tränen übers Gesicht.
Ich dachte dabei daran, wie es war, als ich zum letzten Mal in meinem Leben auf einer Demonstration war. Das war vor 36 Jahren, am 17. Juni 1953. Damals habe ich als junger Mensch mit genau denselben Worten laut „freie Wahlen“ gerufen.
Wir wurden damals übertönt vom Dröhnen der Panzer und den Schüssen der Uniformierten. Heute gibt es von Berlin bis zum Oral keinen Panzer mehr, der bereit wäre, in der DDR Dienst zu tun. Auch in diesem Punkt haben sich die Zeiten geändert. Das ist ein großer Hoffnungspunkt für uns.
Aber wir dürfen nicht vergessen: Mit den gleichen großen Buchstaben, mit denen heute beim ND auf der ersten Seite das Wort „Dialog“ steht, stand damals 1953 auf der ersten Seite des ND mit denselben großen Buchstaben das Wort „Neuer Kurs“. Doch mit diesem Slogan wurden wir betrogen.
Die SED hat mit dem sogenannten Neuen Kurs weitergemacht wie zuvor und uns in die Katastrophe geführt, in der wir jetzt stecken. Ein alter Mann auf einer Demo hat auf sein Schild geschrieben: „Die Karre sitzt so tief im Dreck, die alten Kutscher müssen weg!“
Solange es noch Menschen gibt, die in einer so ernsten Situation wie der unseren solche schönen Verse machen können, habe ich keine Angst um unser deutsches Land. Das muss ich mal sagen.
Die zerstörerische Kraft des Neids
Aber wir müssen jetzt mal weg von diesem Thema und uns wieder unserem Bibeltext zuwenden. Da gibt es noch eine Menge für uns zu lernen.
Also zum nächsten Punkt und einem neuen Thema: Neid. Kain war neidisch. Als er sah, wie es bei seinem Bruder so schön aufwärts ging, heißt es hier in Vers 5: „Da ergrimmte Kain und senkte finster seinen Blick.“ Hass macht hässlich, und Neid macht unglücklich. Vor allem aber ist Neid sinnlos.
Stellt euch mal vor, ihr fahrt mit dem Bummelzug durchs Muldental. Kurz unter dem Ort Mut angekommen, fährt der Zug an einem zauberhaften Grundstück vorbei. Das Haus ist neu gestrichen, vor der Garage steht ein Wartburg-Tourist. Im Garten liegt unter einem blühenden Apfelbaum auf einer Liege eine junge Frau. Neben ihr sitzen zwei Männer. Es ist vormittags halb elf. Die ganze Szene wirkt wie eine friedliche Idylle.
Im Vorbeifahren denkt ihr: Die haben es gut, die haben es geschafft, sie haben das Glück gefunden.
Jetzt will ich euch sagen, wer diese Menschen in dieser wirklich stattgefundenen Szene waren: Die Frau war krebskrank und lag im Sterben. Das war das letzte Mal in ihrem Leben, dass sie aus ihrem Haus in ihren Garten getragen werden konnte. Einer der beiden Männer war ihr Ehemann, der andere war der Pfarrer – also ich. Wir drei kämpften mit Gott um das Leben dieser Frau.
Was für dich im Vorbeifahren vom Zugfenster aus wie eine Idylle aussieht, wie das große Glück, war in Wirklichkeit ein großes Unglück.
Deswegen sage ich: Neid ist sinnlos. Wenn du nämlich die Stelle des Beneideten einnehmen möchtest, müsstest du sein ganzes Leben mit übernehmen. Also nicht nur sein schönes Haus, sondern auch seine sterbende Frau, seine Ängste und sein Schicksal.
Das willst du natürlich nicht. Du willst nur die guten Zeiten, du willst einen Teiltausch, aber keinen Totaltausch. Denn je näher du dem Beneideten kommst, desto mehr stellst du fest: Bei dem ist auch nicht alles rundum happy.
Ich glaube – und das ist meine ganz persönliche Meinung – dass Gott jedem Menschen ein bestimmtes Maß an Glück und Unglück zugeteilt hat. Und weil wir unsere Mitmenschen außerdem gar nicht so genau kennen, ist es sinnlos, sie zu beneiden.
Neid ist sinnlos. Neid ist Gift – für dich und für deine Umwelt.
Als Gott sieht, wie Kain giftig vor Neid mit gesenktem Blick wie ein sturer Neidhändler herumläuft, warnt er ihn und sagt: „Es lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen. Du aber herrsche über sie.“ (1. Mose 4,7)
Die Aufforderung zur Selbstbeherrschung und Verantwortung
Es ist Gott nicht egal, was aus keinem Menschen wird, der sich sein Leben versaut. Deshalb warnt Gott uns und sagt: Pass auf, es droht Gefahr. Neid ist Sünde.
Sünde ist ein gut verpacktes Angebot vor der Tür deines Lebens. Sie lauert nur darauf, dass du sie hereinlässt, dass du sie zulässt und dich auf sie einlässt.
Gott verlangt von dir nichts anderes, als dass du zur Sünde Nein sagst. Das heißt, du sollst die Sünde beherrschen. Wenn Gott sagt, du sollst über die Sünde herrschen, dann kannst du das auch.
Mit der Ausrede „Ich kann mich nun mal nicht beherrschen“ machst du es dir zu einfach. Du kannst, wenn du willst. Kein Mensch sagt, dass das einfach wäre. In der Bibel steht auch nirgends, dass ein Leben nach Gottes Willen einfach ist.
Ein Leben mit Gott ist herrlich, aber es ist nicht herrlich einfach. Kein Gewalttäter war ein Schwächling, also jemand, der sich nicht beherrschen konnte. Niemand wurde gezwungen, seinen Bruder umzubringen.
Auch dich kann der Teufel nicht zwingen, eine Sünde zu begehen. Sündigen kannst du nur, wenn du mit deinem Willen zustimmst. Deshalb kannst du die Verantwortung für deine Taten niemals ablehnen.
Es gefällt mir nicht, dass heutzutage viele die ganze Schuld nur auf ein paar einzelne Leute und Buhmänner abschieben. Es war nicht nur der eine Täter, der alles kaputt gemacht hat.
Ich möchte den meisten von euch sagen: Die meisten von euch waren auch bei der letzten Wahl, und die meisten von euch vermutlich auch bei der Jugendwahl.
Ich habe euch das schon vor vier Wochen gesagt: Wir müssen alle unsere Mitverantwortung erkennen und unsere Mitschuld an dem, was hier passiert ist.
Die Frage nach der Verantwortung für den Nächsten
Als Kain seinen Bruder erschlagen hatte, zog Gott ihn zur Verantwortung und fragte: „Wo ist dein Bruder Abel?“ Die erste Antwort, bei der niemand etwas sagt, ist eine Lüge. Wer sagt: „Ich weiß es nicht“? „Nix Bonimai, mein Name ist Hase.“ Das haben wir in den letzten Wochen ja auch hundertfach zu hören bekommen.
Aber auf die Frage, wo eigentlich die Ursachen für die Massenflucht und die Krise in unserem Land liegen, da wird bis heute noch herumgeeiert und herumgeschwafelt. „Wir müssen darüber nachdenken, wir müssen das erforschen, im Moment wissen wir es noch nicht so genau.“ Auf diese Art lässt sich das Volk auf Dauer nicht hinhalten – und Gott schon gar nicht.
Gott verlangt unerbittlich eine Antwort: „Wo ist dein Bruder Abel?“ Die zweite Antwort Kains ist eine Frechheit. Er sagt: „Soll ich meines Bruders Hüter sein? Soll ich vielleicht noch auf ihn aufpassen? Bin ich etwa für ihn verantwortlich?“ Ja, genau das bist du!
Denk an das Lied, das wir hier so oft singen: Wenn du denkst, dich geht der andere nichts an, ist das einfach nicht wahr, mein Lieber. Gott gab dir ihn als Bruder, und deshalb geht er dich an. Du bist verantwortlich für das Leben deines Bruders und deines Mitmenschen.
Gott fragt dich heute, und er wird dich im Gericht fragen: „Wo ist dein Bruder?“ Damit meint er vielleicht das Kind in Afrika, das in diesem Moment vor Hunger stirbt. Du hast dieses Kind im Leben nie gesehen, du kannst mit gutem, ehrlichem Gewissen sagen: „Kenne ich nicht, weiß ich nicht.“ Aber dass täglich dreißigtausend Kinder verhungern, das weißt du.
Du weißt, dass man töten kann, ohne den anderen auch nur zu berühren. Indem wir nichts tun, machen wir uns schon mitschuldig am Tod der anderen. Aber Gott wird uns nicht nur nach irgendwelchen Kindern in der Ferne fragen, er wird uns auch nach unseren Kindern in der Nähe fragen. Und er wird manchen unter uns fragen: „Wo ist dein Kind?“
Wenn Gott so fragt, dann nicht, weil er es nicht wüsste. Er weiß genauso gut wie du, wo dein Kind ist – abgetrieben im Rahmen der Gesetze, ausgeschabt im zweiten Monat, weggeschmissen in die Mülltonne der Frauenklinik. Das weiß Gott. Aber er wird dich trotzdem fragen, so wie er Kain gefragt hat.
In 1. Mose 4,10 heißt es: „Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde.“ Gott weiß, was du getan hast, und das Blut deines abgetriebenen Kindes schreit zu Gott. Aber er will es aus deinem Mund hören.
Und du, junger Mann, und du, junges Mädchen, ihr werdet eines Tages alle beide eine Antwort geben müssen. Darin besteht ja das Wesen von uns Menschen: Wir haben Verantwortung. Das heißt, wir müssen Gott einmal eine Antwort geben.
Gottes Gerechtigkeit und Vergebung
Für unsere menschlichen Ohren hat unschuldig vergossenes Blut keine Stimme. Wir hören das nicht. Aber Gott, der Leben und Blut geschaffen hat, hört es.
Die Erde unseres Planeten ist blutgetränkt, und niemand kennt die Zahl der Verbrechen. Doch Gott weiß Bescheid. Es gibt keine Tat, die Gott nicht kennt und für die er nicht Rechenschaft fordert.
Gott ist der Anwalt der Wehrlosen und der Verfolgten. Er ist der Richter aller Menschen, denen Unrecht geschehen ist. Weil Gott der Rächer ist, brauchen wir uns mit dem Thema Rache nicht zu befassen. Das können wir getrost Gott überlassen. Worum es uns geht, ist Gerechtigkeit, aber nicht Rache.
Für uns genügt es als Trost zu wissen, dass kein Tropfen Blut und keine Träne, die in irgendeiner finsteren Zelle ohne Zeugen zum Erdboden gefallen ist, Gott entgangen ist. Und keiner entgeht bei Gott seiner Strafe. Das betone ich nochmals: Das ist Sache von Gottes Gericht.
Weil Gott die Vergebung lieber ist als die Vergeltung, schützt er bis zum Gericht sogar den schuldig gewordenen Menschen – wie hier den Kain. Als Kain zur Strafe für sein Verbrechen als Flüchtling aus dem Land gehen muss, fängt er an zu winseln und ist voller Mitleid. Nicht aus Mitleid mit dem erschlagenen Bruder, sondern aus Mitleid mit sich selbst.
Er geht zuerst über Leichen, und als es herauskommt, versinkt er im Selbstmitleid. Selbstmitleid statt Reue – das ist eine Masche, die inzwischen auch in unserem Land einige draufhaben.
Außerdem fällt mir auf, dass sich bei manchen Leuten inzwischen ein falsches Mitleid breitmacht. Sicher ist es tragisch, wenn jemand sich selbst und sein Volk jahrelang betrogen hat und von heute auf morgen von der Bildfläche verschwindet und weggefegt wird wie ein altes, vergammeltes Schnitzel. Aber Mitleid ist bei den Opfern angebracht, nicht bei den Tätern.
Dem Kain hilft kein Gewinsel. Er muss gehen, er muss seinen Posten verlassen. Doch Gott lässt ihn nicht schutzlos. Gott gibt ihm eine Chance, indem er ihm das sogenannte Kainszeichen gibt.
Und der Herr machte ein Zeichen an Kain, damit ihn niemand erschlage, der ihn findet. So ging Kain hinweg von dem Angesicht des Herrn und wohnte im Land Nod, östlich von Eden. (1. Mose 4,15-16)
Leben unter dem Kainszeichen und die Hoffnung des Kreuzes
Jenseits von Eden ist die Welt, in der wir unter dem Kainszeichen leben müssen. Niemand weiß genau, was dieses Zeichen bedeutet. Auf jeden Fall war es für niemanden eine Chance zu leben.
Heute aber gibt Gott dir eine Chance. Und wie das Zeichen für diese Chance aussieht, das weiß ich: Es ist das Kreuz, das Kreuz, an dem Jesus hängt. Er war ebenfalls ein Ermordeter, dessen Blut zum Himmel schreit. Doch sein Blut schreit nicht nach Rache, sondern nach Vergebung.
In der Bibel steht: Es gibt keine Vergebung ohne Blutvergießen. Weiter heißt es: Das Blut von Jesus Christus macht uns rein von aller unserer Sünde. Wenn du deine Sünde von Jesus abwaschen lässt, das heißt, durch seine Vergebung abnehmen lässt, dann bist du gerettet. Du kommst nicht ins Gericht. Jesus möchte dir einen Gerichtstermin ersparen. Dafür hat er sich kreuzigen lassen.
Das Kreuz ist das Rettungszeichen schlechthin. Wegen dieses Zeichens können Verbrecher weiterleben, ohne sofort tot umzufallen. Wegen dieses Zeichens können auch die Kains weiterleben, selbst wenn sie ein Kind umgebracht haben. Wegen dieses Zeichens haben auch diejenigen eine Chance, von denen wir am Anfang der Predigt gesprochen haben – also die, die in unserem Land in Uniform die harmlosen Bürger brutal und blutig misshandelt haben.
Keine Gesetzgebung macht aus so einem Schläger einen neuen Menschen. Das Gesetz kann und muss ihn nur bestrafen. Aber Jesus kann und will ihm seine Schuld vergeben. Das ist der besondere Beitrag, den wir in diese aufgeheizte Situation einbringen müssen: Wir brauchen eine Wahl und eine neue Verfassung.
Dass der Führungsanspruch der SED ein Witz ist, steht heute am Anschlagbrett in jedem Kindergarten. Das müssen wir hier nicht noch einmal wiederholen. Aber dass es eine Vergebung für den Schuldig Gewordenen gibt, das steht nur in der Bibel. Und das ist es, was wir den Menschen mitteilen müssen.
Beim Kreuz von Jesus gibt es einen Neuanfang.
Die Kraft der Vergebung und der Aufruf zur Liebe
Wegen dieses Zeichens haben auch wir alle noch eine Chance. Denn in uns allen steckt die Keinsgesinnung.
Ich denke, das haben wir in den letzten Tagen alle an uns selbst beobachtet: Dass solche Gedanken wie Hass, Neid und Rache auch in uns vorhanden sind. Wir sind alle so tief verletzt, und wir haben die Fäuste so oft gegen unsere Unterdrücker geballt, dass es uns schwerfällt, sie zu lieben und ihnen zu vergeben.
Ohne Jesus schaffen wir das nicht. Jesus hat am Kreuz seinen eigenen Mördern vergeben und uns damit ein Beispiel gegeben.
Lasst uns also von Jesus lernen, was er mit Frieden meint – auch wenn es dir unmöglich erscheint: Liebe deinen Feind. Das ist das Lied, das wir gleich zusammen singen werden.
Doch vorher wollen wir noch gemeinsam beten.
